Kind und Klasse

Foto , CC BY-SA 2.0 , by Russavia

Zu Kindern gibt es viel interessantes Zeug zu erzählen. Das Glück, dass ich mit einem Kind zusammenwohne und Zeug erzählen kann. Ein neuer Teil unserer Kinderkolumne. Hier findet ihr Teil 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9 und 10.

Seit ich ein kleines Kind großziehe, oder zumindest dem Kind beim Wachsen die Hand hinhalte, geht es um Anmeldungen. Im Prinzip geht das schon vor der Geburt los (und ich meine nicht unbedingt die Anmeldung zur Geburt) – das Kind braucht einen Krippenplatz. Trotz Krippenplatzgarantie fühlt sich das alles ziemlich unsicher an. Wann soll man am Besten anfangen mit der Suche? Und wie vorgehen? Bei allen Krippen im Umkreis einen Anmeldezettel abgeben, sie vorher auf Herz und Nieren prüfen, dann alle drei Monate, oder doch lieber jeden Monat anrufen, um sich bei der Leitung in Erinnerung zu rufen? Und wenn die das nicht wollen? Ein Excel-Sheet anlegen, um nicht durcheinander zu kommen.

It’s a mess. Und war in Wirklichkeit nicht so schlimm, wie es sich anfühlte, wenn wir mit anderen Eltern den Stand ihrer Bewerbung abglichen und austauschten, wie wir jeweils vorgingen. Wir verließen uns auf die Garantie, sahen uns einige Einrichtungen an, gaben in manchen im Vorbeigehen eine Anmeldung ab und vergaßen es bei anderen Einrichtungen. Manchmal führten wir fast Bewerbungsgespräche. „Erzählen Sie uns mal etwas über Ihr Kind.“ „Äh. Es hat eine gute Körperspannung?“ True story, das war das Spektakulärste am Kind. „Wo sehen Sie Ihr Kind in zehn Jahren?“ Just kidding.

Wenn das Los entscheidet

Der sympathische Kinderladen, bei dem ich ein gutes Bauchgefühl hatte, das Thema Geschlechterstereotype anzusprechen, hatte uns im Recall, aber dann wurden wir nicht gelost. Falls da wirklich Lose gezogen wurden. Das Kind bekam schließlich einen Platz in einer nah gelegenen Krippe, die ich beim ersten Besuch nicht sympathisch fand. Kleine Räume, dunkler Flur, und wir durften vorher nur von außen gucken, wie die Kinder es haben würden. Noch dazu wurde der Platz erst frei, als das Kind 14 Monate alt war. Ich hatte eine Woche zur Eingewöhnung vor Unibeginn und mein Freund musste, als er nachfolgend die Eingewöhnung übernahm, oft nachmittags für die Arbeit weg. Was das Kind sehr ungeil fand und die Eingewöhnung unnötig in die Länge zog. Don’t try this at home.

Mittlerweile ist aber klar, dass es dem Kind in der Krippe sehr gut geht, es ist aufgehoben und eingebunden. Hat Freund_innen, spielt, bastelt, macht Ausflüge. Hat dort gelernt „Bitte“ zu sagen und Besteck zu benutzen, lernt von den anderen Kindern mehr als von allen Erwachsenen zusammen. Blöd bloß: Jetzt geht’s wieder auf die Suche. Jetzt braucht es einen Kindergarten. Noch mal von vorne.

Ich will keine Garantie, unter meinesgleichen zu bleiben

Manche Dinge sind jetzt anders. Die Anmeldung funktioniert digital. Und während für manche Eltern bei der Krippenplatzsuche die Sorge groß war, nur einen Platz am anderen Ende der Stadt zu erhalten, aber der Druck hoch, sich bei so vielen Einrichtungen wie möglich anzumelden, schränken die Kindergärten heute eher den Einzugsradius ein, sagen: ein Kind soll da in den Kindergarten gehen, wo sein Schulbezirk liegt. Weil die Kindergärten im besten Fall mit den umliegenden Grundschulen kooperieren, um den Übergang zur nächsten Stufe so leicht wie möglich zu gestalten. Ist sinnvoll. Abgesehen davon, dass ich kaum bereit für das Level Kindergarten bin, und dann soll es schon um Schule gehen.

Also bei der Kindergartenwahl schon darauf achten, in welche Schule das Kind gehen soll? So einfach ist das nicht. Auch wenn ich mir als Kind ausgemalt habe, wie es wohl auf einer anderen Grundschule gewesen wäre, eine Idealschule, in der all meine Interessen und Begabungen gefördert worden wären und Lehrer_innen mich als Individuum ernstgenommen und respektiert hätten (LOL), mir war der dreiminütige Schulweg schon zu lang. („Ach würden wir nur direkt NEBEN der Schule wohnen, ich könnte morgens länger schlafen…“)
Und mein Kind? Wird auf die gleiche Schule gehen. Muss es. Per Wohnort an den Schulbezirk gebunden. Die Fragen, die ich mir zu Kindergarten- ergo Schulwahl stelle, haben ein schwereres Gewicht, weil es plötzlich um mehr geht. Um Gentrifizierung. Um Bildungsgerechtigkeit. Und meine Rolle darin.

Was ich für das Kind nicht will und der Vater des Kindes auch nicht: Eine Privatschule, selbst wenn Past-Me sehr auf die Fiktion einer Idealschule stand. Weil ich es nicht gerecht finde, wenn einige sich Zugang zu tolleren Ressourcen kaufen können. Oder, selbst wenn es da finanzielle Ermäßigungen gäbe, diese Ressourcen nur einer sehr kleinen, ausgewählten Gruppe zur Verfügung stehen. Die den entsprechenden Habitus haben, Kohle, oder beides. Und sich dabei finanziell nicht nur schicke Angebote sichern, sondern auch die Garantie, unter sich zu bleiben.

Das Beste für mein Kind und das Beste für die Gesellschaft
sollten kein Widerspruch sein

Als ich in die Schule kam, war ich eines von wenigen weißen Mädchen, die als ziemlich deutsch gelesen wurden. Eine meiner ersten Erinnerungen, ist die von zwei Freundinnen an meinem Tisch, die sich auf Türkisch miteinander unterhielten. Ich verstand nichts, war aber so fasziniert davon, dass sie einfach so zwischen zwei Sprachen hin- und her switchen konnten. Wohlgemerkt, der zahlenmäßig größere Teil meiner Familie kommt aus (oder lebt in) Rumänien, Fremdsprachen waren mir nicht, haha, fremd. Aber zwischen zwei Sprachen wechseln, das konnten damals nur die Erwachsenen, die ich kannte. Und hier jetzt Mitschülerinnen, Kinder? Abgefahren. Das wollte ich auch. Wollte begreifen, wie sich das anfühlt. Und erinnere mich zur Grundschule in Sachen Diversität, wie normal unsere Unterschiede waren. Die Konflikte, die wir hatten, hatten nichts mit unseren Nationalitäten zu tun, sondern mit unseren Persönlichkeiten. Etwas, was ich mir für mein Kind auch wünsche. (Was keinem anderen Kind und meinem nicht wünsche: wie normal und unveränderbar es sich anfühlt, wenn eine Klassenkameradin abgeschoben wird.)

Die gleiche Grundschule macht heute von außen einen eher verfallenen Eindruck. Von der Hauswand blättert Zeug ab. Was über die Schule gesagt wird, ist mehr der Rede wert – so als Tipp von Mutter zu Mutter bekam ich erzählt, dass es keine gute Schule sei. Die Schwein essenden Kinder seien eine Minderheit und würden gemobbt (sie meinte nicht von veganen Kindern, nehme ich an), andere hätten ihre Kinder schon aus der Schule nehmen müssen, sie selbst habe einen Weg gefunden, für ihr Kind die Pflicht des Schulbezirks zu umgehen.

Ich frage mich eh: für wieviel Bildungsgerechtigkeit kann die Festlegung auf einen Schulbezirk sorgen, im Vergleich zur freien Schulwahl, wenn von Bezirk zu Bezirk die Ausstattung der Schulen die Einkommensverhältnisse des Viertels wiederspiegeln, Kinder im Viertel eben unter sich bleiben. Oder, wenn Eltern mit besseren Ressourcen für eine bessere Schule einfach umziehen (meine Gastfamilie in Stockholm hat das gemacht) oder andere Auswege finden. Statt dazu beizutragen, dass die Schulen vor Ort besser werden. (Abgesehen davon, dass ich den Bericht jener Mutter mit Vorsicht und einer hochgezogenen Augenbraue genieße.)

Und ich muss an zwei sehr bemerkenswerte– und unbedingt hörenswerte Folgen von This American Life denken. In denen es um de facto Segregation an US-amerikanischen Schulen geht, und was dagegen getan werden kann. Erste Idee: Benachteiligte Schüler_innen mit dem Bus in wohlhabendere Schulen bringen. Was nicht unproblematisch ist, wenn es sie an dieser neuen Schule eine Minderheit bleiben. Und oft auf Widerstand der besser situierten weißen Eltern stoßen. Zweite Idee: Weißen, privilegierten Eltern und ihren Kindern Schulen schmackhaft machen, in denen sie nicht die Mehrheit sind. Weil der Lösungsansatz für mehr Bildungerechtigkeit, für gleichmäßiger verteilte Resourcen und Angebote ist, dass es eine ausgeglichene Zusammensetzung von Schüler_innen in Schulen geben müsse.

Woran ich denken muss, seit wir uns Kindergärten ansehen. Weil ich es nicht für einen Zufall halte, dass Kindergarten A, an dessen Kleiderhaken die wenigsten „deutschen“ Namen stehen, einen schlechten Ruf zu haben scheint und bei ihm weniger Angebot möglich scheint als bei anderen. „Wir machen viel Sprachförderung, das ist nötig“ sagt die Leitung. „Da können die Erzieherinnen nicht richtig deutsch oder haben einen Akzent“ sagt eine Mutter, und rät von der gleichen Einrichtung ab. Wohingegen Kindergarten B super beliebt ist, in dem, als wir ihn besichtigen, die meisten abholenden Mütter mir so ähnlich sehen. (Die Mütter in Kindergarten A tragen durchaus auch Niquab.) In Kindergarten B steht ein Flügel. Ich hätte ein Klavier ja schon krass gefunden, aber ein Flügel, wow, und die Kinder dürfen ihn benutzen. Die Mutter, die von A abrät, nennt B einen „Elite-Kindergarten“. Alles, was an Angeboten und Ausflügen in Kindergarten A erst später für die Kinder möglich ist, geht in Kindergarten B direkt nach der Eingewöhnung, und noch vieles mehr. Nevermind, beide haben im Prinzip den gleichen Betreuungsschlüssel von 2 Erzieher_innen pro ca. 20 Kinder. Und beide sind städtisch. Welchen Platz mein Kind letztendlich bekommt, liegt nicht in meiner Hand. Auch in Kindergarten A ist er nicht sicher. (Hier war aber die Leiterin die einzige, die den Hinweis, dass ein Platz auch plötzlich frei werden könne, mit dem Hinweis ergänzte, dass das z.B. der Fall sei, wenn ein Kind abgeschoben werde. Aber lieber bekommt mein Kind nirgendwo einen Platz, als dass ein anderes Kind seinen Platz aufgrund einer Abschiebung verliert.)

Kein Kindergarten darf entscheiden,
welche Chancen unser Kind später hat

Gut behütet vermute ich mein Kind in allen Einrichtungen, die wir uns angesehen haben. Ich bin dankbar, dass heute alle Wert legen auf eine behutsame Eingewöhnung, dass liebevoll mit Kindern umzugehen eine Selbstverständlichkeit zu sein scheint, dass darauf Wert gelegt wird, dass die Grenzen, die die Kinder setzen, respektiert werden. Und es scheint, als hätte ich die Wahl. Einen Kindergarten mit fancy Angeboten. Oder einen Kindergarten, in dem mein Kind als normal erlebt, dass nicht alle aussehen, wie es selbst. Und dass es die, die anders aussehen nicht nur mit Glück am Rande eine Wimmelbuches findet, sondern Beziehungen mit ihnen aufbaut. In dem es lernt, selbstverständlich mit Differenzen umzugehen. Sei es, weil die Erzieherin Hijab trägt. Weil Feste gefeiert werden, die wir zuhause nicht feiern. Oder weil die anderen Kinder zwischen zwei Sprachen hin- und her wechseln können. Und es ist eben auch so: mein Kind ist privilegiert genug, dass ich mir keine Sorgen machen muss, dass es zu wenig Förderung bekommt, dass ich mir keine Sorgen machen muss, dass es in der Schule nicht mitkäme. Wenn jemand es verdient hätte, auf „bessere“ Kindergärten und Schulen zu gehen, dann ja gerade die Kinder, die nicht selbstverständlich Zugang dazu haben, die mehr Förderung brauchen. Die Kinder aus Kindergarten A und B gehören zum gleichen Schulbezirk. Aber wer wird später die Gymnasialempfehlung bekommen? Chancengleichheit: Fehlanzeige.

Als ich als Gymnasiastin an meine alte Grundschule kam, um für ein Sommerfest jenes Gymnasiums zu werben, wies eine Grundschullehrerin mit der Hand über den Klassenraum und sagte: „Schauen Sie sich die Kinder an. Die Flyer verteilen lohnt sich nicht. Glauben Sie, die gehen aufs Gymnasium?“ Die Kinder im Klassen überwiegend nichtweiß. Das ist keine Gauß’sche Normalverteilung. Das ist Rassismus. Und ich hoffe, ich kann mein Kind mit den Skills ausstatten, die es braucht, um ihn zu beseitigen.

4 Antworten zu “Kind und Klasse”

  1. Giliell sagt:

    Na wenn die Kindergartenwahl schon Stress macht, warte bis die weiterführende Schule kommt.

    Sehr viele Dinge deines Textes und deiner Einstellungen teile ich.

    Meine Kinder gehen/gingen in den selben Kindergarten, in den einst Klein-Giliell ging (ich schwöre das Außengelände war damals doppelt, ach was sage ich, zehn mal so groß). Nicht, weil ich in der Nähe wohnte, sondern weil er auf halber Strecke zwischen zuhause und der Arbeit meiner Mutter lag und damals einer der ganz wenigen Kindergärten mit Ganztagsöffnung war. Selbst die halbe Stelle, die meine Mutter seinerzeit hatte wäre mit den 8-12 Öffnungszeiten nicht zu machen gewesen.

    Nun wohne ich aber in spuckweite jenes Kindergartens und war froh dort auch einen Platz bekommen zu haben (bei einigen KiTas warte ich immer noch auf Rückruf. Das Kind ist jetzt in der 3. Klasse). Je mehr ich diesen Ort und seine Kita kennengelernt habe, desdo weniger will ich von hier weg. Die Wohnsiedlung wurde in den 60ern bewusst als Mischung geplant: sozial geförderter Wohnungsbau, nicht geförderte Mietwohnungen, Eigentumswohnungen und Einfamilienhäuser, alles um einen Park und mit KiTa mit Hort, was seinerzeit revolutionär war.

    Das wirkt sich nicht nur auf die KiTa, sondern natürlich auch auf die Grundschule aus. Für meine Kinder ist es ganz normal, dass andere Kinder mehrere Sprachen sprechen. Auf dem Geburtstag der Großen hatten wir Deutsch, Russisch, Lettisch und Arabisch als Muttersprachen.

    In dieser KiTa ist es nicht nur normal, dass Kinder kommen, die kein bis wenig Deutsch können, das Kinder kommen, die nicht weiß sind, dass Kinder kommen, die eine Behinderung haben. Für die Kinder ist das so normal wie Butterbrote. Nur bei den Erwachsenen wünsche ich mir oft mehr Sensibilität für Rassismus und Geschlechterfragen. So korrigieren meine Kids die Erzieher_innen und Lehrer_innen regelmäßig, dass diese Farbe „apricot“ heißt. Oder eben, dass man bei einem Ausmalbild für das Kind durchaus braun nehmen darf.

    Mittlerweile ist die Große wie gesagt in der 3. Klasse und die Frage der weiterführenden Schule rückt näher. Was nun, sprach Zeus? Mein Herz und meine bildungspolitischen Überzeugungen schlagen für Gemeinschaftsschulen und gegen das elitäre, homogene Gymnasium. Fuck das Elitebewusstsein. Und dann schau ich mir mein Kind an mit seinen Eigenheiten (Neurodiversität FTW), schaue mir die Gemeinschaftsschulen an (es ist in D immer noch so, dass die, die das Lehramt für Gymnasium nicht gepackt haben dann auf das leichtere Lehramt für Gemeinschaftsschulen umsteigen. Wir nehmen also Kinder mit höherem Förderbedarf und geben ihnen die Lehrkräfte mit der schlechteren Ausbildung und Eignung) und schaue mir die Gymnasien an und bin schier am verzweifeln.

    Was mich zu dem Punkt hier bringt:

    Ich frage mich eh: für wieviel Bildungsgerechtigkeit kann die Festlegung auf einen Schulbezirk sorgen, im Vergleich zur freien Schulwahl, wenn von Bezirk zu Bezirk die Ausstattung der Schulen die Einkommensverhältnisse des Viertels wiederspiegeln, Kinder im Viertel eben unter sich bleiben.

    Ich glaube nicht, dass das Problem mit einer freien Schulwahl gelöst werden kann. Wie du richtig bemerkst, das US-Modell von Kindern durch die Gegend karren ist keine Lösung und meines Erachtens würde es das Problem eher noch verstärken, da die finanzstarken und bildungsbewussten Eltern nun die „schlechteren“ Schule noch weiter verlassen würden, also dass genau das, was wir mit Gymnasien vs. Gemeinschaftsschulen haben würde schon früher einsetzen.
    Die Lösung kann nur in der guten Ausstattung ALLER Schulen UNABHÄNGIG vom Geldbeutel der Eltern liegen. Unsere Grundschule bettelt zur Zeit an allen Ecken und Enden für eine neue Computerausstattung. Die in der Schule vorhandene stammt nämlich tatsächlich noch aus dem letzten Jahrtausend. Klar, je finanzkräftiger die Eltern, desdo netter die Schulausstattung. Je mehr Eltern Zeit und Geld für den Förderverein haben, desdo mehr Aktionen gibt es. Das ist keine Gerechtigkeit.

  2. Jenna sagt:

    Spannend, danke für deinen Artikel, Nicole!
    Gerade heute habe ich mit einer Freundin telefoniert, die derzeit auch auf der Suche nach einem Kita-Platz für ihr Kind ist. Sie ist eher von der klassistischen Sorte (und ja – leider auch latent rassistisch, wobei sie das mir Migraten*kind gegenüber nie zugeben würde). Daher vergeht sie gerade fast vor Sorge, weil sie meint, es gäbe keinen einzigen staatlichen tauglichen Kindergarten. Sie meint, bei den staatlichen Kitas würden die Kids nicht gefördert und die Erzieher*innen stünden nur draußen und rauchten; es gäbe einfach keine Angebote für die Kinder und diese würden einfach nur vor sich her spielen. Daher überlegt sie tatsächlich, das Kind auf eine private Kita für ca 800,- € im Monat zu geben, obwohl sie selbst weniger als doppelt so viel verdient (dafür verdient ihr Partner sehr gut).
    Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass es wirklich so schlimm sein soll in allen staatlichen Kitas und ich frage mich auch, warum Kinder eigentlich schon in der Kita eine perfekte Bildungsförderung erfahren sollen. Ist es denn so schlimm, wenn sie die meiste Zeit „nur“ spielen? Wäre es in dem Alter nicht wichtiger, dass sich Kinder in der Kita gut aufgehoben und sicher fühlen? Kann eins denn überhaupt auf den ersten Blick erkennen, ob es tolle Angebote in der Kita gibt oder nicht? Eine andere Freundin z.B., die selbst in einer Kita arbeitet, ist gerade entsetzt über die ganzen neuen, vermeintlich tollen Bildungsangebote in ihrer Einrichtung. Die Kids werden dafür aus ihrem Gruppenkontext gerissen und fühlen sich verunsichert, was z.B. zu Einnässen führt. Auch für sie in ihrer Arbeit hat das die Konsequenz, dass sie als „normale“ Erzieherin gar nichts mehr Spannendes mit den Kindern machen darf, weil die das ja jetzt alles in extra-super-Angeboten mit spezialisierten Kräften machen.
    Meine möchtegern-upperclass Freundin meint, ihr Kind würde sofort merken, wenn die Kita nicht „professionell“ genug sei und dann ununterbrochen wie am Spieß schreien. Ich frage mich, ob es sich dabei nicht einfach um Übertragung handelt, denn wenn sie das Kind schon mit dem Gefühl abgibt, dass es in der Kita nicht gut aufgehoben sei, gibt sie dieses Gefühl bestimmt ans das Kind weiter. Dann ist es kein Wunder, wenn es schreit, oder? Allerdings bringt es unter diesen Umständen natürlich auch nichts, meine Freundin davon zu überzeugen, dass die staatliche Kita bestimmt doch okay sei, denn das Gefühl bleibt ja.
    Ein nicht enden wollender Vorurteilskreislauf!
    Gut erinnern kann ich mich auch an einen Kollegen (wohlgemerkt aus dem Lobby-Bereich für sozial benachteiligte Menschen!), der sein Kind an eine Privatschule gegeben hat. Mit dem Argument, dass es für die ganzen wilden türkischen*TM Jungs an der Stadtteilschule einfach zu zart sei. WTF?! Als ob nicht auch türkische*TM Jungs zart und schüchtern sein könnten! Nee, da wird mir echt ganz anders :-/

    • Giliell sagt:

      Fast würde ich sagen, deine Freundin hat es verdient 600 Euro Zuschlag zur Kita zu zahlen… Was das Bildungsangebot angeht: Ich kann mich über meine Kita nicht beklagen und das meiste wird einfach spielerisch gemacht. Da besteht gar kein Widerspruch. Zur Zeit haben sie „Farben“. Grundfarben zusammenzumatschen, daraus Sekundärfarben zu mischen und dann auch noch die Kita für Fasching zu verschönern passt alles zusammen.
      Es ist m. E. heutzutage viel schlimmer, wenn überambitionierte Eltern ihren Kindern ganz früh total viel Bildung mitgeben wollen, aber natürlich keinerlei pädagogische Ahnung haben was altersgemäß angemessen ist.
      Mehr und mehr Grundschüler_innen leiden bereits unter Stress und es gibt tatsächlich die ersten Fälle von Burn Out!
      Die Jungs die an der Grundschule meiner Tochter die Jungbrut toxischer Maskulinität sind sind übrigens nicht die türkischen, auch nicht die syrischen…

  3. Pinguinlöwe sagt:

    Ich war eine Weile ehrenamtlich im Kitabereich tätig und habe dort, natürlich in dem begrenzten Bereich den ich gesehen habe, oft Überforderung erlebt. Der Kitaschlüssel ging selten auf. So gab es Gruppen bei denen nur eine „meistenteils“ Erzieherin zur Verfügung stand, die sich dann schon einen Notfallplan überlegen musste, wenn sie eine Toilettenpause brauchte. Das hießt dann: Tür zur Nachbargruppe auf, Kollegin nett fragen mit rein zu gucken und möglichst keine Zeit verlieren.

    Das ist eine große Belastung, denn wenn in der Zeit etwas passiert, drohen Konsequenzen, für die die Erzieherin oder der Erzieher nichts kann.

    Sprachliche Barrieren machen die Kitaalltag auch nicht gerade leichter. Kinder lernen allerdings schnell von anderen Kindern und wenn die Atmosphäre in der Gruppe gut ist, dann trägt das insgesamt zur Integration bei. Das kann aber auch Umkippen und gerade hier bin ich überzeugt, dass eine gut durchgemischte Gruppe wichtig ist, diese Konstellation aber nur eine kleine Anzahl an Problemkindern verträgt.

    Kinder mit Behinderung oder Trauma und anderen schwierigen Vorgeschichten brauchen einfach mehr Zeit, als andere Kinder. Wenn die Gruppe gut aufgestellt ist, dann läuft das flüssig. Ist sie es nicht, sind die Erzieher gestresst, der Stress springt auf die Kinder über und verstärkt sich zu kurzschlusshandlungen, auf die wiederum nicht eingangen werden kann, weil keine Zeit dafür da ist.

    Dieses Klima lässt sich sehr schnell spüren. Wobei ich nicht sagen möchte, dass der normale Kitaalltag nicht auch schon ausreichend turbulent sein kann.

    Was ich jedoch nie gesehen habe: Erzieherinnen die Kollektiv rauchen und kein Interesse an ihrer Gruppe haben. Es gibt immer wieder Einzelfälle, sowie in allen anderen Berufszweigen auch. Schwarze Schafe gibt es überall. Aber die staatlichen Kitas geben sich viel Mühe mit ihren Angeboten, nur bräuchte es manchmal mehr Personal zur Entlastung.
    Daher freuen sich Kitas in der Regel über ehrenamtliche Helfer, denn schon ein Begleiter mehr, kann dafür sorgen, dass ein Angebot stattfinden kann.

    Auch die Unterstützung der Eltern ist durchaus gewollt. Nur Helikoptereltern, die am besten noch den Erziehungsplan ihrer Kinder Schritt für Schritt mit der Kitaleitung durchsprechen wollen, die sind nicht so gerne gesehen, weil das im Alltag einfach nicht zu verwirklichen ist und nur zu noch weniger Zeit und noch mehr Stress führt.

    Es ist sicher hilfreich fair zu bleiben und genau hin zu sehen. Eine Kita die einen schlechten Ruf hat, weil nur noch problematische Kinder dort hin geschickt werden, kann diesen Ruf kaum mehr los werden, egal wie enthusiastisch die Erzieher dort auch sein mögen. Schließlich lässt sich ein da keine Gruppenkonstellation mehr aufbauen, von der alle etwas haben.

    Und zu guter Letzt: Jedes Kind kann Stärke zeigen, wenn man nur eine Chance gibt. Ein Kind, das in einer Gruppenkonstellation super problematisch ist, kann in einer anderen eine tolle Bereicherung sein.

    Als jemand mit schwieriger Hintergrundgeschichte mag ich daher betonen: Eine Entscheidung über Kita und Schule sollte niemals in Stein gemeisselt sein. Wenn es dem Kind in einer Einrichtung schlecht geht, ist es dem Kind gegenüber fair über einen Wechsel nachzudenken, selbst wenn dieser für die Eltern anstrengend ist.