Kind und Krise

CC BY-NC-SA 4.0 , by Nicole von Horst

Zu Kindern gibt es viel interessantes Zeug zu erzählen. Das Glück, dass ich mit einem Kind zusammenwohne und Zeug erzählen kann. Ein neuer Teil unserer Kinderkolumne. Hier findet ihr Teil 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8 und 9.

Content Note: Erwähnung von Gewalt gegen Kinder

Noch bevor ich ein kleines Kind großzog, oder zumindest einem Kind beim Wachsen die Hand hinhielt, stellte ich mir Advent mit Kind als ein Glück ohne Worte vor, allein mit Wärme im Bauch und Kerzenflimmern vor den Augen. Malte mir aus, Advent mit Kind wäre mindestens so magisch wie Advent als Kind. Wir würden gemeinsam alles machen, was ich mit meinen Müttern auch gemacht und geliebt habe. Plätzchen backen und Teig schlotzen, in der Küche einschließen, um Salzteiggeschenke zu formen, und abends am Adventskranz sitzen, singen und Geschichten vorlesen, bzw. vorgelesen bekommen. Ich schrieb es bereits an dieser Stelle: Advent ist für mich vor allem ein Reenactment der guten alten Zeiten. Ein oft anstrengendes Reenactment. Ich hatte gedacht, mit Kind würde das leichter.

Die nicht so guten alten Zeiten

Als Kind war es nicht leichter. Ich erinnere mich zwar an ein Aufgehobensein und Staunen und Düfte, an Wunschzettel und Geschenkeberge, an die perfekte Baumlichterkette und in den frühen 90ern auf Videokassette aufgenomme Weihnachtliedersendungen mit Hermann Prey, im besten Fall Schnee und wenn nicht, dann immerhin Schneespray auf den Fenstern mithilfe von meiner Trans-Mutter Andrea selbstgemachten Stencils. Ich kann mich an alles erinnern, was ins Klischee der glänzenden Kinderaugen passt. Aber das ist halt nicht das einzige. Advent war auch eine Zeit der Beklemmung. Alles, was wir als Kinder anstellten, hatte in der Vorweihnachtszeit ein viel größeres Gewicht als im Rest des Jahres. Weil Weihnachten viel wert war, kostete es auch viel Mühe, das zu erhalten, und eine blöde Idee oder Achtlosigkeit als Kind barg die Gefahr, alles platzen zu lassen. Nicht artig sein müssen, weil Santa zuguckt oder dem Nikolaus das so lieber ist, sondern um den Familienfrieden zu erhalten. Ein Druck, an dem ich als Kind nur scheitern konnte. Und dann?

„Dann fällt Weihnachten eben aus.“ Die schlimmste aller Drohungen. Denn wenn Weihnachten gut ging, war es ja das Schönste. Diese Drohung borg größeren Horror als der Kochlöffel in der Küchenschublade. Noch am Nachmittag eines Heiligen Abends im Kinderzimmer sitzen und warten und ungewiss darüber sein, ob es jetzt stattfindet, das Fest, oder nicht, machte nicht bloß ernsthafte Bauschmerzen. Es zog die Zeit in die Länge und brachte uns Kinder nur auf ungünstigere Ideen, die Zeit zu vertreiben. Es gab die Drohung allerdings auch in kleiner – wenn abends als Strafe die Geschichte und das Singen beim Adventskranz ausfiel.

Was wir anstellten, waren, wenn ich jetzt daran denke, größtenteils Bagatellen. Zum Beispiel die Krippenfiguren, die irgendwie in unserem Zimmer beim Spielzeug gelandet waren, so anzuknabbern, dass sie keine Farbe und kein Gesicht mehr hatten. Unsere Hände beim Stiefelabstreifen an der weißen Tapete abstützen. Oder lügen. Lügen, die meist nur ein Versuch waren, einer anderen Bestrafung zu entgehen.

Trotz all dem habe ich die Adventszeit als Kind überwiegend als Zauber in Erinnerung. Aber, oh Boy, war es ein Stress, diesen Zauber zu erhalten.

Und später der Stress, diesen Zauber wieder zum Leben zu erwecken. Als Andrea sich Jahre später weigerte, mit meinem Bruder und mir Adventsdinge zu machen, und ich das erst als Zeichen ihrer Depression verstehen konnte, als sie sich ein halbes Jahr später das Leben nahm. Der Stress, neue Orte zu finden, um Weihnachten zu feiern, weil ich fürs Alleinsein zu feige war und es mit Familie so nicht mehr funktionierte. Der Stress, sich ein weihnachtliches Glücklichsein erarbeiten zu wollen, durch Schmücken, Liederhören, Geschenke für so viele Menschen wie möglich, auch wenn man weiß, dass der Christmas Spirit nur mit Glück oder Liebe gelingt, und nicht durch Anstrengung. Erzählen ja auch fast alle Weihnachtsfilme: es braucht ein Wunder. Doch nie war der Stress so stressig wie jetzt mit Kind.

Ich merke das daran, wie mein Kiefer seit einer Woche schmerzt, weil meine Backenzähne aufeinander reiben. Ich würde sie gerne herausnehmen, in Gelee einlegen und meinen Mund locker schütteln. Ich habe es gemerkt, als ich noch vor dem 1. Dezember mehrmals in Tränen ausbrach. Was ist da los?

Christmas Krise

Letztes Jahr ging es irgendwie in die Hose, trotz Kind. Denn das Kind war mit einem Jahr zu klein zum Backen, Basteln, Weihnachtslieder, zu klein für die Geschichten im Adventskalenderbuch. Ich gab mir Mühe, trotzdem adventliche Dinge fürs Kind zu machen, aber es reichte nicht. Am Heiligen Abend saß ich unter dem Baum, fühlte mich nur leer und vertröstete mich auf das nächste Jahr. Wollte früher anfangen mit den Vorbereitung, schrieb mir im Januar schon Pläne für Mitte November in den Kalender. Und dann könnte das Kind auch mitmachen, und es ginge gewiss ganz von selbst mit dem Weihnachtszauber.

Als Mitte November kam, schien mir das alles viel zu früh. Ich kann doch nicht dekorieren, wenn noch Herbst und Kürbissuppenzeit ist. Die Woche drauf war bereits die Woche zum ersten Advent; darin Deadlines und so viel Zeug zu erledigen, dass der erste Advent kam, und ich nichts bereit hatte. Nicht geschmückt. Keinen Plan, wer was geschenkt bekommen soll und wann genau ich mich darum kümmern muss. Keinen Plan, wann was in der Stadt stattfindet, das ich mit dem Kind gemeinsam erleben kann. Und keinen Adventskalender für das Kind. Noch nicht mal einen Plan, was für einen Adventskalender das Kind überhaupt bekommen soll.

Allein die Frage stresste mich so heftig. Einen einfachen Schokoladenadventskalender aus dem Supermarkt? Aber die sind doch fad, bei all den fancy Adventskalendermöglichkeiten. Einen Aktivitätenadventskalender? Aber versteht das Kind das schon? Einen Holzeisenbahnadventskalender aus der Spielzeugabteilung des Kaufhauses? Aber der sieht so unweihnachtlich und, äh, unromantisch aus. Einen selbst mit Spielzeug und Süßigkeiten gefüllten Adventskalender? Aber in welchem Verpackungssystem? Es soll ja eines sein, das über Jahre hält, schön ist, gut aufzuhängen und keine Geldverschwendung. Ob ich bis zum 1. Dezember noch 24 Kindersocken stricken kann? (Aaaaaaaaah! /o\) Selbst wenn ja, was soll da rein? Ich will das Kind nicht an Spielzeug als Adventskalenderstandard gewöhnen, so dass es, wenn es die feinmotorischen Fähigkeiten dafür hat, einen schönen Papierkalender zu öffnen, den verschmäht. Und er soll auch selbstgefüllt nicht zu teuer sein. Unter anderem. Druck, unter dem man nur scheitern kann, als Erwachsene.

Ich scheitere nicht zuletzt am Druck, den ich mir jedes Jahr mache, eine perfekte Vorweihnachtszeit zu haben, um mich wieder so weihnachtlich zu fühlen, wie als Kind. Die jährliche Suche nach diesem Gefühl (wie Glücklichsein, nur mit einem Geschmack von Zimt und Schnee) ist ein bisschen so, wie auf einen Orgasmus zu hoffen, und dann verkrampft man sich total beim Versuch zu entspannen, für den Höhepunkt, und eigentlich ist das beste Gefühl das erwartungsvolle Kribbeln kurz vorher.

Dazu kommt das Problem, erwachsen geworden zu sein, und alles, was magisch war, als menschengemacht oder menschenausgedacht zu durchschauen. Trotzdem suche ich weiter. Und habe auf dem Weg zumindest Cindy Lou Who gefunden, die mich versteht.

„Where are you Christmas? / Why can’t I find you? […] /
You and I were so carefree / Now nothing’s easy /
Did Christmas change / Or just me?“

Und dann ist da ein Stress an Advent mit Kind, der mich erschreckt hat. Das Kind kann jetzt mitmachen, ja, aber sich auch entscheiden, nicht mitzumachen. Zum Beispiel, wenn wir abends um den Adventskranz herum sitzen und singen und Geschichten vorlesen, und das Kind genug davon hat und vom Stuhl klettert. Dann bin ich plötzlich so frustriert, dass ich hinschmeißen will. Oder das Kind zerreißt den Schutzumschlag eines der Weihnachtsbücher meiner Kindheit, das ich zur Seite geräumt hatte, damit das Kind den Umschlag nicht zerknickt. Pöh, dann lesen wir heute halt nicht. Dann fällt es eben aus. Und ich ahne, wie aufgerieben meine Mütter von dem Druck gewesen sein müssen, eine schöne Vorweihnachtszeit für ihre Kinder zu bereiten. Jetzt ist es ein klein bisschen wie in den nicht so guten alten Zeiten, aber andersherum. Das hab ich nicht bestellt.

Wie macht ihr das, wenn ihr (gerne) Weihnachten feiert – ohne Stress durch den Advent, mit Kind(ern)?

3 Antworten zu “Kind und Krise”

  1. Tina sagt:

    Meine Tochter ist erst 1 und ich und ihr Vater arbeiten beide an unserer
    Doktorarbeit. Wir haben also beide viel zu tun und versuchen (auch den
    Freizeitstress) zu vermeiden. Deswegen lautet bei uns das Motto weniger
    ist mehr, aber dann mit Freude.

    Ein sehr interessanter Artikel. Dieses Gefühl das du beschreibst ist genau das welches ich versuche so gut es geht zu verhindern. Bei mir taucht es immer dann auf, wenn ich von anderen Leuten Dankbarkeit erwarte.
    Deswegen versuche ich nur Dinge zu machen, die mir auch selbst Spaß machen (Backen, Kalender basteln). Dann ist es nicht nötig, dass ein Kind mit Freude daran beteiligt ist und kann 5min kneten, dann eine Stunde spielen und anschließend noch die letzten Keckse verzieren; Ich hatte auf jeden Fall meinen Spaß und meine Tochter in der Zeit in der sie dabei war auch.
    Die schönsten Erinnerungen werden sicher auch dadurch entstehen, dass man die Eltern bei Ritualen beobachten kann und nicht durch das zwanghafte Mitmachen.

    Bei all den Dingen die ich tue damit andere sich freuen entsteht so viel ungesagtes, das es oft nicht gut enden kann. Es ist natürlich schwierig einen einmal angefangenen Kreis zu unterbrechen, aber ich habe für mich festgestellt, dass oft viel weniger gefordert wird und man ohne Ballast auch mit weniger deutlich mehr Freude hat.

    • Inea sagt:

      Meine kleine ist 2 und wir halten es so wie du. Wir machen nur das, was uns Spaß macht und freuen uns wenn sie mitmacht und auch Freude daran hat. Und wenn sie was anderes machen will – auch gut. :)

  2. Rosalie sagt:

    Frage, was findet eigentlich dein Kind schön?
    Und was findest du schön, solltest du also für dich tun?