Du kannst alles werden was du willst, du musst es nur wollen!

Foto , CC BY-NC-SA 2.0 , by musiciennedusilence

Dies ist ein Beitrag aus unserer Rubrik kleinergast, in der wir alle Gastartikel veröffentlichen. Dieses Mal kommt er von Mina.

Frau Dingens aka Mina promoviert, bloggt und lebt in Hamburg. Wenn sie nicht an der Uni unterrichtet oder Serien guckt, findet man sie bei einem guten Kaffee und netten Menschen.

Blog von Mina @lasersushi

Als ich letztes Semester mit meinen Student_innen das Seminar zu Chancengleichheit begann, ließ ich sie erst einmal erarbeiten, was Chancengleichheit denn eigentlich genau sei. Was sie sich darunter vorstellten. Alle angehende Lehrer_innen, manche schon mit praktischer Erfahrung in Schulen, standen also da, und suchten sich Bilder – so die Anweisung – aus der Wochenausgabe der Zeit, die ihrer Meinung nach Chancengleichheit am besten widerspiegelten. Am Ende bekam ich Bilder von Sportlern, glücklichen Menschen und ein paar Symbole für Geld.

„Alle sollen dasselbe erreichen können!“ so die erste Aussage. Wirklich? Denn wollen Menschen wirklich dasselbe erreichen können? Ich wollte zum Beispiel immer zeichnen können, aber wenn ich einen Stift in die Hand nehme sieht es aus, als hätte eine Sechsjährige etwas mit Buntstiften gekrakelt.

„Alle sollen dieselben Startchancen haben!“ verbesserten sie sich also. Ja, das schon eher. Haben denn alle in Deutschland dieselben Startchancen?
„Klar“ so sie einhellige Meinung.

Was ist mit dem kleinen Kevin Onoclu aus Neukölln, der die Sachen seines Bruders aufträgt, hat der dieselben Chancen wie Lena Meier, deren Vater als Anwalt im Förderkreis der Schule sitzt? Betretenes Schweigen. Naja, also theoretisch. Schulen schließen ja niemanden aus…

Es gibt keine Chancengleichheit. Die Illusion könnt ihr euch abschminken. Zwischen dem Gegrummel und Unglauben entdeckte ich erste Zweifel.

Chancengleichheit, ein Mythos, der seit Jahrzehnten in Deutschland Beachtung findet, obwohl er doch so einfach widerlegt werden könnte. Laut Bildungsbericht 2012 bezeichnet Chancengleichheit „gleiche Startvoraussetzungen im Zugang zu und Erwerb von Bildung für alle Gruppen unabhängig von ihrer sozialen und ethnischen Herkunft.“ Nur wenige Seiten weiter kann man dort und in ähnlichen Studien all die Fakten nachlesen, die in der Öffentlichkeit, selbst wenn bekannt, so gerne ignoriert werden: Jedes fünfte Kind lebt in Armut. Kinder, deren Eltern Hartz IV-Empfänger_innen oder Ausländer_innen sind, bekommen wesentlich seltener eine Gymnasialempfehlung nach der Grundschule, als Kinder, deren Eltern aus der gehobenen Mittelschicht kommen – selbst bei besseren Noten. Von 100 Abiturient_innen aus Nicht-Akademischen Familien werden nur 24 studieren, während von 100 Abiturient_innen aus akademischen Familien 71 ein Studium anfangen. Das geht dann weiter damit, dass Lehrer_innen Kinder die Kevin oder Chantal heißen, für dümmer halten, sie weniger fördern, und diese dann auch schlechtere Noten schreiben – eine selbsterfüllende Prophezeihung, die perfekt in den Mythos der Leistungselite passt. Leistungselite? Ja, genau. Das ist dieses tolle Konzept aus der neo-kapitalistischen Weltsicht Anfang der 2000er und der FDP/Union 2013: wer gut leistet, wird es schon nach oben schaffen. Wer es nicht nach oben schafft, leistet eben nicht gut. Das ist natürlich vollkommener Schwachsinn, und das nicht erst seit einem Jahrzehnt.

Ich könnte hier viel erzählen, aber ich lasse es den Elitesoziologen Michael Hartmann (ein Soziologe, der sich mit Eliten befasst, kein Soziologe der Elite) einfach mal ausführen:

Ein Beitrag, der sich u.a. auch deswegen lohnt, weil er so ganz nebenbei erklärt, warum Politik schon länger nicht mehr für die breite Masse der Gesellschaft gemacht wird, aber das ist noch mal ein anderes Thema.

Nun, noch mal zum Rekapitulieren: „Es gibt Kriterien, die, völlig unabhängig von formalen Bildungsabschlüssen, darüber entscheiden, ob es jemand schafft oder nicht.“ Eines davon ist die soziale Herkunft. Ein anderes Geschlecht. Dann gibt es erste Befunde, die auch den Einfluss von Aussehen auf Karrieren nachweisen. Und so weiter. Und so fort.

Die Gesellschaft ist keine gerechte, weil die Menschen keine gerechten sind. Menschen haben Vorurteile. Menschen sind unsicher. Menschen versuchen daher ständig, andere Menschen in Schubladen zu stecken, um zu wissen, woran sie sind. Kleine und große Faktoren, wie Kleidung, Namen, Aussehen, etc. helfen dabei. Das heißt nicht, dass Menschen böse sind. Sie sind wie sie sind.

Schwierig wird es eben nur, wenn ständig jemand verkündet, dass dann doch alle dieselben Chancen hätten. Weil er oder sie fünf, zehn oder hundert Leute kennt, die es doch entgegen allen Widrigkeiten geschafft haben. Das Problem? Dass die Leute, die es eben gar nicht erst bis zum Abitur schaffen, nicht sichtbar sind. Keiner hat den Verein „Leute, die es wegen mangelnder Chancengleichheit nicht bis zum Diplom schafften“ gegründet. Und es wird auch keiner tun. Werdet erwachsen, verdammt. Es gibt keine Chancengleichheit. Wahrscheinlich wird es sie nie vollkommen geben. Aber eine Reflektion der eigenen Privilegien und der Wahrnehmung anderer kann bereits viel helfen.

Nachdem wir ein Semester lange und auch teils emotional über verschiedene Aspekte von Chancengleichheit sprachen (u.a. Geschlecht, Herkunft, Aussehen), fragte ich in der letzten Stunde dann nach der abschließenden Meinung.

„Es ist echt scheiße“ so eine Studentin später zu mir. „Es gibt wirklich keine Chancengleichheit. Ich bin schon etwas desillusioniert. Aber ich achte schon jetzt mehr darauf, wie ich die Kinder behandle. Ich hoffe, ich bin fairer.“

Ich denke, das ist schon mal der erste Schritt, zu besseren Chancen – für alle.

24 Antworten zu “Du kannst alles werden was du willst, du musst es nur wollen!”

  1. Christian O. sagt:

    Was für ein unglaublich pessimistischer Beitrag in einer Gesellschaft, in der es keine rechtlichen Grenzen mehr gibt, in der mehr Informationen als je zuvor frei zur Verfügung gibt, und in der es selbst die Ärmsten vergleichsweise besser haben als je zuvor.

    Scheitern ist heutzutage sehr wohl auch ein persönliches Versagen und bedeutet nicht mehr nur fehlende Chancengleichheit.

    Ich empfehle Gary Vaynerchuck.

  2. Hagen von der Lieth sagt:

    Es wäre alles zu ertragen. Selbst die Lüge von der Chancengleichheit. Was nicht zu ertragen ist: wenn – in einer irrwitzigen Volte – Chancengleichheit als Term durch Politik und Wirtschaft benutzt wird, um Menschen durch die Ferse ins Knie zu schießen.

    Argumentationsschema:

    – es gibt Chancengleichheit

    – jeder kann die Chance nutzen oder nicht

    – wer keinen Erfolg oder keine Karriere hat – hat offenbar seine Chancen nicht SO genutzt, wie sein_e Nebenfrau_mann

    Damit werden Scheitern, Misserfolg, verpasster sozialer Aufstieg und vergleichbare Dinge auf einen Mangel des entsprechenden Subjektes attribuiert – anstatt die systematische(n) Benachteiligung(en) in den Blick zu nehmen, die ihre wahren Gründe sind.

    Argument:

    – wenn es eine_r schafft, können es alle schaffen

    Richtig wäre in einer Gesellschaft und Wirtschaft, in der die Kernoperation konkurrentes Verhalten gegenüber Mittbewerber_innen ist, zu schließen: wenn es eine_r schafft – können ihre_seine Konkurrent_innen es eben genau nicht mehr schaffen. Das liegt dann aber nicht daran, dass die_derjenige es nicht genug versucht hat, sondern ist eine dem System und seinem gegenwärtigen Modus eingeschriebene Logik. Das System produziert durch seinen Modus permanent mit jeder_m Gewinner_inn ein Vielfaches an potentiellen Verlierer_innen.

    Jenen dann mit der Hülse „Chancengleichheit“ die Berechtigung zu Kritik und gefühltem Unrecht zu entziehen und die generelle Frage zu stellen: X konnte es offenbar schaffen, warum du nicht? Also: ein Problem des Systems und des Modus unserer Gesellschaft ins Private auszulagern und die These aufzustellen, dass jede_r die_der es eben nicht ins hübsche, normativ positive der Gesellschaft schafft es eben einfach nicht genug versucht hat, dass ist die Handkante dieser Form von Argumentation.

    Chancengleichheit heißt in dem Kontext dann auch immer: wenn du es nicht schaffst, bist du allein Schuld. Persönlich. Durch dein Handeln, deine Entscheidungen, dein Leben hast du deine Lebenssituation herbeigeführt. Dein_e Nachbar_in hat es geschafft. Du nicht. Eat this.

    Chancengleichheit ist zur Zeit ein Term, mit dem Menschen ins Unrecht gesetzt und stigmatisiert werden können, mit dem Menschen regiert werden, in dem ihnen Machbarkeit vorgehalten wird.

    Guter Artikel, danke, weitermachen (bitte)!

    • Christian O. sagt:

      weitgehend kann ich mich anschließen – allerdings:
      Wenn eine/r es schafft, und dabei eine/n andere/n aussticht, hat diese/r immer noch an Erfahrung gewonnen und kann es erneut probieren – Idealerweise besser als beim letzten Mal.
      Und auch Zufall spielt bei dieser Systematik eine Rolle.

      Soweit also zur Rolle der Chancengleichheit in Bezug auf Erfolg. Ich halte es für nicht gut diese beiden Begriffe auf eine Stufe zu stellen.

    • Danke für deinen Kommentar! Ja, ich finde gerade auch die politische Verwendung des Begriffs schwierig.

  3. Hagen von der Lieth sagt:

    Was ist an dem Beitrag der aus deiner Sicht pessimistische Part?

    • Christian O. sagt:

      Die Überschrift, gemixt mit dessen beinahe völliger Verneinung im Beitrag.

      Es lohnt sich auch einzuwenden, dass ein glückliches Leben nicht ein finanziel erfolgreiches sein muss.

      • Es geht hier nicht um finanziell erfolgreich, sondern darum, dass Kinder schon vor der Grundschule und erst recht dann beim Übergang in die weiterführenden Schulen aussortiert werden. Und Chancengleichheit bedeutet eben nicht (s.o.), dass alle dasselbe erreichen wollen (was du mit glückliches Leben meinst), sondern dass eben alle theoretisch dieselbe Möglichkeit dazu hätten. Haben aber nicht alle.

  4. KarlGutsav sagt:

    Kann ich nur unterschreiben. Ich bin selbst einer von denen die es wohl „geschafft“ haben. Ich habe kein („echtes“) Abi, aber ein Diplom (Fh), verdiene teils mehr als das Doppelte als die Leute mit denen ich damals die Mittlere Reife gemacht habe. Nur heute kann ich mich mit jenen nicht mehr unterhalten. Wenn ich versuche über meinen Job, Politik oder gesellschaftliche Entwicklungen sprechen möchte/muss, stehe ich als Sonderling da. Mir wird zu verstehen gegeben, dass ich anscheinend glaube etwas besseres zu sein. Dabei fällt es den Leuten sehr schwer über sich selbst zu reflektieren. Meine Taten oder mein Denken wird von ihnen teils als feindlich angesehen weil es so anders, so ungewohnt ist. „Der hat keinen Fernseher, was macht der den ganzen Tag?“ „Der hat kein Auto, ist der bekloppt?“ Das man mit ÖPNV und einem guten Buch genauso weit kommen könnte fällt ihnen nicht ein. Das ihre eigene Gesellschaftliche Situation davon abhängen könnte, dass sie eben nicht mit 16 aufhören zu lernen, kommt ihnen nicht in den Sinn.

    Wenn ich selbst nicht über mein Tun reflektiere, selbst nicht neugierig bin und selbst die Welt nicht als etwas begreife, dass ich in gewissen Bahnen beeinflussen kann, wie soll ich meinen Kindern dann so etwas vorleben? Wenn die Eltern einfach nur Rezipienten sinnloser Information sind, die jeden Eingriff von außen als Angriff werten, dann werden es die Kinder auch. Das Einzige was meiner Meinung dagegen helfen könnte wären Ganztags Schulen, aber das dafür nötige Geld gibt man lieber Eltern die ihre Kinder weiterhin verziehen.

  5. Hagen von der Lieth sagt:

    Aha. Verstehe.

    Ich empfehle: Literatur zum Thema Gouvernementalität und zur Theorien sozialer Differenzierung. Und unzählige Studien zum Stand der Dinge.

    Warnung: nur bei guter Laune beginnen – Stimmungsdrop wird bei Hang zu empathischem Mitvollzug und minimal ausgeprägtem Gerechtigkeitsempfinden garantiert.

    Just my two cents

    ;)

  6. susanna14 sagt:

    Ich wundere mich nur über diese Lehramtsstudenten, die ihr Studium antreten und Chancengleichheit glauben. Ich war nicht einmal mit zwanzig so naiv – aber vielleicht war das auch eine andere Zeit, als ich selbst Schülerin war (in den Siebzigern und Achtzigern), und vielleicht war den Menschen damals stärker bewusst, dass es eben keine Chancengleichheit gibt. Wir haben, glaube ich, sogar im Gemeinschaftskundeunterricht (so hieß das damals) darüber diskutiert. Und abgesehen davon: Die mangelnde Chancengleichheit war eines der Ergebnisse der Pisa-Studie vor mehr als zehn Jahren – und in Deutschland ist das Problem sogar stärker ausgeprägt als anderswo.

    • Sarah sagt:

      Ich wundere mich nicht nur, ich schaeme mich auch fuer meine Komillitonen (wobei es sich bei diesen Leuten mittlerweile nur noch um eine Minderheit handelt). Es ist verrueckt, wie unbedarft sich manche aeussern ueber die vermeintlich fuer alle in gleichem Maass vorhandenen Moeglichkeiten, sich (z.B. musisch) zu bilden… Umso erstaunlicher, dass im ganzen Lehramtsstudium Berichte wie der Bericht ueber die Chancengleichheit oder die Pisa-Studie nicht in Seminaren gelesen und reflektiert werden.

      • Ich möchte hier kurz die Lanze für die Student_innen brechen: das alles war eine Diskussion, die wir über 90 Minuten führten, und ist hier natürlich verkürzt wieder gegeben. An Chancengleichheit vorerst zu glauben kann man niemandem vorwerden, die/der in der heutigen Zeit aufgewachsen ist, denke ich. In meinem eigenen Studium hab ich es bspw. täglich eingeprügelt bekommen, dass jede/r die gleichen Chancen hätte…

  7. Robin Urban sagt:

    Ich absolvierte mein erstes Praktikum in einer Grundschule und kam dort zuerst in den „Schulkindergarten“. Das war ein Euphemismus für eine Art Sonderschulklasse – denn die meisten der Kinder, die diese Klasse besuchen mussten (schulpflichtig, aber noch nicht schulfähig), kamen nach der Grundschule direkt in eine Förderschule.

    Was ich dort gesehen habe, löste sämtliche Vorstellungen von Chancengleichheit in Luft auf, falls ich denn je welche gehabt habe.

    In meinen Erziehungswissenschaftsseminaren saßen dagegen schon immer die größten Träumer, denen ich je begegnet bin. Angehende Lehrer, die sogar leugnen, dass nicht alle Kinder den selben Intelligenzgrad haben.
    Ja, sorry – aber der kleine Sebastian wird mit seinem IQ von 80 nie Physikprofessor werden, selbst wenn man ihn fördert bis zum Äußersten und selbst, wenn sein Herr Papa Chefarzt im örtlichen Krankenhaus ist und mit aller Gewalt will, dass sein Sohn studiert. Man kann ihn trotzdem helfen, seine Begabungen auszuloten… und sollte sich herausstellen, dass die eher im handwerklichen Bereich liegen, wo man wenig rechnen und schreiben muss, dann ist das auch keine Schande.

    • Pandora sagt:

      Ich glaube, Handwerker würden dir den letzten Satz sehr übel nehmen ;). Ne , ganz im Ernst, nur in Deutschland gibt es die Trennung zwischen „praktischen“ und „intellektuellen“ Fähigkeiten und deren Zusammenhang mit dem Intelligenzquotienten(sieht man auch am Schulsystem: blöd und kann ’nen Hammer halten: Hauptschule; nicht ganz so blöd und Schreibmaschinentauglich: Realschule; Unimaterial: Gymnasium). Wissenschaftlich gesehen ist das total veraltet und mehrfach wiederlegt worden. (wobei es stimmt, dass es eine ziemlich starke Korrelation zwischen IQ und Abschlüssen wie Doktor oder Professor gibt. Der IQ determiniert trotzdem nicht so viel, wie manche Sozialdarwinisten glauben machen wollen)

      Die Kindergartenanekdote habe ich aber auch so erlebt. War mal in einem Kindergarten eines sehr deprivierten Stadtteils und was dort als normales Verhalten galt, hat mich auch sehr erschreckt. Mein Beileid galt sowohl den Kindern, als auch den Kindergärtnerinnen (bevor jemand schimpft: dort waren nur Frauen beschäftigt). Muss aber nicht repräsentativ sein.

  8. Svenja sagt:

    Toller Beitrag! Ich bin außerdem immer wieder begeistert von Herrn Hartman.

  9. Katja sagt:

    Einerseits stimme ich komplett zu: jeder Mensch startet aus unterschiedlichen Startlöchern heraus.

    Allerdings wird hier eine Sache vergessen, nämlich die Verantwortung der Eltern. Wenn Kinder ungleich behandelt und gefördert werden, dann ist der Staat, dann sind die Lehrer schuld. Aber was ist mit den Eltern, die ihre Kinder Chantal oder Kevin nennen? Mit ihren Kindern nicht abends üben oder gemeinsam Hausaufgaben machen? Die ihren Kindern sagen, dass aus ihnen eh nie was wird? Viele Eltern machen nämlich genau das, und jetzt soll der Staat bzw. sollen die Lehrer gefälligst herhalten.

    Und noch etwas: in meinem Bekanntenkreis (mich inbegriffen) gibt es einige, die auf eigene Faust das Abitur nachgeholt oder „spät“ studiert haben. Ich selbst habe mit Anfang 30 mein Bachelor-Studium auf dem sogenannten zweiten Bildungsweg absolviert und jetzt, mit Anfang 40, mein Master-Studium. Ich habe dabei immer in Vollzeit gearbeitet. Deshalb werde ich, gerade in Deutschland, ab und zu schief angeguckt. In anderen Ländern (UK, USA) ist sowas völlig normal. Jeder meiner Kommilitonen arbeitet nebenher, und zwar nicht als Kellner oder Postsortierer, sondern richtig z.B. als Lehrer.

    Also: 1. Eltern mehr zur Verantwortung ziehen, und 2. flexiblere Bildungsmodelle zulassen!

    • Pandora sagt:

      Beim ersten Punkt wird leider vergessen, dass die Kenntnisse darüber, welche Eigenschaften und Fertigkeiten zum sozialen Aufstieg verhelfen, sozial ungleich verteilt sind. Warum soll sich ein Mensch etwas Böses dabei denken, sein Kind Kevin oder Chantal zu nennen, wenn diese Namen im eigenen Umfeld völlig normal sind? Woher sollen Eltern wissen, dass eine drei auf dem Zeugnis eben nicht „befriedigend“ ist, sondern Verbesserungspotential aufzeigt? Wie sollen Eltern, die beispielsweise „nur“ einen Hauptschulabschluß haben und in Vollzeit arbeiten ihrem Kind bei den Hausaufgaben genauso gut helfen, wie Eltern, bei denen ein Elternteil, vielleicht noch mit Uniabschluß, es sich leisten kann zuhause zu bleiben oder einfach direkt Nachhilfe bezahlt wird? Gerade die Namensgebung halte ich für sehr zynisch. Meines Wissens sind die Statistiken zu Modenamen so, dass Namen deshalb zum Stigma werden, eben WEIL sie in der Unterschicht öfter vorkommen. Das Problem ist die irrationale Namensdiskriminierung an sich, nicht die Chantals und Kevins.

      Beim zweiten Aspekt stimme der Notwendigkeit der Anerkennung flexiblerer Berufs- und Bildungsbiographien zwar grundsätzlich zu, halte gerade diese Anekdote aber für problematisch. Ein Master im englischsprachigen Ausland hat einen anderen Stellenwert als hier in Deutschland, In Deutschland gilt er in weiten Teilen immer noch als der einzige „echte“ Uniabschluß und wird entsprechend Bafög-gefördert. In den USA und in der UK ist ein Master, bzw. graduate studies, wesentlich exklusiver – zum Einen ist er unheimlich teuer (wobei der erste Studienabschluß schon teuer genug ist und es allein deshalb schon normaler ist, zuerst ein paar Jahre zu arbeiten und zu sparen) und zum Anderen sind die Auswahlverfahren strenger. Der Knackpunkt ist der Satz „Ich habe dabei immer in Vollzeit gearbeitet“ – wer das nicht erfüllt, wird in den USA und in der UK genauso wie hier in Deutschland lebenslang für temporäre Faulheit bestraft (man möge sich mal mit Langzeitarbeitslosen unterhalten).

  10. Ben sagt:

    Danke für diesen Beitrag. Es ist sehr wichtig, das häufiger zu betonen.

  11. […] ja, das ist die andere Seite der Spaltung: die sogenannte Leistungselite (was letztlich nur ein Codewort für: privilegierte Angestellte ist) beißt und kratzt um ihre […]

  12. Pandora sagt:

    Ich bin zwar über das Zeichnenbeispiel gestolpert (da startet zwar jeder ungleich und auch das Lerntempo variiert, die Technik kann man aber sehr wohl mit Fleiß, Ausdauer und gutem Feedback erlernen!), ansonsten aber: joar, seh ich auch so. Das Hauptproblem liegt wahrscheinlich darin begründet, dass im gesellschaftlichen Bereich viel zu viele Menschen nicht verstehen, dass Anekdoten NIEMALS Beweise sind (bin antiert hier ebenfalls oft schuldg im Sinne der Anklage!). Sie können Argumente zieren, aber nicht ersetzen. Das hat mir im Nachhinein die meisten Seminare ruiniert – stundenlange Diskussionen darüber, ob eine Theorie mit den eigenen Erfahrungen in der Nachbarschaft übereinstimmt. Sieht man imho auch wieder an den Kommentare – richtig ist, was der eigenen Lebenswirklichkeit entspricht. Das zieht sich durch alle Gesellschaftsschichten und führt selbstverständlich zu mehr Ungleichheit, weil manche dieser Narrationen in gesellschaftlich einflussreicheren Positionen stattfinden und dort gestalterischen Einfluß entfalten können (beispielsweise der studierte Lehrer im Vergleich zum Hauptschüler).