Kind und Geschlechterdifferenz

Foto , CC BY-NC-SA 2.0 , by Rupert Ganzer

Zu Kindern gibt es viel interessantes Zeug zu erzählen. Das Glück, dass ich mit einem Kind zusammenwohne und Zeug erzählen kann. Ein neuer Teil unserer Kinderkolumne. Hier findet ihr Teil 1, 2, 3, 4, 5 und 6.

Ein kleines Kind großziehen, oder zumindest dem Kind beim Wachsen die Hand hinhalten, heißt oft, dem Kind mit großen Gesten die Welt zu erklären. Wie sie funktioniert, was sie im Innersten zusammenhält, drunter machen wir es nicht. Der erste Schritt dabei ist fast biblisch – erstmal wird jedes Ding benannt. Nach Kategorien benannt (“Das ist ein Hund.”) oder nach den Geräuschen, die sie machen (“Der Hund macht wauwau.”). Bekannte Dinge werden namentlich vorgestellt (“Das ist die Betty.”), und einmal benannt wird die Benennung nach eindringlicher Forderung des Kindes in allen möglichen Varianten wiederholt. (“Das ist ein Hund. Ja, da, ein Hund. Das ist immer noch ein Hund. Ein Hund, der gleiche. Hund. Wauwau. Huuuhuund.”)

Nicht immer wissen wir die genauen Namen der Dinge (das weite Feld vom Bagger bis zum Radlader) oder können beschreiben, wie sie funktionieren (Der Bagger baggert. Der Radlader … radladert?), aber das macht am Anfang gar nichts. Das Kind soll in Sprache gebadet werden, wenn es noch lang nicht schwimmen kann, und wenn man so ins Erzählen kommt, kommt man manchmal auch ins Schwimmen. Stimmt das eigentlich, womit ich dem Kind gerade das Ohr abgeknabbert habe? Funktioniert die Welt so, wie ich es annehme? Und was nehme ich überhaupt so an?

Als ich einen Monat nach der Geburt des Kindes angefangen habe, Soziologie zu studieren, merkte ich wie das Fach mitschwang, als offene Frage, bei allem, womit ich das Kind volllaberte. Was machen wir da eigentlich, wieso, und was bedeutet das? Mit dem Wissen im Hintergrund: das kann alles so sein, aber auch ganz anders. Von den täglichen Babypflegeroutinen (“Das sind deine Füße. Du hast zehn Zehen und ich auch. Andere Leute haben vielleicht acht.”), über naturwissenschaftliche Phänomene, wie, dass ich Salz erst ins Nudelwasser gebe, wenn es schon kocht, weil es die Siedetemperatur des Wassers erhöht (Was nicht falsch ist, aber albern) hin zu Verhaltensweisen, wie dass wir erst die Leute aus der U-Bahn aus- und dann einsteigen lassen (meine oberflächlich ans Kind adressierte passiv-aggressive Aufforderung an die Leute vor der U-Bahntür. Sorry). Alles benannt, beschrieben, erläutert oder in Frage gestellt.

Außer vielleicht dieser einen Sache. Die ich ausklammerte, so gut es ging. Von der ich mir wünschte, sie würde für das Kind so lang wie möglich keine Rolle spielen: Geschlecht.
Weil ich weiß, dass das, was sich aus Geschlecht herleiten lässt, auf keinem sicheren Fuß steht und Kinder wie Erwachsene ganz schön einengen kann. Weil ich weiß, wieviel Norm und Fiktion dahinter steht. Weil mir Geschlechtszuweisungen bei Kindern ohne Ende auf die Eier gehen. Ich hätte das gerne offen.

Piktogramm rauspicken

Und ließ es offen. Wenn ich vom Kind und zum Kind spreche, verwende ich so gut es geht das grammatikalische Neutrum, bei anderen Kindern richte ich mich danach, was die Eltern vewenden. Wenn ich von Berufen erzähle, greife ich auf männliche und weibliche Formen zurück oder verwende ein allgemeines (z.B. Feuerwehr-)Leute. Oder rutsche in Passivkonstruktionen und erzähle davon, was gemacht wird. Wenn ich beschreibe, wie Leute aussehen, verknüpfe ich das nicht mit ihrem Geschlecht. Aber kann nicht leugnen, dass das, was das Kind täglich sieht, ein Papa mit Bart und eine Mama im Kleid ist.
Während der Papa mit dem Kind auf egal welche öffentliche Toilette geht, wenn das Kind aufs Klo muss, wähle ich immer nur eine und rede ich mich damit raus, dass ich auf die Toilette für Leute mit Kleidern/Röcken gehe, weil ich ein Kleid trage, und nicht auf die mit dem Hosen-Piktogramm. Vor dem Kind kommentiere ich dann, dass das auch eine sehr alberne Aufteilung ist, Toiletten für Hosen und Toiletten für Kleider, tss, so als wüsste ich nichts. (Aber jetzt mal ernsthaft: Toiletten nach Genitalien aufteilen, ist das nicht mindestens ebenso albern?)

Say my name, say my name

Das sprachgebadete Kind fängt jedenfalls irgendwann an, selbst Worte auszuspucken. Es sagt „Das da!“, zeigt mit dem Finger und alles wird von uns benannt. Ein Zauberspruch. Die Geräusche der Tiere werden zu ihren Namen. Und wir stellen uns selbst vor. Ich bin die Mama. Das ist der Papa. Unser Name und der Auftrag, zu dem wir verpflichtet sind.
Dabei hat es ganz schön lang gedauert, bis das Kind das raus hatte, uns ansprechen konnte. Als erstes lernte es Papa zu sagen. Statt zwei unterschiedlichen Eltern mit unterschiedlichen Persönlichkeiten, Frisuren und Internetgewohnheiten wurden wir praktischerweise einfach beide zu Papa.

Ich hatte mir ausgesucht, Mama zu heißen. Auch wenn mir nicht immer behagt, als Mutter adressiert zu werden, ein Begriff aufgeladen mit vielem, das ich nicht bin – vom Kind mit Vornamen angesprochen zu werden gruselt mich mehr. Und ich wollte bitte gerne auch vom Kind als Mama anerkannt werden. Also übten wir. “Das ist der Papa, du bist Toni und ich bin die Mama.” Wir sind eigene unverwechselbare Personen. ToniPapaMama. Schließlich hatte das Kind raus, das wir nicht beide Papa sein können, sondern Individuen, an denen man sich immerhin mit abgeschlagenen Bitten von dem/der einen bei dem/der anderen neu versuchen kann. Der Papa blieb „Papa“. Und ich? Aus mir wurde „Neinpapa“. (Der Versuch, neben “Neinpapa” “Nichtdiemama” als Namen für den Papa zu etablieren schlug leider fehl.)

The Mamas and the Papas

Mit dem Kind in der U-Bahn. Es zeigt auf ein Werbeplakat für irgendeine Businessschool und sagt “Da Papa!” Ich muss schmunzeln. Der Typ auf dem Bild hat zwar auch einen Bart und braune Haare, aber der Vater des Kindes ist kein Master-of-Business-Administration-Hottie. Ich kläre das Kind über seine Verwechslung auf.

Mit dem Kind zu hause. Es blättert sich durch die Mitgliederzeitschrift einer Partei. Zeigt auf das Bild einer Bundestagsabgeordneten und sagt “Der Mama!”. Ich stutze.

Mit dem Kind in der Innenstadt, in einem Schuhgeschäft. Es bleibt vor einem deckenhohen Bild eines Models stehen, im Bikini am Strand, lange braune Haare, Sand an den gebräunten Beinen. Das Kind zeigt auf das Bild, ruft erneut aus: “Der Mama!” Und mir geht ein Licht auf.

Das ist, wie das Kind unterscheidet. Das ist wie das Kind Geschlechterdifferenz sieht und versteht. Es gibt Mamas und Papas. Alle Erwachsenen, fremden Erwachsenen sind „Mamas” und “Papas“. In der Werbung. Im Kindergarten. Auf der Straße. Mamas und Papas, überall. Eine auf einen Schal gestickte Elsa aus Frozen. Definitiv Mama. Das Kind findet Merkmale und sortiert. Ich bin mindestens ein bisschen verblüfft.

Wann haben die Kinder, die ihr beim Aufwachsen beobachten konntet, Geschlechterdifferenz(en) gecheckt?
Und woran habt ihr das gemerkt?

3 Antworten zu “Kind und Geschlechterdifferenz”

  1. Esther Uiuiui sagt:

    Hallo,

    mein Kind ist 3,5 Jahre alt. Seit es so 8 Monate alt war, habe ich mit Babyzeichensprache angefangen. Ich hätte auch gern Gebärdensprache mit dem Kind gesprochen, doch leider kann ich die nicht. Also habe ich mich mit den Bilderbüchern für Babyzeichensprache beholfen und wir haben uns immer wieder die Bücher angeguckt und ich habe die Zeichen gemacht. Als das Kind 12 Monate alt war, begann es die Babyzeichen zu benutzen. Es wollte etwas haben, ich wusste nicht was und dann kam das Handzeichen für Milch. Danach ging es sehr schnell und wir hatten bald einen Wortschatz in Babyzeichen von ca. 30 Begriffen. Das meiste betraf Nahrungsmittel: Fleischwurst, Käse, Brot, Saft, Wasser, Milch. Aber auch Hund und andere wichtige Dinge der Umgebung wurden bezeichnet. Wir beide Eltern und unser Hund wurden jedoch mit Mama, Papa und unser Hund mit einem Spitznamen bezeichnet, also in Verbalsprache und nicht mit Zeichen. Oma und Opa hatten jedoch auch BabyHandzeichen und als das Kind 18 Monate alt war, wurde sehr deutlich, dass es Männer und Frauen unterscheiden kann und auch durchaus nach Alter. Denn ab einem bestimmten Alter wurden die Menschen mit dem Oma oder Opa Handzeichen bedacht, statt mit dem Mann und Frau Handzeichen. Ich muss sagen, dass ich äußerst beeindruckt war, an welchen Details das Kind erkennen konnte, ob es sich bei den alten Menschen um einen Mann oder eine Frau handelt. Wenn wir nämlich im Altenheim waren, wo wir stets in der Demenzabteilung sind und die Unterschiede sehr verschwimmen, da reichten dem Kind kleine Details, um dennoch eine korrekte Zuordnung machen zu können: z.B. Ohrringe, bestimmte Muster, die auf mich recht neutral wirkten, aber bei genauerem Nachdenken doch nur Frauen tragen, Hausschuhe in einer Form, wie es sie von Opa kannte. Aber, bei aller beeindruckender Fähigkeit mit 18 Monaten bereits das Geschlecht ziemlich gut erkennen zu können, gab es auch immer wieder Situationen, wo das Kind vollkommen daneben lag, je jünger die Menschen sind, desto schwerer fällt es dem Kind, es hatte gelinde gesagt bei jungen Leuten eine 50:50 Chance das Geschlecht korrekt zu erkennen und ich habe es auch nie korrigiert, sondern das was das Kind mir in Handzeichen erzählte stets mit echtem Interesse verfolgt. Junge Menschen bis Mitte Ende 20 wurden relativ häufig dem falschen Geschlecht zugeordnet, bis heute gibt es da noch falsche Zuordnungen. Ich finde das aus dem Punkt heraus ziemlich witzig, als dass ja ältere Menschen sich auch häufig beklagen, dass man das Geschlecht von jungen Leuten häufig nicht mehr eindeutig genug erkennen könnte. Den jungen Menschen selbst fällt das aber meistens überhaupt nicht schwer. Aber aus der Welt meines Kindes heraus, das recht wenig Kontakt mit Teenagern hat, aber viel Kontakt mit alten Menschen, sind eben die zurecht geföhnten Frisuren und die bunten engen Hosen der männlichen Teenager ziemlich weiblich. Auch Piercings konnten als Zeichen von Weiblichkeit missdeutet werden. Da half auch zuweilen selbst ein Bart nicht. Als das Kind zwei Jahre alt wurde, starben die Babyhandzeichen komplett aus und die Verbalsprache übernahm das Ruder. Es kam in den Kindergarten und dort findet selbstverständlich immer wieder eine sehr deutliche Zuordnung statt. Die Kinder werden selten als Kinder, sondern häufig als Jungen und Mädchen bezeichnet. Da dürfen die Mädchen zuerst rausgehen. XY ist schon ein großer Junge oder ZX noch ein kleines Mädchen, etc. Das Kind kannte es aber von mir, dass ich, wie Du, Kinder stets nur als Kinder bezeichnete. Die Begriffe Mädchen und Junge kannte es jedoch von allen Verwandten, inklusive Papa, die es alle so intensiv nutzen, wie es bei uns eben üblich ist. Das Kind ist jetzt ein Jahr im Kindergarten und ich würde es ein Jahr Geschlechtserziehung nennen. Am Anfang hat sich das Kind lange dem falschen Geschlecht zugeordnet (ich verwende das hier ganz im traditionellen Sinne, der Verständlichkeit halber). Es konnte das Geschlecht vieler Kinder nicht richtig zuordnen. Jetzt nach einem Jahr hat es das mühelos drauf. Aber es hat nicht die geringste Ahnung von der Konstanz der Geschlechtszugehörigkeit. Es fragt mit, ob D. der jetzt ein Junge ist, als Baby noch ein Mädchen war. Es fragt mich, ob ich später mal ein Papa werden könnte. Es fragt mich, ob Papa auch eine Gebärmutter hat und schwanger werden kann. Und wenn nicht jetzt, dann vielleicht später? Es vermutet, dass Oma als Kind noch ein Junge war. Und solche Aussagen macht es ständig.
    Es weiß um die Zusammenhänge zwischen Geschlechtskategorie und primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen. Aber es weiß nicht, dass diese in aller Regel statisch sind. Es hat ein irrsinniges Interesse für Schwangerschaft, Geburt und Babys, aber es glaube bis vor kurzem noch, das Babys weder Jungen noch Mädchen sind. Nur die intensive Aufklärung der Umwelt führte dazu, dass dieses Wissen jetzt verankert ist. Ich beobachte das alles mit Schmunzeln und ich finde besonders diese beflissene Hektik der Menschen das Kind über die korrekten Zusammenhänge der Geschlechter aufzuklären, sehr interessant. Denn wie schon geschrieben: ich neige überhaupt nicht dazu die Sprache des Kindes zu korrigieren, denn es lernt durch die Praxis sowieso alles Notwendige. Als wir im Zoo waren und das Kind ein Nashorn als „Einhorn“ bezeichnete und ich das nicht korrigierte, brachte dies eine Mutter, die mit uns unterwegs war immens gegen mich auf. Sie wartete nur wenige Sekunden, ob ich meinem Kind diesen Fehler aufzeige und schüttelte dann empört den Kopf und machte sich selbst ans Werk: „Sag mal, ist das wirklich ein Einhorn?“ mein Kind: „Ja, das ist ein Einhorn, guck, hat ein Horn.“ „Was sagst Du denn?“ fragte sie ein anderes, älteres Kind. Das klärte sofort bereitwillig auf es handle sich um ein Nashorn. „Siehst du.“ resümierte sie zu meinem Kind „Das ist kein Einhorn, das ist ein Nashorn.“ Mein Kind bliebt sichtlich unbeeindruckt von dieser ganzen Belehrung und sagte den ganzen Tag weiter munter Einhorn zum Nashorn. Ich korrigierte das Kind weiterhin nicht, was mir jedes mal einen sehr bösen Blick der anderen Mutter einbrachte, die sich sowieso bei jedem Zusammentreffen fragt, wieso man mir das Kind nicht längst entzogen hat, so sehr wie ich mich der ständigen sprachlichen Korrektur meines Kindes verweigere. Ich kann sie jedoch beruhigen: Als wir einige Monate später wieder im Zoo waren, da wurde das Nashorn sofort und ohne Zweifel als Nashorn bezeichnet. Und ich selbst bezeichne die Dinge immer korrekt, würde also nie ein Nashorn als Einhorn bezeichnen, oder dem Kind sagen, dass ein Mensch, der mir als Mann erscheint eine Frau ist. Aber ich sage dem Kind auch ehrlich, wenn ich eine Differenz nicht erkennen kann. Im Altenheim weiß ich nämlich zuweilen auch nicht, ob es jetzt ein Mann oder eine Frau ist und als das Kind mich dann fragte, sagte ich: „Du kannst ja mal nachfragen, ich weiß es nicht.“ Auf die Frage: „Bist Du ein Opa?“ kam die Antwort „Ich habe keine Enkelkinder.“ was das Kind vollkommen zufrieden stellte, obgleich wir immer noch nicht wussten, welches Geschlecht dieser Mensch für sich beanspruchte.

    Kinder wachsen in diese Welt hinein und saugen sie in sich auf, wie ein Schwamm. Sie sind unglaublich talentiert darin, soziale Zeichen aller Art zu erkennen und zu deuten. Sie haben ein immenses Bedürfnis Teil des sozialen Lebens zu sein und zu verstehen, was vor sich geht. Wie auch bei meinem Hund, wundere ich mich beim Kind sehr oft, welche Details es beachtet, welche winzigen Zeichen, die mir selbstverständlich erscheinen oder die ich gar nicht bemerke, es wahrnimmt und daraus seine Schlüsse zieht. Ich glaube Lebenwesen, die der Sprache (noch) nicht so mächtig sind, konzentrieren sich eben auf andere Dinge, die wir nicht mehr zu beachten brauchen, weil unsere intensive sprachliche Kommunikation deren Beachtung überflüssig macht. Und diese Phase des Sprachlernens ist bei Kindern so interessant, weil man damit ein Zeitfenster hat etwas von der weniger sprachlich gestalteten Denkwelt zu erfahren, die uns ja total fremd ist, weil wir eigentlich meistens nur noch unsere sprachlichen Denkprozesse bemerken. Und so fällt mir auf, das Kategorien eben nicht zwingend mit verbalsprachlichen Zeichen einhergehen und dass höhere Lebewesen offenbar eine Neigung dazu haben, Kategorien zu bilden. Und selbstverständlich beziehen sich diese Kategorien auf die Lebenswelt, in der sich das Lebewesen befindet. Unser Hund zum Beispiel kann unterscheiden zwischen einer Hundedecke und einer Menschendecke. Ich mache nämlich immer wieder Versuche die Sitzplätze, die wir mit dem Hund teilen, an den Stellen wo er sitzt vor seinen Haaren zu beschützen. Aber wenn ich dort eine Hundedecke hinlege, dann wird die im nächsten unbeobachteten Moment weg geschoben. Wenn aber auf dem Sofa (ja unser Hund darf aufs Sofa…) eine Menschendecke liegt, dann wirft sich der Hund da mit Freude drauf, das ist dann sofort ein Lieblingsliegeplatz auf der Menschendecke, oh so toll, ich merke dann richtig, wie sich der Hund freut, darauf zu liegen. Dann dachte ich früher ganz oberschlau: ‚Haha, ich mache einfach eine benutzte Menschendecke (also mit Menschengeruch) zu einer Hundedecke. Hund ausgetrickst.‘ Aber der Hund bemerkt den Wechsel der sozialen Funktion dieser Decken sehr schnell und dann werden sie auch vom Sofa geworfen. Dürfte unser Hund aber gar nicht aufs Sofa, sondern hätte nur seinen festen Hundeplatz oder den Boden zum Liegen, dann wären diese Kategorien für ihn irrelevant und er könnte sie wahrscheinlich auch nicht unterscheiden. Dann wären Decken eben genau wie andere Stoffe nur irgendwelche Menschensachen, die er nicht berühren darf.
    Bei einem Kind sind diese Kategorisierungsprozesse selbstverständlich anders und auch viel umfassender, als beim Hund. Ich staune dann darüber, wie Sprache hilft Erfahrungen auszudifferenzieren. Beispielsweise Zeitverständnis: Ich kann beim Hund da nicht so besonders viel zu sagen, aber ich merke, dass er sich an Menschen erinnern kann, die er sehr lange nicht mehr gesehen hat (und auch an andere Hunde). Aber im Alltag kann ich an der Freude, die er zeigt, wenn ich wieder komme, merken was für ein Zeitgefühl er hat. Ob ich eine halbe Stunde oder fünf Stunden weg bin, macht für den Hund kaum einen Unterschied. Aber fünf Minuten oder 30 Minuten sind ein Unterschied. Mehr als 7 Stunden ist ein Unterschied. Etc. Das Kind, das bis vor kurzen nur Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kannte, fängt jetzt, da es grammatisch ein kompetenter Sprecher ist, an die Zeiten zu differenzieren. Es unterscheidet zwischen gestern und früher, zwischen Morgen und übermorgen und noch ganz lange hin. Es beginnt den Plusquamperfekt zu benutzen, weil sich das zeitliche Erleben der Vergangenheit ausdifferenziert. Es ist so interessant, ich freue mich jeden Tag darauf, das beobachten zu dürfen und zu sehen, wie das Kind sich die Welt aneignet.
    So viel zu meinen Beobachtungen.

    Viele Grüße
    Esther

  2. Orthodiagonal Jawed Hun sagt:

    Danke, vielen Dank für den Text! Das ist der Text, den ich auch schon lange schreiben wollte… Aus ähnlichen Gründen wie du hab ich irgendwann angefangen, ähnlichen Überlegungen nachzugehen. Im Ergebnis achte ich vor allem sehr stark darauf, statt „das ist“ „das nennt man“ oder „das heißt“ zusagen. Deutlich machen, dass die Dinge und Wesen nicht ihre name tags sind. Dann können andere das anders nennen und das macht gar nichts. Hilft für Dialekte, Sprachen, Denkmuster… Wenn es dann mal nicht mehr nur Pflegekinder sind, möchte ich trotzdem „Dodo“ bleiben – ohne Artikel, wie das in meinem Herkunftsdialekt ohnehin standard ist. Eben gerade, um nicht all die Erwartungen und Klischees immer wieder in mir wachgerufen zu bekommen. Um ich zu bleiben und den anderen, neuen Menschen als jemanden zu betrachten, um den ich mich kümmere, für den ich da bin, der lange Zeit auf mich angewiesen ist, mir aber nicht gehört, oder untersteht, oder an dem ich irgendein Recht hab. Der mir irgendwas schuldet. Ich will nicht „die Mama“ sein – jedenfalls nicht mehr, als mich das Kind von sich aus dazu macht. Auf das Experiment freue ich mich, kenne gute „Ergebnisse“ aus dem Bekanntenkreis. Nur auf den Kampf mit der Verwandschaft (wie bei so vielen anderen Dingen auch) freue ich mich nicht unbedingt.

    Zu deiner Frage: Das Kinder anfangs manchmal lange nicht zwischen Papa und Mama unterscheiden, bemerke ich öfter.
    Erst neulich in der Bahn:
    Kind (1,5) zum Lebensgefährten der Mutter: „Mama!“
    Mama zum Kind: „Ron-nie!“
    Kind zu Mann: „Maaa-ma!“
    Mama zum Kind: „Roooon-nie!“
    :D

  3. Ka sagt:

    Jawoll. Besonders lang angehalten hat bei meinen drei die immer wiederkehrende Unterhaltung darüber das nicht alle Menschen auf der Welt Mamas und Papas sind. Das nicht alle großen Leute Kinder haben. Das haben besonders die beiden kleinen (Zwillinge) lange absonderlich gefunden und misstrauisch beäugt. Tatsächlich werden diese Themen sehr viel diskutiert bei uns da mein einer Sohn sehr gerne Kleider trägt und tief empört ist wenn ihn jemand aus diesem Grund als „Mädchen“ betitelt. Für ihn unverständlich das andere große Menschen so schnell urteilen nur aufgrund eines Kleidungsstückes.