Kind und Dementor

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Zu Kindern gibt es viel interessantes Zeug zu erzählen. Das Glück, dass ich mit einem Kind zusammenwohne und Zeug erzählen kann. Ein neuer Teil unserer Kinderkolumne. Hier findet ihr Teil 1, 2, 3, 4, 5, 6 und 7.

Seit ich ein kleines Kind großziehe, oder zumindest dem Kind beim Wachsen die Hand hinhalte, verhalte ich mich viel vorbildlicher, als wenn ich mich allein wähne. Nicht bei Rot über die Ampel gehen (oder nur, wenn auch wirklich kein Kind guckt Auto kommt), nicht mit der Zunge den Teller ablecken (es sei denn, es ist wirklich lecker), und nicht ins Bett gehen, ohne Zähne zu putzen. Oder: das Kind nicht ins Bett bringen, ohne mit dem Kind die Zähne zu putzen. Meistens. (Seufz.)

Zähne putzen, zähne putzen,
das wird meinen Zähnen nutzen

Als ich mich im Alter des Kindes befand, war das jedenfalls noch nicht üblich. Zähneputzen lernte ich erst in der Grundschule, und mit Songs von Rolf Zuckowski auf einer überspielten Audiokassette. Dachte ich jedenfalls, bis ich für diesen Text recherchierte und herausfand, dass dieser Song auf der Kassette “Nicole Vorklasse” nicht vom Zuckowski-Rolf ist. (Ich habe leider mein Audiokassettendigitalisiergerät nicht gefunden, sonst dürftet ihr das in seinem über 20 Jahre alten Krachen und Knacken hören.)

Bei Lyrics wie “Wenn ich morgens früh aufstehe und ins Badezimmer gehe / denke ich sogleich daran, was ich jetzt wohl machen kann” dachte ich als Kind schon in etwa “as if!” Und bin im Nachhinein ganz froh drum, dass meine Cis-Mutter damals nicht unter dem Druck stand, auch noch erzwingen zu müssen, dass ich mir als Kleinkind ordentlich die Zähne putze.

Mit der Zeit ändern sich Normen. Gewalt in der Kindererziehung wurde nach meiner Grundschulzeit (endlich) eindeutig gesetzlich verboten und Zähneputzen sollen kleine Kinder heute bereits ab dem Moment, wenn erste Zähnchen sprießen. Oder eher: Zähne geputzt bekommen. Das gerne auch vorher schon mit einer Fingerzahnbürste, die das Zahnfleisch massiert. Mein Kind bekam die erste richtige Borstenbürste mit etwa 5 Monaten, Zähneputzen war da die unspektakulärste Sache der Welt. Ein halbes Jahr später lernte es laufen und rannte abends freudestrahlend ins Bad, um Zähne zu putzen. Und dann freudestrahlend zum Bett, um zu schlafen. Nein, ich scherze nicht. (Und ja, ihr dürft mich jetzt hassen.)

Ich kann nicht sagen, ich hätte die Zähne des Kindes blitzblank poliert, ich dachte vor allem: super, wenn es sich dran gewöhnt und dann auch gerne putzt, Jackpot. Bis es anfing, die Bürste selbst halten zu wollen. Selbst putzen zu wollen. Genauer gesagt: Selbst die Zahnpasta aus der Bürste zu saugen, dann die Bürste unter fließendes Wasser zu halten und das Wasser aus der Bürste zu saugen und die Bürste wieder unter das Wasser zu halten und das Wasser aus der …

Rien n’est va plus

Seitdem wohnt ein Dementor in unserem Badezimmerschrank. Wenn ich den Schrank öffne, um dem Kind die Putzutensilien zu reichen und auch mir eine weiße Wurst auf die Bürste zu drücken, weil ich ja mit gutem Beispiel vorangehe, merke ich, wie mir flau im Bauch wird. Je enthusiatischer und vergeblicher ich “Schrubben, schrubben!” in Richtung des Kindes im Badezimmerspiegel rufe, umso schwächer werde ich, müde und leer. Jeder Versuch, das Kind dazu zu bewegen, mit der Zahnbürste Dinge zu tun, die potentiell zu saubereren Zähnen führen, also “richtig” zu putzen, zieht Lebensenergie aus mir heraus, aus der Luft um mich herum werden Hoffnung und Glück gesaugt. Besonders, wenn ich daran denke, was passiert, wenn ich an Kindes statt versuchen würde, dessen Milchzähne zu schrubben. Die Müdigkeit beim Gedanken, mit Kind auf den Spielplatz zu gehen ist ein Witz dagegen. Ich werde mental zu einem schlaffen Sack, der wie in Cartoons zu Boden segelt.

Was passiert eigentlich genau, wenn ich versuche, dem Kind die Zähne zu putzen, weil mussja?
Well… hell hath no fury like a toddler rejecting a toothbrush.

Wie Kleinkinder sich wütend wehren, mag eine Inspiration für den Film Der Exorzist gewesen sein. Ich kann das nicht überprüfen, weil ich Horrorfilme nur mit zugekniffenen Augen gucken kann, aber so stelle ich mir das zumindest vor. Das Kind sackt zusammen, wird schwer und schlaff, hält trotzdem eine immense Körperspannung. Sehr ähnlich dem Trotzyoga, klassifiziert und skizziert von Das Nuf. Dabei wird dieses Kind zum Butterweichen Mehlsack und beim Versuch es zu halten, damit es nicht vom Hocker stürzt, zum Schwebenden Bogen, der gleichzeitig in alle Richtungen schwingt; der Kopf schlägt währenddessen automatisch hin zur von der Zahnbürste entferntesten Position. Wenn ein Schrank in der Nähe ist, schreit das Kind nicht nur (Oh, habe ich noch nicht erwähnt, dass es dabei auch schreit wie am Spieß?), weil es das nicht will, sondern auch vor Schmerzen. Fun times!

Dem Kind gegen seinen Willen die Zähne putzen, das geht nicht. Ich habe nicht die Kraft. Ich habe alleine nicht ausreichend Hände, um ein Kind, das nicht will, in dieser Situation zu bändigen. Wenn Kleinkinder etwas perfekt beherrschen, dann ist das passiver Widerstand. (Wie sie die Welt gemeinsam aus den Angeln heben könnten, würden sie sich nur alle organisieren.)
Ein Konflikt, von dem Barbara schon schrieb; Ich habe Verantwortung für die (Zahn-)Gesundheit des Kindes habe, aber ich will die körperliche Selbstbestimmung meines Kindes respektieren, es ernstnehmen, wenn es “Nein” sagt und nicht angefasst werden möchte. Aber putzen müssen wir ja. Jeden Tag. Eigentlich mehrmals. Das macht so keinen Spaß.

Und wie effektiv ist Zähneputzen ohne Vergnügen, gegen den Willen eines Kindes? Was ist die Langzeitwirkung über Paradontoseprophylaxe hinaus, ein Kind zu zwingen, das sich wehrt? Mit all seiner Körperkraft, vergeblich? Oder ich mit all meiner, vergeblich? Die Ohnmacht. Will ich das eigentlich?

Hell to the no. Und mal auf die Eckzahnspitze gebracht: selbst wenn ich das Kind, das nicht will, in einen Schraubstock bekäme (figurativ), dass es weiter weder sich noch mich verletzte, den Körper, den Kopf festhielte, wie bekäme ich dann den Mund auf, hm? Und dann die Zähne geputzt, schön sauber? Am besten den Zahnpastamund gleich mit den Tränen des Kindes auswaschen. /Zynismus off

Expecto Patronum

Wenn das Kind jedoch selbst schrubbt, steh ich jubelnd daneben. Dafür braucht es immer neue Tricks. Früher konnte ich das Kind nach Tiergeräuschen abfragen; besonders gut funktionierte “Wie macht der Löwe?” Während es “ROAAAR” antwortete, steckte ich schnell die Bürste in den Mund und schrubbte, was ging. Das hatte das Kind leider nach kurzer Zeit durchschaut. Momentan funktioniert es gut, wenn wir uns beim Schrubben gegenseitig mit Zahnpastaschaum anspritzen und ich clownige Geräusche und Gesichter dabei mache. Da darf ich schon mal die Bürste des Kindes in meine Hand nehmen, so lang ich nur den Schmodder zu mir hin spritze und überrascht tue. Oder Youtubevideos. Funktionieren so mittel, weil das Kind eigene Programmwünsche hat (“Hui husch husch!”, “Bitte Baby Bom!”), dafür gibt es Schätze zu finden, die immerhin mich visuell amüsieren. Im Ernst, das ist Gold:

(Musikalisch bin ich mehr diesem hier zugeneigt.)

Wie sauber die Zähne letztendlich jedes mal werden, kann ich nicht genau sagen. Kein Kontrollblick, kein Nachputzen, erst Recht kein Todeskuss. Wann immer ich mich darauf konzentriere, welches Ergebnis das Putzen haben soll, nicht wie wir ohne Verluste da durch kommen, während das Kind genießt, es irgendwie selbst zu machen, kriecht er wieder heran, mein Dementor, mit rasselndem Atem. Stresst mich so, dass ich das Kind stresse, und das Kind wieder mich. Dann gebe ich lieber auf, mit einem deprimierten Seufzen. Allein, weil der Dementor mich so müde macht, könnte ich nicht erzwingen, dass jedes Zähnchen blinkt und blitzt. Aber wenn das Kind schließlich im Bett ist, nach dem ich schon am Boden, auf meinen Knien war, um ihm auf Augenhöhe gespielt euphorisch was vorzuputzen, muss ich erst mal ein großes Stück Schokolade essen, bis das Leben und die Wärme wieder in mich fließen. Und bevor ich selbst schlafen gehe, putze ich mir nochmal gründlich die Zähne. Meistens. (Seufz.)

Jetzt mal ganz ehrlich: wie funktioniert Kleinkinderzähneputzen bei euch? Habt ihr Tipps?
Und was sind eigentlich eure ganz eigenen Dementoren in Sachen Kindererziehung?

8 Antworten zu “Kind und Dementor”

  1. Hannah sagt:

    ich glaube der Oberdementor in der Kindererziehung ist der Anspruch ES (ALLES!!11!1!) richtig** „machen“ zu müssen (aka: sollen)
    Denn eigentlich „macht“ man als Elter nichts weiter als zu bestimmen und zu definieren, obwohl man eigentlich eher andere Eltern nachmacht und bestimmte Definitionen überträgt. Ich mag deshalb auch deine Kolumne hier sehr gern, weil sie das sehr gut zeigt. Einerseits gibt es Wissen und Vorstellungen um „was gut/richtig/wichtig ist“ und andererseits das Bewusstsein, wie groß Überlegenheit und Macht gegenüber dem Kind ist und daneben noch die Verantwortung, die getragen werden will.

  2. Barbara sagt:

    Ich versuche unsere Tochter (3) soviel wie möglich allein entscheiden zu lassen. Also welche Zahnbürste (elektrisch oder Handzahnbürste), welche Zahnpasta (ja wir haben 2 oder 3 zur Auswahl), wo (Bad, Kinderzimmer, Schlafzimmer) und wann. Meistens ist es so, dass sie im Moment dann spielt und ich sie bitte doch Zähne zu putzen, wenn sie soweit ist. Was vorher half, war die Angstgeräusche der „Zahnmonster“ nachzumachen („Hiiilfe die Zahnbürste kommt, ahhh ich werde weggeputzt“). War aber anstrengend, wenn meine Laune schlecht war oder die Geduld wenig.
    Sie darf auch mal Süssigkeiten essen und oft stehe ich dann auf und sage ‚Ok, dann putzt du heute keine Zähne, aber es gibt dann keine Schoki, keine Kekse, keinen Saft.‘
    Häufig ist es morgens und abends aber auch schwierig und sie verweigert. Das komische ist, wenn ich dann sage, dass wir es dann halt lassen, will sie doch Zähne putzen.

  3. Barbara Vorsamer sagt:

    Ich kenne diesen Konflikt, wie ihr ja hier http://kleinerdrei.org/2015/05/duerfen-wollen-muessen-ueber-erziehung-und-consent/ nachlesen könnt. Und ich kann berichten: Es geht vorbei. Mit inzwischen 4,5 Jahren hat meine Tochter akzeptiert, dass Zähneputzen zum Programm gehört. Nicht, dass wir keine Wutanfälle und keinen Streit mehr hätten – aber darüber schon lange nicht mehr.

  4. Evchen sagt:

    Bei uns klappt es gut mit Rollenspielen, also der Kasperle oder der Stoffhund putzen oder mein Sohn ist selber der Kasperle, Hai oder sonst was. Wir haben seit längerer Zeit die sprechende Zahnbürste eingeführt, das läuft seit Wochen wie geschmiert ;) die hat nämlich keine Lust Zähne zu putzen, ist zu müde oder will spielen und da wird mein Sohn dann ganz streng… Doch du musst aber sagt er dann… Da sind doch Bakterien im Mund (hört, hört…) und dann putzt die trotzige Zahnbürste widerwillig drauf los, und wehe sie vergisst einen Zahn. Das Highlight ist dann wenn er ihr auf den Kopf beißen darf…
    Bin froh dass das solange gut klappt, hatten ja auch schon einige Badezimmer kämpfe hinter uns.
    Euch allen weiterhin gute Nerven beim allabendlichen Endspurt

  5. Jasmin sagt:

    Tochter1 (3) wird mit Vorlesen „erpresst“ und darf im Bett die Zähne geputzt bekommen bevor es ans Geschichten lesen geht. Das klappt gut zumal ich ein paarmal erschrocken geschrieen habe ich hätte Karius und Baktus in ihrem Mund gesehn und die sollen natürlich weg. Tochter2 (17 monate) is da ne ganz andere Hausnummer… die lässt sich nicht umkaufen und wehrt sich wie oben beschrieben (habe Tränen gelacht über den „schwebenden Bogen“)… Beim wickeln ihr selber die Bürste in die Hand geben und ab und an mal schnell schrubbeln ohne ne Wutattacke zu provozieren. Vorm Spiegel ganz laut AAAAHHHH brüllen und auch da nochmal schnell schrubbeln und dann wird meist ermüdet aufgegeben (meinerseits wohlgemerkt) und gelobt man sich Besserung für den folgenden Tag…. Ich hoffe der Tag kommt irgendwann… ;-)

  6. Almut Helvogt sagt:

    Bei uns wurde es besser, als im Kindergarten die Zahnärztin vom Gesundheitsamt zur Prophylaxe kam. Da wurde geübt und das hat unsere Tochter auch zu Hause begeistert nach gemacht. Davor habe ich auch ungenügendes Selber – Putzen durchgehen lassen. Besser der Spaß bleibt erhalten und dafür ist nicht immer jeder Zahn blitzeblank, als dass mit Zwang jede Bereitschaft zum Putzen für lange Zeit ausgetrieben wird. Wie so oft bei Kindern ist weniger Perfektionismus oft mehr.

  7. Giliell sagt:

    Neben dem Putzen im Kindergarten half bei uns auch einfach konsequente Abläufe einzuhalten. Also z.B. nach dem Sandmann Zähne putzen und dann Gute Nacht Geschichte. „Ich will aber keine Zähne putzen!!!“ Na dann gute Nacht. „Aber die Geschichte!“ Gibt’s nach dem Zähne putzen. Sicher hat das ein oder andere Kind da auch das ein oder andere Mal auf die Geschichte verzichtet, aber in der Regel zog das dann doch ganz gut.

  8. Antje Müller Meyer Lehmann sagt:

    Hier (2,5) wird auch nur nach Laune selbst geputzt. Habe mich damit abgefunden und streiche lieber Zucker aus der Familienkost, da das putzen & fluoridieren bei mir den Süßigkeitenkonsum auch nicht ungeschehen gemacht hat. Bin also entspannt und freu mi wenns mal klappt die vollgeschmierte Zahnbürste nicht ungenutzt zurück legen zu müssen.. :)