Kleinerdreinachten

Foto , CC BY-NC-SA 2.0 , by meltsley

Weihnachten! Seien wir ehrlich: das alljährlich alltags- und lebensbestimmende Fest kommt für viele nicht als magische Zeit daher, sondern als Belastung. Da sollen bergeweise Geschenke gekauft und Familien und Liebste glücklich gemacht werden, alle sollen sich freuen, alle sollen sich vertragen, alle sollen sich in das perfekte Bild einpassen, was die Werbe- und Konsumgüterindustrie, Fernsehen und Filme uns von Weihnachten zeichnet: besinnlich, großzügig, dankbar, familiensinnig… Das sind Erwartungen, die oft nur schwer zu erfüllen sind und die viele von uns frustriert, gestresst, einsam oder ausgeschlossen zurücklassen.

Was tun? Weihnachten abschaffen? Weihnachten reformieren? Nun, zumindest für dieses Jahr gilt so oder so: Weihnachten kommt. Und zwar morgen. Gerade noch Zeit, mit euch unsere persönliche Weihnachtsgeschichten und -strategien zu teilen. Was wir Weihnachten vielleicht doch abgewinnen können, welche Erinnerungen wir damit verbinden, wie wir das Fest auf unsere Weise begehen – oder eben nicht.

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Lena

Ich feiere kein Weihnachten. Dafür gibt es einige Gründe, und, um es kurz zu machen: ich mag das so. Weihnachten, das ist für mich daher vor allem die Zeit, in der die Twitter-Timeline und der Feed-Reader leerer sind, die Geschäfte eben früher schließen als sonst und mein Freundeskreis mit Familie beschäftigt ist. Aber, ehrlich gesagt, ein wenig seltsam ist es schon. Bisweilen schleicht sich trotz allem ein wenig Wehmut ein, ein klitzekleiner Moment mit dem Gefühl, nicht dazu zu gehören. Seltsam, wo mir doch Weihnachten tatsächlich recht egal ist. Besonders häufig kommt dieses Gefühl an Heiligabend bei einem kleinen Spaziergang durch den Kiez, wenn alle Fenster heller erleuchtet sind als sonst und niemand mehr draußen ist.

Vorletztes Jahr habe ich aus dieser Zeit eine „Me-Time, Special Edition“ gemacht: eine Runde mehr Zeit für mich. Ich habe meine Lieblingsgerichte gekocht und ab dem 23. fünf Tage damit verbracht, zu kochen, zu backen, und ansonsten im Bett zu liegen und alle Staffeln „How I met your Mother“ zu gucken.

Letztes Jahr hatte ich keine Zeit, Pläne zu machen, und machte mich auf in eine Bar, als ein Freund schrieb, er habe soeben die Bescherung im Familienkreis überstanden und wäre jetzt bereit für eine Bar. Er hatte davon gehört, dass es bei mir zuhause Getränke aus Marmeladengläsern gibt und er hatte mir sogar ein Weihnachtsgeschenk mitgebracht: eine Tafel Schokolade und – ein großes Marmeladenglas, gefüllt mit Rotwein. Den Rotwein tranken wir noch auf dem Weg zur Bar, was folgte, war eine sehr schöne Kneipennacht. Ich mag das Publikum, das in Bars und Kneipen anzutreffen ist an Tagen wie diesen, wenn alle anderen bei ihren Familien sind. Zurück bleiben die Übriggebliebenen, die keine Familien haben oder nicht mit ihnen feiern, weil sie es nicht wollen oder nicht können. Diese irgendwoher Versprengten landen dann in Bars und Kneipen, trinken, rauchen, reden, kommen miteinander ins Gespräch, der Wirt gibt bisweilen eine Runde aus und niemand singt ein Weihnachtslied. Aber auf eine bestimmte Weise haben sich alle besonders gern. Weil sie wissen, dass alle anderen außenherum feiern, und sie hier alle gemeinsam für eine Nacht ein Stückchen weniger alleine sind.

Annika

Rituale sind etwas wichtiges. Wir Menschen brauchen Rituale, die haben für mich persönlich weniger mit Religion zu tun. Sie bedeuten für mich “sich Zeit nehmen”. Den Alltagsstress austricksen und bewusst Zeit mit Freund_innen, Familie und mir selber verbringen. Auch an Weihnachten gibt es kleine Rituale für mich.

Eine Tradition ist das Lussekatter backen, es gehört schon eine Weile zu Dingen, die ich in der Adventszeit mache, meine Tante aus Schweden hat es mir beigebracht. Ein anderes Ritual/Spiel spiele ich mittlerweile mit vielen Freund_innen – “Wer hört ‘Last Christmas’ als Letze_r”. Dabei geht es darum, wer es schafft, bis Heiligabend nicht “Last Christmas” zu hören. Man glaubt gar nicht, welche skurillen Situationen dabei entstehen, wenn man sich plötzlich beim Einkaufen die Ohren zu halten muss, während man diverse Dinge auf dem Arm balanciert oder auf dem Weihnachtsmarkt mit Ohren zu und laut “lalala” singend in der Menschenmasse steht.

Seit der Scheidung meiner Eltern ist Weihnachten anders. Ich habe lange bei Freund_innen gefeiert, weil ich schwer aushalten konnte, dass ich jetzt zwei verschiedene Zuhause habe. Vielleicht sind mir kleine eigene Rituale deshalb so wichtig geworden, weil sie etwas ersetzen, was ich so nicht mehr habe. Mittlerweile bin ich eine Weihnachtsspringerin und feiere abwechselnd mit meinen Eltern und es ist mit ein paar Jahren Abstand weniger schlimm, sondern auf seine eigene Weise schön.

Lucie

Früher war mehr Lametta? Nein. Lametta gab es an unserem eher traditionellen Familienbaum mit Holzfiguren-Anhängern nie. Früher war dafür mehr Streit. Meine Kindheitsweihnachtserinnerungen sind durchaus heimelig – meine Schwester und ich in festlichen Kleidern, meine Schwester und ich begeistert vor neuen NES- und Supernintendo-Spielen, ein Kamin mit Feuer, Baum mit echten Kerzen und einem hellen Glöckchen. Aber die Angst vorm Streit, vor lauten Worten, das mulmige Gefühl im Bauch, das Beobachten, das Befürchten, die Beklemmung, das schloss die Heimeligkeit auch mit ein, wie ein Schatten – und den Streit, der dann oft auch kam. Aber dann waren die Kerzen schon aus.

Erst mit dem Älterwerden, den Lebenskrisen, mit Umzügen und Beerdigungen hat sich das gewandelt: auf einmal ist vieles sehr relativiert. Dem Streit und der Angst auch nur eine weitere kostbare Sekunde zu opfern, macht einfach keinen Sinn mehr. Viele Dinge nimmt man einfach nicht mehr so wichtig. Und das ist gut. Auf einmal fingen wir an, uns gegenseitig für die Jahre zu entschädigen, die verloren gegangen sind an Streit und Angst. Auf einmal wurden wir entspannt. Auf einmal wurden wir albern. Unser Weihnachtsbaum ist heute ein buntes, glitzerndes Sammelsurium.

So habe ich entdeckt, was ich dem merkwürdigen Fest zugute halte: es schafft diesen Zeitkorridor, in dem – zumindest für einige von uns – alles ein bißchen ausgebremst ist. Dieser „jetzt mal alle kurz anhalten“-Moment. Das gibt ein bißchen Zeit, um zu gucken, was uns eigentlich wichtig ist. Zusammen mit Menschen, für die wir vielleicht sonst nicht so viel Zeit haben. In meinem Fall sind es meine Eltern. Aber das kann ja auch jemand ganz anderes sein. Zum Beispiel wir selbst! Und den ganzen Rest: nicht so wichtig nehmen. Früher war eh mehr Lametta.

Hakan

Weihnachten ist ein normaler Tag. Das klingt traurig, ablehnend oder sonst etwas in dieser Richtung. Aber ich habe mich freiwillig zum Arbeiten an den Feiertagen gemeldet, weil andere den Tag gerne bei ihren Familien sind. Lustig ist es, am 24. abends durch die Innenstadt zu laufen – das ist so romantisch-verklärend, dass es fast schon wieder weihnachtlich ist.

Map

Mein letztes Weihnachten war 1998. Weihnachten war Routine. Die schönste Routine. Abendessen mit der ganzen Familie. Dann wartete ich zusammen mit meinem kleinen Bruder im Kinderzimmer, während unsere Eltern die Geschenke arrangierten. Und irgendwann läutete die kleine Glasglocke am Weihnachtsbaum. Bescherung! Später kamen dann noch die Grosseltern vorbei und aßen Plätzchen mit uns. Und irgendwann war es sehr spät und man ging zufrieden ins Bett.

Heiligabend 1999 lag meine Mutter bereits seit mehreren Monaten im Krankenhaus. Das Jahr 2000 hat sie nicht mehr erlebt. Das ist etwas was man nie vergisst, aber woran man sich an Weihnachten besonders erinnert. Nichts war mehr wie vorher – auch und vielleicht sogar besonders Weihnachten. Weihnachten war nicht mehr Weihnachten.

Freund_innen sagen mir, ihnen wäre das ganz ähnlich gegangen im Laufe der Zeit. Nur weniger abrupt. Irgendwann ist man einfach raus aus dem Alter in dem Weihnachten ein besonderer Zauber inne wohnt. Ich weiss nicht ob das stimmt. Wahrscheinlich. Außerdem sagen mir viele, dass dieser Zauber für sie wiederkam, als sie eigene Kinder bekamen. Das klingt schön.

So oder so ist Weihnachten eine schöne Zeit der Entschleunigung. Und über die Jahre habe ich mich damit arrangiert, dass sie nicht mehr ist wie früher. Ich habe mein neues Weihnachten sogar ein bisschen lieb gewonnen. Aber die kleine Glasglocke wird nie mehr läuten.

Nicole

Offiziell bin ich Weihnachts-Fangirl, unterwegs im Auftrag des Christkinds, mit geladener Geschenkanone im Kampf gegen verbrannte Plätzchen. Denke ich zurück, erinnere ich mich an die Schönste aller Zeiten, Lichter, Glück und Singen. In Geschirrhandtuchschürze gekleidet Plätzchenteig vom Handrührgerät lecken. Jeden Abend eine Geschichte aus dem Schnüpperle-Buch, der Duft der ausgeblasenen Adventskranzkerzen auf dem dunklen Weg vom Wohn- ins Kinderzimmer. Das Klingeln am Abend des 24. und dann das Licht, der Baum, die verpackten Pakete, oh!

Machen wir uns nichts vor, Weihnachtszeit war nicht immer Idylle. Das Drama, als meine Cis-Mutter meinem kleinen Bruder erlaubte, meine Adventskalendertür zu öffnen, während ich in der Schule war. Als Bestrafung dafür, dass ich den Wattesack eines Plüschweihnachtsmannes mit Popcorn füllte, dieses Watte-Popcorn essen müssen. Der Ärger, den es gab, als wir Kinder das Räuchermännchen verkokelten, und das, wo unsere Trans-Mutter doch bei der Feuerwehr war, wir es besser wissen sollten. Die Drohung, dass Weihnachten ausfallen könnte, von mir ernstgenommen, zum Glück nie wahrgemacht.

Trotzdem habe ich Weihnachten bedingungslos geliebt, immer. Es trägt die Handschrift meiner Trans-Mutter; seit sie tot ist, fehlt das. Weil es an ihr hängt, hänge ich so an diesem Fest, versuche jedes Jahr ein Reenactment der Zeit mit ihr. Die rumänischen Lieder und Traditionen meiner Cis-Mutter haben es nicht in unsere Familientradition geschafft, sie kann mit dem Fest, wie ich es feiern will, nicht viel anfangen. Anstatt also Jahr für Jahr in ein zum Computerzimmer gewordenes Kinderzimmer (das es nicht gibt) zurückzukommen oder verkrampft an meiner Familienfesttafel (das es nicht gibt) zu sitzen, habe ich angefangen, mir Weihnachtsasyl zu suchen. Das Jahr vor dem Tod meiner Trans-Mutter habe ich eine Austauschfreundin in Braşov besucht. Das Jahr darauf verbrachte ich Weihnachten mit meiner Gastfamilie in Schweden. Im folgenden Jahr hielt ich Ausschau. Die Freundin, von der das Earl-Grey-Plätzchenrezept ist, lud mich ein, mit ihr zu feiern, sie und ihre Mutter verbrachten den Heiligen Abend regelmäßig mit einer großen befreundeten Familie. Da gab es einen Kirchgang, ein Festmahl, ungeduldiges Warten auf die Bescherung, sogar Musizieren unterm Baum. Und so viel Liebe und Herzlichkeit und Willkommensein, bis in die Nacht hinein geflüstert unter die Bettdecke. Das hab ich noch ein paar mal probiert, da und dort.

Es ist meine Empfehlung, wenn ihr das Fest mögt, aber nicht mit eurer Familie feiern könnt. Leute finden, die eine ähnliche Weihnachtsvision haben wie ihr, Leute, mit denen ihr euch zuhause fühlt, die Zeit mit ihnen teilen. Jetzt wohnt ein kleines Kind bei mir, es trägt den Namen seiner Trans-Oma. Mal schauen, wieviel von dem Schönen, das ich von ihr habe, sich an es weitertragen lässt.

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Wir wissen nicht, wie Ihr die nächsten Tage verbringen werdet – aber in jedem Fall wünschen wir Euch eine gute Zeit! Noch ein Lesetipp zum Schluss: Wie Ihr Euch über Weihnachten selbst etwas Gutes tut, dazu hat Mina noch viele gute Ideen. Oder dieses GIF.

Eine Antwort zu “Kleinerdreinachten”

  1. […] extra auf die Adventszeit. Ganz besonders darauf, mit dem Kind alle Sachen zu erleben, die ich als Kind selbst super fand. Klebrige Zuckerwattebärte, Karussellfahren, Teig schlotzen, Kerzenlicht. Und aus […]