Einheit ohne Vielfalt?

Foto , CC BY-ND 2.0 , by Keshet

Wie wird in den jüdischen Gemeinden in Deutschland mit der Inklusion von LGBTQI umgegangen? Zum Auftakt unserer neuen Kolumnen schreibt Levi über die Herausforderungen und Aufgaben, vor denen die jüdische Gemeinschaft dabei steht.

Derzeit gibt es in Deutschland 108 jüdische Gemeinden. Die meisten von ihnen sind so genannte Einheitsgemeinden. Nach ihrem Selbstverständnis ist eine Einheitsgemeinde eine jüdische Gemeinde, die allen Jüd_innen eines Ortes offen stehen soll, ihre verschiedenen religiösen Strömungen – seien sie z.B. orthodox oder liberal – und Bedürfnisse achtet. Der G’ttesdienst in der Synagoge ist dabei orthodox, der Schabbat und die Speisegesetze werden innerhalb der Gemeindegebäude eingehalten, damit orthodoxe Mitglieder dort beten, essen und alle Ge- und Verbote gemäß ihres Verständnisses der Torah einhalten können.

Wäre der G’ttesdienst etwa standardmäßig liberal, würde ein orthodoxer Jude nicht in die Synagoge kommen, da für ihn Aspekte des G’ttesdienstes nicht vereinbar mit dem jüdischen Religionsgesetz wären. Eine liberale Jüdin hingegen kann einen orthodoxen G’ttesdienst besuchen, sofern sie sich damit zufrieden geben kann, dass sie dabei nicht die gleiche aktive Rolle einnehmen darf wie ein Mann (so wie sie es indes in einem liberalen G’ttesdienst könnte). Sie darf in deutschen Einheitsgemeinden weder aus der Torah vorlesen noch wird sie überhaupt zum Gebetsquorum dazu gezählt (gewisse Gebete und Rituale geschehen im jüdischen G’ttesdienst erst bei Anwesenheit von zehn religionsmündigen Juden; in der Orthodoxie werden hier nur Männer gezählt).

Etwa 90 Prozent der etwa 100.000 Mitglieder der jüdischen Gemeinden stammen entweder selbst aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion oder ihre Eltern oder Großeltern tun es. Die wenigen alteingesessenen Gemeindemitglieder versuchen dabei nach Kräften, die als Kontingentflüchtlinge hierher immigrierten Jüd_innen bei der Integration in Deutschland und in die jüdischen Gemeinden zu helfen; etwa durch Sprach- und Kulturangebote, Sozialdienste, Rechtsberatung und vieles mehr. Die Gemeinden sind gleichzeitig ziemlich überaltert; gar 45 Prozent der Mitglieder sind über 60 Jahre alt. In den kommenden Jahren und Jahrzehnten werden die jüdischen Gemeinden in Deutschland deutlich an Mitgliedern verlieren, da Geburten, Übertritte und Einwanderung die Todesfälle, Austritte und Abwanderung nicht ansatzweise auffangen können werden. Im letzten Jahr etwa kamen auf 2.438 Zugänge 3.339 Abgänge in den Gemeinden. Seit 2006 schon sinkt die Zahl der jüdischen Gemeindemitglieder, da der große Zuzug der erwähnten Kontingentflüchtlinge vorbei ist, und eine Trendwende ist dabei nicht zu erwarten. Im Gegenteil werden die Zahlen sogar noch rapider sinken, bis sie sich hoffentlich irgendwann stabilisieren.

Jung & jüdisch dringend gesucht

Entsprechend ist es von enormer Bedeutung, sich besonders darum zu bemühen, dass junge Jüd_innen einen religiösen und kulturellen Bezug zu ihrem Jüdischsein bekommen resp. behalten, sich den Gemeinden zugehörig fühlen und auf ihre Weise etwas zu ihnen beitragen möchten. Denn überdurchschnittlich viele junge Gemeindemitglieder müssten sich engagieren, um die vielen Angebote der Gemeinden auch in Zukunft erhalten zu können.

Ein Hauptgrund, weshalb vor allem junge, aber auch unzählige weitere Jüd_innen dem Gemeindeleben fern bleiben, ist, dass in den Einheitsgemeinden ein nicht unerheblicher Konformitätsdruck herrscht. Einerseits gibt es zumeist nur eine einzige Form des G’ttesdiensts – nämlich die orthodoxe –, an welche sich die meisten Gemeindemitglieder aber nicht anpassen wollen; sie ist für sie nicht nachvollziehbar (weil Frauen z.B. nicht gleichberechtigt im G’ttesdienst sind und sie getrennt von den Männern sitzen, weil die Gebete in der für die meisten nicht zu verstehenden hebräischen Sprache formuliert sind und sehr schnell gesprochen werden oder weil viele Anwesende auch nicht verstehen, wovon der Rabbiner in seinen Ansprachen und Predigten auf Deutsch eigentlich spricht). Tatsächlich besucht jeweils nur ein Bruchteil (oft in etwa ein Prozent) einer Einheitsgemeinde die wöchentlichen orthodoxen G’ttesdienste.

Andererseits sehen viele auch jenseits der G’ttesdienste wenig oder keinen Spielraum, sich in die Gemeinde einzubringen, weil ihr Lebensweg, ihr Personenstand, ihre Überzeugungen oder ihr Umfeld nicht konform erscheinen mit dem, was gemeinhin erwartet wird. Vieles, das Teil der eigenen Lebenswirklichkeit ist, verschweigen Gemeindemitglieder daher vor anderen oder machen daraus offene Geheimnisse: nichtjüdische (Ehe-)Partner, die Haltung zum Nahostkonflikt oder zur israelischen Politik, bewusste Kinder- oder Ehelosigkeit oder nicht-heteronormative Sexualitäten und Beziehungen.

Von Diskriminierung, Schweigen und Ferne

Verweilen wir beim letzten Bereich, denn hier zeigen die Einheitsgemeinden eine ganz besondere Diskrepanz zur heutigen Akzeptanz gerade unter jungen Menschen, was Homosexualität anbelangt. Wie ich eingangs darstellte, wird die Orthodoxie in den Einheitsgemeinden protegiert. Dies führt allerdings auch jenseits der konkreten Liturgie des G’ttesdienstes dazu, dass Sachverhalte, die das orthodoxe Judentum ablehnt, im Gemeindeleben z.T. tabuisiert werden. Was das zur Folge hat, sei anhand von ein paar Beispielen aus verschiedenen jüdischen Gemeinden in Deutschland, die mir bekannt sind, illustriert.

Da gibt es etwa den Kantor, der schwul ist, aber sich ausgerechnet in seiner eigenen Gemeinde, für die er vorbetet, nicht outen kann, weil er sonst seine Anstellung verlieren würde. Da ist der schwule Religionslehrer, der von einer großen Gemeinde nicht angestellt wird, weil man befürchtet, gewisse Eltern der Schüler_innen würden ein Problem mit seiner Homosexualität haben. Und da gibt es den anderen schwulen Religionslehrer, der als solcher in einer benachbarten Stadt lehrt und aus seiner Sexualität lieber ein Geheimnis macht.
Da ist die lesbische Beterin, die an jedem Freitag und jedem Samstag in die Synagoge kommt, bei den Vorbereitungen für die Feiertage stets tatkräftig mithilft, aber nicht sagen kann, dass sie nach dem G’ttesdienst zu ihrer Lebensgefährtin nach Hause geht. Es gibt die Mutter, die weiß, dass ihr Sohn schwul ist, und ihn liebt, aber in ihrer Gemeinde auf Nachfrage nach seinem Beziehungsstatus den Freund ihres Sohnes verschweigt und lieber erzählt, dass er immer noch keine Freundin mit nach Hause gebracht habe. Und es gibt den Vater, der seinen Sohn vor dem Pessachseder in der Gemeinde dazu anhält, sich am Tisch bitte mit seiner Homosexualität bedeckt zu halten.

Da ist der orthodoxe Rabbiner, der sich in einer Gemeinde bewirbt und im Synagogenplenum gefragt wird, was er von Homosexualität halte, aber gar nicht richtig antworten kann, weil sich direkt einige Herren laut und erregt beschweren, wie man so etwas überhaupt noch fragen müsse.
Da ist der orthodoxe Rabbiner, der Infoblätter über Homosexualität in der Torah verteilt, erklärt, dass man Homosexuelle nicht diskriminieren dürfe, es aber natürlich verwerflich sei, homosexuell zu leben.
Da ist der orthodoxe Rabbiner, der ein Dvar Torah (eine Art kurze Predigt begleitend zu einem im G’ttesdienst gelesenen Abschnitt der Torah) dazu nutzt, abfällig über Schwule und Lesben zu sprechen.
Und da ist der orthodoxe Rabbiner, der schwul ist, aber es niemandem sagen kann.

Es gibt auch liberale Rabbiner_innen in Deutschland, die – mehr oder weniger – offen homosexuell sind. Aber diese bewegen sich zumeist in den explizit liberalen Gemeinden (die ihrer Agenda nach LGBTQI-freundlich sind) und nicht in den Einheitsgemeinden.

Ich stellte bereits an anderer Stelle dar, warum die Orthodoxie ein Problem mit Homosexualität hat (die so genannte Open Orthodoxy hingegen macht übrigens derzeit vor, dass es auch anders geht). Die oben genannten Beispiele sind aber zumeist nicht Symptome einer strikten Orthodoxie der Gemeinden – schließlich sind die wenigsten Gemeindemitglieder selbst orthodox –, sondern von schlichter Feindseligkeit gegenüber Homosexuellen (mir ist dabei egal, ob diese nun hausgemacht oder „russisch“ sei, wie oft gesagt wird), die sich religiöser Rechtfertigungen bedient, wenn es ihr passt. Oder die sich noch nicht einmal mithilfe derer rechtfertigt. Sondern mit dem Wohl der zu unterrichtenden Kinder. Oder der Vermeidung von Gerede in der Gemeinde. Oder damit, dass man wie in den 50er Jahren über manches eben einfach nicht sprechen könne oder solle.

In der Politik der Einheitsgemeinden und in ihren G’ttesdiensten finden homosexuelle – geschweige denn transgeschlechtliche – Gemeindemitglieder wenig, manchmal gar keinen Platz. Viele bleiben daher den G’ttesdiensten oder gleich dem gesamten Gemeindeleben fern. Warum sollten sie auch kommen, wenn sie sich nur willkommen fühlen können, wenn sie ihre sexuelle Identität verschweigen? Ich habe in den vergangenen Jahren auch immer wieder von Verwandten und Freund_innen von LGBTQI-Gemeindemitgliedern gehört, die nicht in die Synagoge oder die Gemeinde kommen wollen, wenn ihr schwuler Sohn, ihre lesbische Schwester, ihr bisexueller Cousin, ihre transgeschlechtliche Nichte oder ihr bester nicht-heterosexueller Freund nicht selbstverständlich, frei und gleich mitkommen können und willkommen sind.

Einige Mitglieder jüdischer Gemeinden, die diesen Text lesen werden, werden sich mitunter über meine Worte und Beispiele wundern, weil ihnen die Probleme wenig oder gar nicht bekannt sind, da diese für viele zu wenig sichtbar sind, zu gut verborgen werden oder ihnen die Diskriminierung überhaupt nicht als Diskriminierung erscheint.

Was tun? Eine Vision

Wenn man die Einheitsgemeinden fit für die Zukunft machen möchte, muss man den Konformitätsdruck brechen. Eine Einheit sein zu wollen bedeutet nicht, dass alle gleich sein und einem bestimmten Bild entsprechen müssen. Es ist durchaus legitim, dass ein orthodoxer G’ttesdienst nach seiner eigenen Ordnung abläuft, auch wenn diese z.B. nicht mit den Gleichberechtigungsvorstellungen aller vereinbar ist (hier sei indes nochmals darauf verwiesen, dass die Orthodoxie als Open Orthodoxy auch inkludierender und offener funktionieren kann). Aber dann wäre es gleichzeitig ratsam, wenn Gemeinden, die es sich räumlich und finanziell erlauben können, G’ttesdienste anbieten, die liberal, konservativ oder anderweitig egalitär sind. In sehr wenigen Einheitsgemeinden gibt es bereits parallele liberale G’ttesdienste, doch viele Gemeinden, die die Möglichkeiten hätten, sorgen bis heute nicht für ein breiteres religiöses Angebot, das zweifelsohne mehr Mitglieder in die Synagoge(n) holen würde.

Die Vorstände, Gemeinderäte und Geschäftsführungen der Einheitsgemeinden sollten sich aktiv gegen die Feindseligkeit gegenüber Homo- und Transsexualität wenden und für mehr Offenheit im Umgang mit verschiedenen Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität werben. Mehr Offenheit sollte es auch im Umgang mit den anderen von mir weiter oben genannten Bereichen geben. Wie oft muss man erleben, dass Mitglieder ihre nichtjüdischen Partner bei Feierlichkeiten in der Gemeinde zu Hause lassen oder gerade junge Mitglieder ihre nichtjüdischen Partner verschweigen (oder sie gar wegen eines nichtjüdischen Partners von bestimmten Gemeindefunktionen ausgeschlossen sind)! Man sollte umgekehrt ganz offen über sie sprechen können, sie mitbringen und insbesondere nichtjüdische Kinder von Mitgliedern (ist der Vater jüdisch, die Mutter aber nicht, ist ein gemeinsames Kind nichtjüdisch; auch viele Kinder von Konvertit_innen sind nichtjüdisch) in das Gemeindeleben inkludieren.

Ich würde mir statt Einheitsgemeinden Vielfaltsgemeinden wünschen. In einer Vielfaltsgemeinde gäbe es dann – wenn es die Kapazitäten erlauben – neben dem orthodoxen G’ttesdienst auch einen liberalen G’ttesdienst oder einen G’ttesdienst explizit für Kinder und Jugendliche. Oder einen „How to“-G’ttesdienst, der besonders langsam und mit Erklärungen und Übersetzungen abgehalten wird. Und es gäbe zur gleichen Zeit auch eine säkulare Veranstaltung für die Gemeindemitglieder, die mit Religion wenig oder gar nichts anfangen können. Aber nach dieser Veranstaltung und dem G’ttesdienst oder den G’ttesdiensten gäbe es dann für alle einen gemeinsamen Kiddusch (das ist der Segen über den Wein) mit anschließendem Essen. Und beim Essen spräche man völlig offen miteinander, würde nichts oder niemanden verschweigen, hätte keine offenen Geheimnisse. Und alle Partner, Kinder, alle Ansichten und religiösen Strömungen wären gleichermaßen willkommen. Und unsere Rabbiner_innen, Kantor_innen, Lehrer_innen, Erzieher_innen, Jugendleiter_innen, Ehrenamtlichen etc. könnten ganz frei und offen als sie selbst für unsere Gemeinde tätig sein. Die Vielfaltsgemeinde wäre dann der schlechthinnige Ort, von dem eine Jüdin, von dem ein Jude sagen könnte: „Hier fühle ich mich wohl. Hier passe ich hinein.“

Mit dem Status quo sind die jüdischen Gemeinden in Deutschland nicht für die Zukunft gewappnet. Nur durch eine wirkliche, eine konsequente Inklusion und Partizipation von Frauen, LGBTQI-Mitgliedern, interreligiösen Familien, Mitgliedern jedweder Strömungen, jedweden Alters, jedweder Hautfarbe, jedweden Herkunftslands und jedweder Überzeugung, säkularen Mitgliedern, von Mitgliedern mit Behinderung oder Erkrankung werden die Gemeinden künftig attraktiv sein können für die Jüd_innen des 21. Jahrhunderts in diesem Land.

Es gab niemals das eine Judentum oder die eine jüdische Tradition. Es gab stets eine Vielzahl an Lehrmeinungen, Interpretationen, Bräuchen. Das Judentum hatte immer schon viele Gesichter. Nie hatte dabei Vielfalt die jüdische Gemeinschaft geschwächt. Je breiter sich die Einheitsgemeinde aufstellen wird, je mehr Menschen sie einschließt, je mehr Wege sie zum Judentum und Jüdischsein eröffnet, desto vitaler und gestärkter wird sie sein.
Einheit gibt es nicht ohne Vielfalt. Es gibt sie nur durch sie.

2 Antworten zu “Einheit ohne Vielfalt?”

  1. Yossi sagt:

    Vielen Dank für den tollen Text!

  2. […] weil sie schwul, lesbisch, bisexuell, transidentisch oder anderweitig nicht heteronormativ sind. Die deshalb keinen Platz für sich in der jüdischen Gemeinschaft sehen. Die nicht immer wieder Paikea zusehen, wie sie mit sich, ihrem Großvater, ihrem Stamm ringt und […]