Meine Mutter ist nicht mehr da (Teil 7) – Ihr Umzug ins Heim und Sterben
In Teil 1 ging es um die Diagnose und die folgende Ohnmacht,
in Teil 2 um meinen Umgang mit Tod und Trauer,
in Teil 3 um Kontrolle, Angst und Liebe,
in Teil 4 um Kommunikation, Sprachlosigkeit und das Vergessen,
in Teil 5 um Orientierungslosigkeit und Halluzinationen,
in Teil 6 um das Verständnis von Gesundheit und den Umgang mit den Ärzt_innen.
Ins Heim
Die Reaktion meiner Mutter auf das Wort „Heim“ war eindeutiger als viele andere Reaktionen zu dieser Zeit. Sie wollte nicht umziehen, wollte zu Hause bleiben, lehnte sich auf gegen jeden Vorschlag, doch auch mal zu versuchen, die Vorteile zu sehen. Und wenn ich ehrlich bin, kann ich das gut verstehen, heute vielleicht noch besser als damals. In dieser Situation für die eigene Mutter „zu ihrem Besten“ zu entscheiden, ist extrem hart.
Bei allem Verlust von Fähigkeiten war die Entschlossenheit und der fast kindliche Trotz, dass meine Mutter ihr Haus nur „mit den Füßen voraus“, d.h. als Leiche auf der Bahre, verlassen würde, bestehen geblieben. Vor diesem Hintergrund hatte ich bei meinem ersten Besuch bei der Hausärztin, bei dem ich die medizinischen Formalitäten für einen Umzug ins Heim zu klären versuchte, gesagt, dass ich mir nicht vorstellen kann, meine Mutter selbst im Heim abzuliefern. Sie hatte mir angeboten, meine Mutter zunächst ins Krankenhaus einzuweisen und dann von dort in ein Heim zu verlegen. Und während das vermutlich viele unserer Probleme behoben hätte, fühlte es sich wie Verrat an dem Menschen an, der mich auf die Welt gebracht und aufgezogen hatte.
In ruhigeren Momenten versuchte meine Mutter zu diskutieren, was angesichts der Einschränkungen in der Kommunikation fast wie absurdes Theater anmutete. In den wenigen einsichtigen Zeiten fragte sie vorsichtig nach, ließ sich erklären, was das für ein Haus sei, wo es denn sei, und überhaupt. Jede dieser Fragen versuchte ich, auch beim x-ten Mal noch geduldig und ruhig zu beantworten, denn ich wusste ja, dass keine der Antworten länger als wenige Sekunden im Gedächtnis meiner Mutter gespeichert wurde.
Den Großteil der Besichtigungen übernahm ich zunächst allein. Ich hatte mich per Internet und Telefon informiert, welche Heime es gab. Mitte September 2006 schließlich schaute ich mir die Heime an, die ich in die engere Auswahl gezogen hatte. Das erste, ein Seniorenheim, das nur eine geschlossene Demenzstation hatte, fand ich ziemlich trostlos. Kleine Zimmer führten auf einen U-förmigen-Gang, an den auch ein Gemeinschaftsraum grenzte. Am meisten beeindruckte mich, im negativen Sinn, die Tür zum restlichen Heim, die genauso tapeziert bzw. gestrichen war wie die angrenzende Wand. Da die Bewohner den Unterschied nicht erkennen konnten, konnten sie nicht weglaufen.
Während ich eine Demenz-WG ansprechend fand, war ich unsicher, wie Mama damit umgehen würde, dass als Rückzugsraum nur ein winziges Zimmer diente. Heute denke ich, dass Mama auch dort gut aufgehoben gewesen wäre, da sie im Heim immer die Gemeinschaft gesucht hatte und ihr sehr schönes Zimmer außer zum Schlafen kaum nutzte. Dennoch stand dem Einzug in die Demenz-WG im Weg, dass die Rund-um-die-Uhr Betreuung hier im Rahmen der Pflegeversicherung nur als ambulante Leistung galt und darum geringer bezuschusst wurde. Gleichzeitig waren die monatlichen Kosten höher als im Heim – die Gesamtdifferenz war erheblich. Und während wir die Heimkosten über Renten und Leistungen aus der Pflegeversicherung gerade so finanzieren konnten, hätten wir für den Einzug in die WG umgehend Mamas Haus verkaufen müssen. Ob der Erlös dann bis zu ihrem Lebensende ausgereicht hätte, wäre ebenfalls unklar gewesen – denn noch wussten wir ja nicht, dass wir es nicht mit Alzheimer zu tun hatten, sondern mit der Lewy-Körperchen-Demenz und einer entsprechend geringeren Lebenserwartung.
Schließlich hatten wir Mama in zwei Heimen auf die Warteliste setzen lassen. Im Oktober 2006, als unsere Mutter immer unselbständiger wurde und wir befürchten mussten, dass sie sich selbst und andere gefährdet, fragte ich bei dem Heim, das wir bevorzugten, noch einmal nach. Und tatsächlich konnte die Inhaberin mir einen Platz zum 1. November anbieten – worüber wir sehr erleichtert waren. Das andere Heim bot uns anschließend übrigens einen Platz zum 1. Februar 2007 an, bis dahin hätten wir mit Sicherheit nicht durchgehalten. Das Heim, für das wir uns entschieden, lag etwa 15 km vom Haus meiner Mutter entfernt. Es war und ist auf Demenz spezialisiert und hat zum Beispiel Endlos-Gänge. Dies führt dazu, „dass man als ,Wanderer‘ automatisch wieder zum Ausgangspunkt zurückgeführt wird (ohne Sackgassen oder Verzweigungen) oder zumindest von jeder Stelle des Flurs den zentralen Bereich im Blickfeld hat“.
Zum 1. November traf ich mich mit meiner Schwester und ihrem Freund in unserem Heimatort. Ich reiste am Vorabend an, und am nächsten Morgen weckte ich um kurz nach sieben meine Mutter. Sie sah mich an, erkannte mich zunächst nicht. Dann fiel sie mir um den Hals: „Dass du da bist! Nimmst du mich jetzt mit?“ Ich lenkte ab, sagte: „Jetzt müssen wir uns erstmal waschen und fertig machen. Und dann gibt es Frühstück.“ Meine Mutter ließ sich ins Badezimmer führen, ich half ihr beim Waschen und Anziehen.
Mama wußte, dass sich etwas veränderte, und war verständlicherweise sehr traurig und gleichzeitig neugierig und aufgeregt. Schon Tage vorher hatte meine Schwester einige Umzugskartons aufgestellt, in die unsere Mutter Sachen packen konnte, die sie mitnehmen wollte. Trotz aller Einschränkungen verstand sie, dass dies ein großer Schritt in einen neuen Lebensabschnitt war.
Alle, die sich in letzter Zeit um sie gekümmert hatten, waren bei ihr. Letzte Ermahnungen wurden erteilt: „Lasst mich bloß nicht allein“. Mehrfach versicherte sie sich, dass sie, „wenn es da schlimm ist“, wieder nach Hause darf. Nach einem letzten Rundgang durchs zum Teil ausgeräumte Haus – denn einige ihrer Möbel kamen mit ins Heim – zog sie mich beiseite und sagte, „Komm mal mit“. Ich folgte ihr vor den Badezimmerspiegel und begrüßte auf ihr „Guck mal, wer da ist!“ hin ihr Spiegelbild. „So“, sagte Mama zu mir, „jetzt sag’ dem mal, wo ich hinkomme, damit der mich auch findet.“ Das tat ich pflichtschuldigst, wobei es mir gelang, die Fassung zu bewahren. Als ich fertig war, sagte sie verschmitzt: „Meinst du, das hat der verstanden?“ Ich nickte ebenso wie sie und machte mir das Nicken ihres Spiegelbilds zunutze: „ich glaube schon, der nickt ja auch.“ Sie: „Bist du sicher?“ Ich: „Ja. Und wenn nicht, dann kann er mich ja noch mal fragen, ich erkläre ihm das dann gerne.“ Sie schaute noch einmal in den Spiegel, nickte freundlich, schaute dann mich an und sagte: „Dann können wir jetzt gehen.“
Ohnmacht
Noch auf dem Parkplatz sprach eine Spaziergängerin, die meine Mutter offensichtlich vom Sehen kannte, an und sagte: “Na, geht es jetzt ins Heim?” und zu mir gewandt “Das ist auch besser so.” Ich sagte “ja”, worauf meine Mutter mich ausschimpfte, da das ja die Frau gar nichts an ginge. Auf der kurzen Fahrt ins Heim – ich fuhr mit meiner Mutter im PKW, meine Schwester und ihr Freund fuhren im Möbelwagen – war mir Angst und Bange, wie wohl meiner Mutter reagieren würde, sobald wir dort ankommen würden. Doch zum Glück wusste die Inhaberin des Heims sehr genau, wie sie die Ankunft neuer Bewohner_innen am besten gestaltet. Und so hieß sie meine Mutter mit den Worten willkommen: “Ach, Frau Meyer, das ist ja schön, dass Sie endlich da sind, wir haben Sie schon so vermisst!” Meine Mutter, die die Inhaberin (noch) nicht kannte, hatte natürlich keine Erinnerung an sie. Da aber offensichtlich die Frau sie kannte, spielte sie mit, wie sie es aufgrund ihrer Demenz gelernt hatte, ging willig mit ins Haus und beteuerte, sie freue sich auch sehr. Wir wurden gebeten, uns direkt an der Tür von Mama zu verabschieden und ihre Sachen auf ihr Zimmer zu bringen, ohne dass sie uns nochmal sieht. Wir brachen rasch wieder vom Heim auf, ich fuhr ein paar hundert Meter, hielt dann am Straßenrand und brach weinend zusammen.
Nachdem wir meine Mutter im November 2006 ins Heim gebracht hatten, war sie noch häufiger als zuvor in ihrer ganz eigenen Realität. Oft rief sie stundenlang und untröstlich nach ihrer Mama. Ende November, als ich sie besuchte, berichtete sie mir unter Tränen: „Die haben mir gesagt, dass meine Mama tot ist. Aber die kann doch nicht tot sein. Wo ist meine Mama?“ Ich saß, ebenfalls weinend, neben ihr, versuchte sie zu trösten und konnte es doch nicht. Und dachte mir: „Und wo ist meine Mama?“
Auch Ende Februar 2007 besuchte ich meine Mutter im Heim. Sie lag mit einer Bronchitis fiebernd im Bett und nahm mich kaum wahr. Und während ich an ihrem Bett saß hatte ich das Gefühl, dass etwas oder jemand anderes ebenfalls anwesend war – besser kann ich das nicht beschreiben. Ich verabschiedete mich sehr ausgiebig von meiner Mutter, ging zur Pflegedienstleitung und sagte: “Meine Mutter stirbt. Was brauchen Sie von uns, damit sie sterben darf?” Sie schaute mich überrascht an und sagte sinngemäß: “Ich glaube nicht, dass ihre Mutter stirbt. Sie ist auf dem Weg der Besserung. So oder so wäre es gut, wenn Sie uns schriftlich geben, dass sie nicht über eine Magensonde ernährt werden soll. Aber wie gesagt, ich glaube nicht, dass sie stirbt.”
Ich fuhr allein mit dem Auto zurück nach Berlin, es war kalt und irgendwann waren die Straßen glatt. Irgendwo auf der A24 kaufte ich an einer Raststätte die einzige Coke Zero meines Lebens – sie war so eklig, dass ich gar nicht anders konnte, als wach zu bleiben. Zuhause angekommen weinte ich mich in den Schlaf. Tage später ging es meiner Mutter wieder besser – zumindest, was die Bronchitis anging. Doch als ich gerade dachte, ich hätte mich geirrt, rief mich die Heimleiterin an und sagte mir, dass meine Mutter friedlich eingeschlafen sei.
Von den Traueranrufen bei der Verwandtschaft ist mir insbesondere eine Reaktion in Erinnerung geblieben. Einer meiner Onkel fragte mich: “Aber woran ist sie denn gestorben? An Demenz stirbt man doch nicht!”
Wir haben die Urne mit der Asche meiner Mutter in einem Friedwald beigesetzt. Die Trauerfeier war für mich sehr stimmig, und die fünf Fotos des Lebenswegs unserer Mutter gaben ein schönes Bild vom Anfang bis zum Ende. Ich konnte endlich “richtig” trauern, und wenn ich heute unserem Sohn von seiner verstorbenen Oma erzähle, dann erzähle ich mehr von ihrem Leben als von ihrem Sterben. Ich bin sicher, dass sie so in Erinnerung bleiben wollte.
Rollenwechsel
Meine Mutter wurde durch ihre Demenz wieder zu einem Kind, vielleicht zu dem Mädchen, das sie einmal gewesen war. Neben der Mühe, ein „erwachsenes Kind“ zu hüten, stand ich vor zwei großen Problemen. Zum einen wusste ich, anders als bei einem „richtigen“ Kleinkind, dass meine Mutter nie (wieder) erwachsener und eigenverantwortlicher werden würde. Zum anderen war es eine ganz besondere Herausforderung, ein erwachsenes Kind im Körper meiner Mutter zu hüten und damit quasi meiner kindlichen Mutter eine Mutter zu sein – mit all der Liebe und Strenge, die ich von ihr teils bekommen hatte, die mir aber eben teils auch verwehrt geblieben war.
Als ich kurz nach Weihnachten 2005 meine Mutter zu ihrer neuen Hausärztin begleitete, untersuchte diese meine Mutter in meiner Gegenwart. Das sollte zwar im folgenden Jahr noch öfter passieren sollte, war aber zu diesem Zeitpunkt eine neue Erfahrung für mich. So wie sie mich als Kind zum Arzt begleitet hatte, saß ich jetzt mit im Sprechzimmer, sah ihren dünnen, fast ausgemergelten Körper, hörte ihr beinahe kindliches, braves Geplapper und gab ihr die von ihr eingeforderte Rückversicherung bei ihren Angaben gegenüber der Ärztin. Der Punkt aber, an dem mir der Rollenwechsel wirklich bewusst wurde, war ebenso banal wie schmerzhaft. Gefragt, ob sie Kinder habe, sagte meine Mutter, während ich neben ihr saß: „Ich hatte zwei Töchter.“ Fast automatisch korrigierten die Ärztin und ich: „Du hast!“, was ich um „drei, nicht zwei“ ergänzte. Erst später begriff ich die ganze Bedeutung dieses „hatte“: als Mutter hatte meine Mutter aufgehört zu existieren.
Dieser Rollenwechsel manifestierte sich nach und nach in fast allen Bereichen des täglichen Lebens. Gerade in den letzten Monaten vor ihrem Umzug ins Heim brachte ich meine Mutter ins Bett und leitete sie an, in welcher Reihenfolge sie ihre Kleidungsstücke anziehen sollte. Manches Mal stand sie mitten in der Nacht angezogen im Gästezimmer – meinem ehemaligen Kinderzimmer – und starrte mich bei Festbeleuchtung anklagend an, weil ich um 2 Uhr nachts unverschämterweise immer noch im Bett lag. Mal konnte ich sie überzeugen, wieder ins Bett zu gehen, mal brachte ich sie zu Bett und wachte darüber, dass sie einschlief. Auch hier sind die Parallelen zu unseren kleinen Kindern bemerkenswert.
Sehr skurril wurde es, als ich meine Mutter dazu anhalten musste, sich zu waschen. Natürlich schossen mir sofort Gedanken an meine Kindheit durch den Kopf – wie sehr ich das wöchentliche Bad und das Haarewaschen gehasst hatte, wie unerbittlich meine Mutter uns trotzdem dazu zwang, wie sie immer wieder versuchte, uns zu noch regelmäßigerem Zähneputzen zu bewegen.
Weil es uns massiv überforderte, die Körperhygiene unsere Mutter wie bei einem kleinen Kind zu überwachen, holten wir an diesem Punkt sehr schnell einen ambulanten Pflegedienst ins Haus. Aber bis der am Folgetag kam, galt es zunächst einmal, meine Mutter dazu zu bringen, die Kleidung, die sie scheinbar schon über eine Woche am Leib hatte und die einen entsprechend intensiven Geruch verbreitete, auszuziehen. Ich versuchte es, indem ich ihr schmeichelte, ihr ihre Lieblingssachen aus ihrem Schrank zeigte und ihr schwor, dass sie die sehr gerne trage. Sie guckte sehr skeptisch, und sagte, das sei alles viel zu kalt. Das Temperaturempfinden meiner Mutter hatte schon früher sehr nachgelassen, dazu kam, dass sie, weil sie nicht mehr regelmäßig aß, sehr abgenommen hatte. Dadurch fror sie mit Sicherheit noch mehr als schon zuvor. Ich versicherte ihr, wir würden etwas finden, das warm genug sei. Sie war noch immer nicht überzeugt. Als ich noch mal sagte, sie müsse aber was anderes anziehen, bekam ich nur ein trotziges „Warum?“ zur Antwort. Bevor mir der Kragen platzte, sagte ich schlicht: „Weil du stinkst!“ Und das wirkte, anders als alle Schmeicheleien. „Du musst mir aber helfen“. Und so stand ich an meinem Geburtstag in meinem Elternhaus im Schlafzimmer meiner Eltern und half meiner Mutter, sich auszuziehen.
Ich führte sie ins benachbarte Badezimmer, das sie allein nicht gefunden hätte, und knipste das Licht an. Gemeinsam begrüßten wir ihr Spiegelbild, für meine Mutter seit Wochen ein ständiger Begleiter. Ich nahm einen Waschlappen, machte ihn feucht und drückte ihn meiner Mutter in die Hand. Sie betrachtete den Lappen interessiert, wusste aber ganz offensichtlich nicht, was sie damit anfangen sollte. Also führte ich ihre Hand und erreichte immerhin, dass sie ihren Oberkörper wusch. Begleitet wurde die Prozedur von vielen spitzen Schreien, wie kalt das doch sei. Ich rubbelte ihren Oberkörper trocken, was ihr gefiel, und führte sie wieder ins Schlafzimmer, wo ich ihr half, frische Kleidung anzuziehen. Den Gedanken, meine Mutter zu einem Bad zu bewegen, hatte ich schon zuvor schnell aufgegeben, nachdem meine Schwester von Mamas Reaktion auf ihren Hinweis, doch bitte ein Bad zu nehmen, berichtet hatte: „Nein, das tue ich nicht!!!“
Ähnlich verlief das anschließende Zähneputzen. Als ich ihr die Bürste mit Zahnpasta reichte, griff sie stolz strahlend danach und fing an, damit wild im Mund herum zu schrubben. Ich konnte es kaum mit ansehen, andererseits konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen, meiner Mutter auch noch die Zähne zu putzen. Unweigerlich fing ihr Zahnfleisch an zu bluten. Staunend zeigte sie mir das Blut, klagte allerdings nicht über Schmerzen. Vorsichtig tupfte ich das Blut ab, reichte ihr dann einen Becher mit Wasser, um den Mund auszuspülen. Puh, geschafft! Dieser Bedarf nach „erster Hilfe“ ließ mich genauso wie bei einem Unfall funktionieren. Nicht darüber nachdenken, wie fremd, vielleicht auch merkwürdig oder eklig etwas ist, sondern einfach helfen.
So wie hier kam es immer öfter zum Rollenwechsel. Ob ich Mama nun ins Bett brachte, ihr vorlas, sie tröstete oder bei welcher Tätigkeit auch immer anleitete: es war sehr klar, wer das Kind und wer erwachsen war. Manches Mal überforderte mich das völlig. Gerade die immer wiederkehrende Debatte über den bevorstehenden Umzug ins Heim machte den Rollenwechsel für mich besonders schwierig: Einerseits war klar, dass wir Schwestern als die Erwachsenen in dieser Situation Entscheidungen für unsere Mutter treffen mussten, die sie nicht mehr treffen konnte. So beantragten wir vorbehaltlich der rechtlichen Betreuung Leistungen aus der Pflegeversicherung, besichtigten Pflegeheime, sprachen mit Pflegediensten, mit dem Medizinischen Dienst der Krankenkasse und mit der Beauftragten des Amtsgerichts. Wir entschieden nach bestem Wissen und Gewissen, welches Heim sicher, welches eventuell und welches auf gar keinen Fall in Frage käme.
Heimlich stellten wir unsere Mutter auf die Probe. So überredete ich sie zu einem etwa sechs Kilometer langen Spaziergang, um ein Gefühl dafür zu bekommen, ob es ihrer würdig wäre, sie in ein prinzipiell geschlossenes Heim zu bringen. Immerhin hatte sie mir bei jedem meiner letzten Besuche von ihren langen Spaziergängen vor geschwärmt. Da ich mittlerweile wusste, dass es unter den dementiellen Menschen auch so genannte „Läufer_innen“ gab, deren Bewegungsdrang durch die Demenz immens wurde, wollte ich sichergehen, dass wir sie nicht entgegen ihrem Drang „einsperrten“. Die Sorge, so stellte sich allerdings heraus, war umsonst. Schon an der ersten Straßenecke sagte meine Mutter, sie wisse nicht mehr, wo sie sei. Nach etwa zwei Kilometern wurde Mama bedeutend langsamer. Und die letzten zwei Kilometer des Spaziergangs legten wir Hand in Hand im Schneckentempo zurück.
Noch schlimmer waren die sich wiederholenden Debatten mit Mama über den bevorstehenden Umzug. Im September 2006 war ich überzeugt, dass ich es nicht übers Herz bringen würde, Mama selbst im Heim abzuliefern. Aber die Alternative, nämlich sie auszutricksen, indem wir sie in Krankenhaus einlieferten und sie von dort direkt ins Heim verfrachten ließen, schmeckte mir ebenso wenig. Und so versuchten meine jüngere Schwester und ich unabhängig voneinander, Mama den Umzug schmackhaft zu machen. Vielleicht glaubte ich mir sogar selbst, als ich sagte, es sei ja erstmal nur für vier Wochen, und wenn es ihr dort nicht gefiele, dürfe sie natürlich zurück nach hause. Tatsächlich war dies das Angebot des ausgewählten Heims, das es mir definitiv einfacher gemacht hat, mich mit dem Gedanken anzufreunden, meine Mutter ins Heim zu bringen.
Dennoch war jedes der Gespräche mit meiner Mutter über den Umzug eine Qual – und eine Wiederholung. Dazu kam, dass das Datum lange nicht feststand, weil das Heim noch kein Zimmer frei hatte. Und selbst als ein Datum festgelegt worden war – der 1. November – war das für meine Mutter bedeutungslos, weil sie jeden Zeitbegriff verloren hatte. Irgendwann im Oktober 2006 saß ich so mit meiner Mutter wieder einmal im Wohnzimmer, als sie fragte, warum sie denn nicht hier bleiben könne. Ich antwortete, dass sie allein nicht zu recht komme, allein unglücklich sei und dort nette Menschen seien, die sich die ganze Zeit um sie kümmern. Zu erwähnen, dass sie krank sei, hatte ich mir schon lange abgewöhnt, da dies in der Regel zu Tiraden führte, dass sie davon gar nichts wisse, warum ihr das nicht gesagt worden sei, und dass sie doch total gesund sei, das hätte auch die Ärztin gesagt.
Mama wiederholte alle Argumente, die ich schon in- und auswendig kannte: Sie komme gut allein zu recht, außerdem könnte ich sie doch mitnehmen, das wäre gar kein Problem, ich würde das nur nicht wollen, weil ich so gemein sei, etc. pp. Irgendwann in dieser „Unterhaltung“ brach ich schlicht in Tränen aus, rief: „Jetzt hör endlich auf, ich kann nicht mehr!“ Meine Mutter sah mich sehr überrascht an, blieb aber zunächst regungslos. Ich weinte weiter, schluchzte. Mama sagte: „Jetzt hör doch auf zu weinen.“ Ich konnte nicht aufhören, zu viele Tränen wollten endlich geweint werden. Mama zögerte, stand auf, setzte sich neben mich und legte vorsichtig ihren linken Arm um meine Schultern. Ich war erstaunt, überrascht, dachte für einen Moment, meine Mutter sei doch noch da, als Mutter präsent. Doch dann sagte sie mit der Stimme eines dreijährigen Mädchens: „Ich will auch wieder brav sein.“
Was bleibt?
Rund neun Jahre nach dem Tod meiner Mutter bin ich selbst Mutter von zwei kleinen Kindern. Vieles, was sie durch ihre Demenz verlernte, erinnert mich an Dinge, die unser Sohn schon gelernt hat und unsere Tochter noch lernen wird. Der Umgang mit Demenz und Tod hat mich demütiger gemacht, aber auch sehr dankbar dafür, Kinder beim Aufwachsen begleiten zu dürfen: Kinder, die Spaß daran haben, neue Dinge zu lernen. Die Demenz meiner Mutter hat mir zudem ermöglicht, dass ich sie als das Kind kennenlernen durfte, das sie vermutlich einmal gewesen ist. Dafür bin ich sehr dankbar.
[…] Meine Mutter ist nicht mehr da – Andrea berichtet von der schwierigen Zeit. […]