Und jetzt alle oben „mit“
Freund_innen fragten es mich. Journalist_innen fragten es mich. Unbekannte auf der Straße fragten es mich: was ich denn von den Kippah-Demonstrationen in deutschen Städten halten würde als Person, die im Alltag eine Kippah trägt. Als die Demonstrationen gerade brandaktuell waren, wollte ich mich nicht öffentlich dazu äußern; keine Interviews, keinen eigenen Text, keinen Monolog vor Freund_innen in der Straßenbahn. Um ehrlich zu sein, hatte ich lang dazu keine abgeschlossenen Gedanken. Abgesehen von einem diffusen Unbehagen ob dieser Aktion, mochte ich generell die so selten öffentlich ausgedrückte Solidarität mit der jüdischen Gemeinschaft in diesem Land.
Im Grunde kreisen meine Gedanken hierbei um zwei Fragen: Wie können nichtjüdische Menschen am besten ihre Solidarität mit jüdischen ausdrücken? Und wie sollte man angemessen mit einem – eigenen oder fremden – religiösen Symbol (gerade in der Öffentlichkeit) umgehen?
Bayrische Sitten und Symbole
Beginnen wir mit der letzten Frage. Ich lebe mittlerweile in Bayern und muss mich noch immer an die Gepflogenheiten und Eigenheiten dieses Bundeslandes gewöhnen. Ich war in Nordrhein-Westfalen, wo ich mein ganzes letztes Lebensjahrzehnt verbracht hatte, daran gewöhnt, dass es Supermärkte gibt, die erst um Mitternacht schließen, und Kioske, die quasi niemals geschlossen haben. Vor allem nicht an Sonntagen. In Bayern schätze ich mich glücklich, wenn Supermärkte bis 20 Uhr geöffnet bleiben und überhaupt irgendein Laden Lebensmittel an einem Sonntag verkauft.
Und dann die Bürokratie hier! Es gibt viel zu viel davon und nahezu nichts ist online zu erledigen. Man steht länger in Behörden an als in NRW, muss dort mehr ausfüllen und findet dafür schlechtere Öffnungszeiten zum Erledigen vor. Genau wie beim Anblick der noch immer grünen Polizeiuniformen beschleicht mich so oft der Eindruck, man wolle in diesem Bundesland an der gediegenen öffentlichen Alltagskultur der alten Bonner BRD festhalten.
Und so passt es nur zu diesem Festhalten am Alten, das doch so gut, verlässlich und vertraut gewesen war, dass nun allerlei CSU-Politiker_innen am liebsten auch noch jede Abstellkammer einer öffentlichen Einrichtung mit einem Kruzifix bestücken möchten. Das Argument, was dafür vorgebracht wird, ist, dass das Kruzifix Ausdruck der christlichen Prägung des bayrischen Freistaats wäre. Nun gibt es je nach Staatstheorie unterschiedliche Definitionen davon, was ein Staat eigentlich sei und welche Eigenschaften er haben oder nicht haben könne und solle. Ein überwältigender Teil der bayrischen Bevölkerung ist christlich resp. säkular-christlich geprägt. Muss der bayrische Freistaat dann diese Prägung noch irgendwie weiter über ein Gesetz erzwingen? Das erscheint völlig unnötig.
Der Staat und die Bundesländer kommen sehr gut ohne die Bevorzugung einer bestimmten Religion aus – insbesondere dann, wenn die Religion bevorzugt werden soll, die am wenigsten Bevorzugung benötigt. Selbst die katholische Kirche findet den bayrischen Vorschlag der Kruzifix-Pflicht für öffentliche Gebäude scheußlich und lehnt ihn ab. Sie fürchtet hier eine Vereinnahmung, in den Worten von Kardinal Marx sogar eine “Enteignung eines christlichen Symbols”.
Von bayrischen und katholischen Kruzifixen
In der Tat will sich hier ein Bundesland ein religiöses Symbol aneignen. Die Vertreter_innen dieses Bundeslandes vergessen oder missverstehen dabei, dass sie selbst als Privatpersonen ja gern katholisch oder evangelisch sein mögen, doch der Freistaat als politisches und bürokratisches Konstrukt, für welches sie arbeiten, dadurch nicht die Eigenschaft „katholisch“ oder „evangelisch“ erhält. Will sagen: nur weil Söder oder Seehofer das Selbstverständnis haben, als Personen christlich und bayrisch zugleich zu sein, können sie dadurch nicht ihre eigene Religion auf Bayern als politische Entität übertragen oder gar so tun, als wäre das eine durch das andere bedingt.
Dieses Vorhaben mochte bis zur verkündeten Ablehnung der katholischen Kirche seine Fürsprecher_innen unter gläubigen Katholik_innen gehabt haben und mag auch immer noch Anhänger_innen unter den nicht wenigen bayrischen Nationalist_innen haben, die ein Kruzifix nicht nur als christliches, sondern auch oder sogar vor allem als ein Symbol “bayrischer Lebensidylle” empfinden.
Aber ein derartiges Empfinden durch das Verabschieden eines Kruzifix-Gesetzes allen Bewohner_innen Bayerns überstülpen zu wollen, ist intellektuell absurd und hilflos.
Dazu passend hörte ich kürzlich im Radio, wie ein Münchener sagte, dass er, wenn er an „sein“ Bayern denke, ihm gutes Bier und die Berge in den Sinn kämen. Und auf den Bergen, da stünde ja jeweils auch ein Kreuz. Also könne er Berge (und somit Bayern) und Kreuz ausschließlich zusammen denken. Eine interessant hergeleitete assoziative Verquickung, die der Hörer hier in seinem Telefonanruf beim Radio offenbarte. Sie blieb mir ziemlich lang im Ohr, weil sie eine Vereinnahmung und völlige Umdeutung eines religiösen Symbols derart kindlich naiv vortrug, dass alle Ignoranz, die diese Vereinnahmung in sich trägt, beinah unbeachtet bleiben könnte.
Richtige und falsche Aneignungspraxen
Hier machen sich christliche Menschen ein christliches Symbol für politische Zwecke zu eigen, was der Kirche, die sich als Inhaberin dieses Symbols versteht, missfällt. Wie ist es nun aber, wenn sich nichtjüdische Menschen – zweifelsohne aus einer ehrenwerten Absicht heraus – ein jüdisches Symbol für einen anderen politischen Zweck zu eigen machen? Kann man zwischen “guten” und “schlechten” Zwecken unterscheiden, bei denen man sich ein eigenes oder fremdes religiöses Symbol zu eigen macht, oder ist jedwedes Zueigenmachen, ganz egal aus welchem Grund, übergriffig?
Ist ein religiöses Symbol eigentlich überhaupt ausschließlich religiös oder ohnehin stets auch politisch? Und ist es per se falsch, sich das Symbol einer Religion oder Kultur, der man selbst nicht angehört, zu eigen zu machen?
Ich halte es für unmöglich, zwischen guten und schlechten Zwecken zu unterscheiden, wenn es um ein Zueigenmachen eines Symbols geht. Was dem_der einen ein guter Zweck ist, ist dem_der anderen ein schlechter, auch wenn das eine Binse ist. Ich mag es albern oder sogar störend finden, Kruzifixe in allen öffentlichen Gebäuden Bayerns anzubringen, aber so manch eine_r mag darin ein edles Unterfangen sehen, die vermeintliche Erosion der christlichen Kultur in diesem Bundesland zu verlangsamen oder gar zu unterbinden.
Die meisten Menschen fanden es sehr schön, (vor allem) nichtjüdische Menschen mit einer Kippah auf dem Kopf demonstrieren zu sehen, aber ich hörte diesbezüglich auch kritische Stimmen, die fragten, ob diese Aktionen nicht vor allem Happenings gewesen seien, um den Teilnehmenden ein gutes Gefühl zu verschaffen, während die Demonstrationen rein gar nichts an der Sicherheitslage jüdischer Menschen und Gemeinden verändert haben; unüberlegter, hilfloser Aktionismus, der womöglich gar nicht für mehr Solidarität mit jüdischen Kippah-Träger_innen sorgt, sondern schlichtweg für mehr Aufmerksamkeit für diese – egal ob dies nun gut ist oder gar gefährlich.
Das Eigene und das Fremde?
Zwischen eigenen und fremden religiösen Symbolen zu unterscheiden, ist da scheinbar etwas leichter. Das Kruzifix ist ein christliches, die Kippah ein jüdisches, der Hijab ein islamisches Symbol. Derlei fixe Zuordnungen sind in der Theorie einfach, in der Praxis oft diffuser. Ein Kruzifix mag modisch derart weit unten gekürzt sein, dass es lediglich wie ein Pluszeichen aussieht. Vielleicht ist es dann auch eines. Eine Kippah ließe sich fürs ungeübte Auge durchaus mit diversen muslimischen Kopfbedeckungen für Männer verwechseln (ich wurde mit meiner Kippah schon das eine oder andere Mal für muslimisch gehalten – übrigens von Muslimen selbst). Und Kopftücher werden auch beim Kirchgang orthodoxer oder orientalischer Kirchen von Frauen getragen oder auch von nichtmuslimischen Frauen aus dem Balkan, Südosteuropa oder Russland.
Umgekehrt führt auch eine fälschliche Identifikation eines Kleidungsstücks z.B. als Kippah zur richtigen Assoziation: dieses Kleidungsstück, das ich für eine Kippah halte oder aber das ich vielleicht nicht einmal korrekt zu benennen weiß, gehört zu den Juden. Eine solche Assoziation ist wirkmächtig.
Denn Menschen, die eine Kippah tragen, werden anders behandelt als Menschen, die keine tragen.
Hierin liegt auch die eigentliche Crux für mich, was die Kippah-Demonstrationen betrifft:
Menschen, zumeist nichtjüdische, haben sich eine Kippah aufgesetzt und sich damit ein jüdisches Symbol zu eigen gemacht, sich dabei aber den typischen wirkmächtigen Assoziationen entledigt, die etwa meinen Alltag einschränken.
Derlei Einschränkungen sind, dass manche im Gespräch mit einem wie auf Eierschalen gehen. Dass viele, viele Menschen einen deshalb schlechter, ja feindselig behandeln; einen aus der Ferne oder sogar Nähe anbrüllen, einen bedrohen und Angst machen oder einen auch körperlich verletzen. Dass man in einem Café nicht oder nur widerwillig bedient wird oder man auf bestimmten politischen oder kulturellen Veranstaltungen als unerwünscht erklärt wird.
Dass man beobachtet oder sogar moralin gemaßregelt wird, wenn man mal bei Rot über die Ampel läuft. Dass man immer wieder therapeutisch herhalten muss, wenn nichtjüdische Deutsche einem beim Bahnfahren oder Einkaufen oder im Wartezimmer vom Zahnarzt ihre – zumeist geklitterte – Familiengeschichte mit oder ohne Naziverstrickungen oder mit Fluchterfahrungen erzählen, die „ja auch fast so schlimm wie der Holocaust, müssen Sie wissen“ gewesen wären. Und eine solche Einschränkung ist es auch, dass ich nicht frei und sicher durch alle Viertel aller Städte dieses Landes spazieren kann. Denn bestimmte Stadtteile in Düsseldorf, Duisburg, Dortmund, Berlin, Magdeburg, Hamburg etc. bedeuten für eine Person mit Kippah eine reale Gefahr.
Dieses kleine Stück Stoff
ist nicht leicht zu tragen
Das kann kein Reporter, der mal für einen Tag eine Kippah trägt und damit durch Neukölln schlendert, nachempfinden. Und das kann niemand nachempfinden, der_die bei einer Kippah-Demonstration war und mir hinterher erzählt, dass er_sie ja – Wunder, oh Wunder! – gar nicht angefeindet wurde mit Kippah in einem riesigen Pulk aus Gleichgesinnten und das in den ganzen dreieinhalb Stunden, die er_sie dieses Kleidungsstück trug! Gleichzeitig trugen ein paar Demonstrant_innen in einem Berliner Stadtteil nur wenige Minuten eine Kippah und wurden dann direkt physisch angegangen, sodass ihre Demonstration zu ihrer eigenen Sicherheit abgebrochen werden musste. Danach musste ich hören, dass ich doch lebensmüde sei, überhaupt irgendwo eine Kippah zu tragen.
Aber so ist die Wirklichkeit auch nicht.
Ein simpler Fakt ist, dass kaum Jüdinnen und Juden offen mit Kippah in ihrem Alltag herumlaufen. Selbst streng orthodoxe Juden machen das zumeist nicht, weil sie stattdessen oder darüber eine Mütze oder einen Hut tragen. Daran ist auch genau gar nichts auszusetzen. Auch die meisten jüdischen Facebook-Freund_innen von mir, von denen ich weiß, dass sie auf Kippah-Demonstrationen waren, tragen in ihrem Alltag keine Kippah. Auch unter ihnen sind viele Fehlvorstellungen über die Implikationen und Konsequenzen des Kippahtragens verbreitet. Darunter ist etwa jemand, der stets – auch pressewirksam – leugnet, dass es No-Go-Areas in Deutschland gäbe, obwohl er im Alltag selbst nie als Jude zu erkennen wäre.
Ich trage meine Kippah im Alltag zum einen, weil ich religiös bin und sie mich zu dem Versuch anhalten soll, ein guter Mensch und Jude zu sein.
Ich trage sie aber auch aus bürgerrechtlicher Überzeugung, dass es einfach gehen muss, dass ich meine Kippah tragen kann, weil es mein von anderen hart erkämpftes Recht ist, mich frei zu entfalten und mein Bekenntnis offen zu tragen, ausdrücken zu können und zu dürfen, was für mich besonders wichtig ist, was mich ausmacht, wohin und zu wem ich gehöre.
Dieses Recht verliert man, wenn man es einfach nicht mehr wahrnimmt – etwa aus Angst. Ich würde niemals andere Jüdinnen und Juden zum Kippahtragen anhalten, denn die Entscheidung dazu soll jedem_r selbst ebenso frei überlassen sein. (Und ich möchte mich auch nicht schuldig fühlen, sollte ich jemanden dazu ermutigen, der_die dann deshalb im Krankenhaus landet.)
Die vielen Formen, Farben
und Dimensionen der Kippah
Das Zueigenmachen dieses jüdischen Symbols bei den Demonstrationen kann also nicht so wirkmächtig sein wie das Kippahtragen im Alltag und sogar kontraproduktive Schlüsse für die Teilnehmenden ziehen lassen. Allerdings mag man direkt einwenden, dass diese Demonstrationen auch gar nicht dazu dienten, sich in den Alltag Kippah tragender Personen einzufühlen. Der Zweck sollte zuvorderst die Bekundung der Solidarität mit den Opfern antisemitischer Gewalt sein. Das ist, wie gesagt, ein ehrenwerter Zweck.
Nun bin ich einer derjenigen, die im Alltag mit abstumpfender Regelmäßigkeit von Antisemitismus getroffen werden, weil ich stets in der Öffentlichkeit als jüdisch zu erkennen bin. Und ich muss gestehen, dass ich, auch wenn ich rational die Intention der Kippah-Demonstrationen absolut nachvollziehen kann, ein gar nicht einmal so vages Unbehagen empfunden habe, als ich die vielen Menschen mit Kippah im Fernsehen sah.
Ich gestehe weiter, dass ich es als regelrecht ungerecht empfand, dass das Kippahtragen in Form eines Happenings hauptsächlich nichtjüdischer Menschen derlei viel Aufmerksamkeit erfuhr, aber nicht die jüdischen Menschen als Individuen im Zentrum der medialen und politischen Betrachtung standen.
Es ging dabei um nichtjüdische Deutsche und was sie in ihrem Land dulden und was nicht. Es ging um Solidarität von vielen lieben Menschen. Aber auch von solchen, deren Solidarität ich nicht will. Ich will keine rechtsextremen, islamfeindlichen Burschenschaftler oder AfD-Anänger_innen mit einer Kippah auf dem Kopf sehen. Das empfinde ich als anstößig.
Und eigentlich merke ich immer wieder, dass ich nicht möchte, dass nichtjüdische Menschen dieses Symbol an sich nehmen. Nichtjüdische Menschen können gern eine Kippah tragen in der Synagoge, auf dem jüdischen Friedhof oder wenn sie bei jüdischen Anlässen wie einer Hochzeit oder bei jüdischen Ritualen anwesend sind. Aber ich mag es nicht, wenn sie eine Kippah als halbgare Mutprobe oder als Stimmungsbarometer tragen oder weil sie sehr christlich sind oder gerne in Israel Urlaub machen oder warum auch immer, sie eine Kippah zweckentfremden. Aber wie definiert man hier Zweckentfremdung?
Die Kippah ist nicht ausschließlich ein religiöses Symbol. In erster Linie ist es das, aber eben nicht nur. Man trägt sie als ziemlich alten religiösen Brauch, der in der Tat so noch nicht in der Torah zu finden ist, sehr wohl aber bereits im Talmud. Man drückt damit seine Ehrfurcht vor G’tt aus. Dieser Brauch wurde derart konsequent über die Zeiten hinweg befolgt, dass er Teil des kodifizierten jüdischen Religionsgesetzes, der Halacha, wurde. Doch performativ betrachtet ist die Kippah vor allem ein Ausdruck von Zugehörigkeit: grundsätzlich zum jüdischen Volk, in seinen Feinheiten zu einer bestimmten jüdischen Strömung oder Gruppierung. Und das mag auch eine jüdische kulturelle, politische oder institutionalisiert soziale Gruppe sein.
Denn in jüdischen Altenheimen tragen auch einige nichtreligiöse jüdische Herren eine Kippah. Bei Kulturveranstaltungen werden mitunter auch passende Kippot verteilt, die dann viele tragen. Bei einer jüdischen Hochzeit tragen oft auch die atheistischsten jüdischen Herren im Festsaal noch ihre Kippah. Auch nichtreligiöse jüdische Siedler_innen tragen bestimmte Arten von Kippot – zumeist weiß und gehäkelt –, um ihre politische Gesinnung darzustellen.
Die schwarze Samtkippah weist auf einen orthodoxen Träger hin. Und eine Regenbogen-Kippah mag demonstrieren, dass man sich solidarisch zeigt mit der LGBTQI-Gemeinschaft und zugleich selbstbewusst religiös ist. Oder aber ein nichtreligiöser jüdischer Mensch trägt eine solche Kippah beim CSD, um eine doppelte Zugehörigkeit oder jüdische Sichtbarkeit zu zeigen. Die Schüler_innen einer jüdischen Schule können einfach per Schulverordnung dazu angehalten sein, eine Kippah zu tragen und betrachten sie daher als Teil einer Art Schuluniform. Und es gibt noch dutzende andere Kontexte, in denen die Kippah eine jüdische Person spezifisch verortet. (Während ich diese Worte schreibe, trage ich übrigens eine Star Wars-Kippah, weil ich in wenigen Stunden den neuen Film aus der Reihe sehen werde und hier eine Synergie aus Jüdischsein und Star Wars schaffe. Und ja, natürlich kann eine Kippah auch Mode und Zeitgeist wunderbar reflektieren.)
Zot ha’kipah sheli, dos iz mayn yarm(u)lke,
das ist mein Käppchen
Doch auch wenn eine Kippah spezifische Zugehörigkeit zu einer jüdischen Gruppierung oder einem jüdischen Kontext ausdrücken kann, so ist es doch stets eine Zugehörigkeit zu etwas Jüdischem. Und welche Arten von Kippot ich als Jude auch auseinanderhalten kann, so sind diese Unterscheidungen für nichtjüdische Betrachtende zumeist unsichtbar. Kippah bedeutet Jude. Oder bedeutet Israeli, was für einen Großteil der hiesigen Bevölkerung ohnehin dasselbe ist. Hier herrscht eine enorme Ignoranz, die zu beliebigen und falschen Assoziationen führt.
Und so darf es gar nicht wundern, wie beliebig und gedankenlos mit einem jüdischen Symbol von nichtjüdischen (und z.T. auch jüdischen) Menschen umgegangen wird, zu dem kaum jemand in diesem Land einen näheren Bezug hat oder etwas über seine Herkunft und Bedeutung versteht.
Daher auch meine zugegeben langen Exkursionen hier und da zu diesem Kleidungsstück, das wir in diesem Land ohnehin erst seit der Nachkriegszeit überhaupt konsequent Kippah nennen, als wäre das vollkommen selbstverständlich. Nicht wenige unserer Großeltern und Urgroßeltern nennen sie Yarmulke (die jiddische Bezeichnung, die noch heute das Standardwort im anglophonen Raum ist), Käppchen, Kappe, Kappele oder Käpple, also u.a. flektiert nach deutschen Dialekten.
Auch hier hat die Shoah eine Zäsur bedeutet; eine Zäsur hinsichtlich des Wissens über dieses Kleidungsstück und der Performanz ihres Tragens. Die Kippah ist nicht mehr selbstverständlich. Auch für die Jüdinnen und Juden in diesem Land nicht.
Es ist ein Kleidungsstück, das zu bestimmten Zeiten aus bestem Stoff und reichlich verziert mit Stolz verschenkt wurde. Und zu anderen Zeiten ein Alltagsgegenstand war, der in der Sonne ausblich, der viel Regen und Schnee abbekam, immer wieder auf den Boden viel, Staub und Macken und Löcher abbekam, bis er dann durch einen neuen ersetzt wurde. Ein oft so innig behandeltes Kleidungsstück, mit dem man betete, aber auch auf dem Feld arbeitete, es nur zum Schlafen im Schtetlbett abnahm und küsste, wenn es einem einmal heruntergefallen war. Oder das man, an anderem Ort, zu anderer Zeit nur für den Gang in die Synagoge hervorholte und wusste, dass genau diese Kippah, nein, dieses Käppchen vom Großvater an einen vererbt worden war. Oder das Kleidungsstück, für das man im Ghetto vom deutschen SS-Mann mit höherer Wahrscheinlichkeit erschossen werden konnte, wenn man es trug.
Wie können nichtjüdische Menschen
am besten ihre Solidarität mit jüdischen ausdrücken?
Die Kippah ist nicht nur ein Stück Stoff. Sie ist ein Symbol jüdischer Zugehörigkeit, jüdischer Religion, Kultur, Politik, Geschichte. Und wenn man sich dessen bewusst ist, nimmt man vielleicht größeren Abstand dazu, sich dieses Symbol als nichtjüdische Person zu eigen zu machen. Das ist auch gar nicht notwendig, womit ich die eingangs gestellte Frage beantworten möchte: Wie können nichtjüdische Menschen am besten ihre Solidarität mit jüdischen ausdrücken?
Indem man demonstriert, ohne dabei jüdische Symbole in Anspruch zu nehmen. Man kann auch klassische Plakate schreiben, Kerzen anzünden oder schweigen.
Man kann aber viel besser noch hinschauen, wenn jemandem, der_die als jüdisch erkennbar ist, etwas Zwielichtiges oder Bedrohliches widerfährt. Und einschreiten.
Die Polizei rufen. Nicht zögern oder lang nachdenken oder womöglich noch ein Foto vom Geschehen machen (mir alles schon so geschehen), sondern sich einmischen und etwas dagegen tun. Zum Hörer greifen reicht manches Mal schon aus.
Leuten widersprechen, die Antisemitisches sagen, auch wenn es die eigenen Eltern, Großeltern oder Freund_innen sind. Mal eine Führung durch eine nahe gelegene Synagoge machen oder sogar einen G’ttesdienst besuchen, um dieses vage und oft so inhaltsleere Bild vom Judentum mit etwas zu füllen. Denn dann greift man bei Gefahr leichter zum Hörer. Oder macht einen beherzten Satz auf die Angreifenden zu.
Oder steht einem einfach bei.
—
Nachtrag: Ich habe diesen Essay geschrieben, ohne den Begriff der cultural appropriation dafür zu nutzen. In Bezug auf jüdische Kultur ließe sich hierzu ein ganz eigener Essay schreiben, der auch von jüdischen Kulturfestivals ohne Jüdinnen und Juden, Gedenkveranstaltungen zur Shoah ohne Jüdinnen und Juden, Menorot (Pl. von Menorah) in Kirchen, nichtjüdischen deutschen Schriftsteller_innen, die sich jüdisch klingende Pseudonyme geben, und von zig weiteren Dingen erzählen würde. Die Kippah-Demonstrationen mag man ebenfalls hier einordnen, aber da sie nur ein einmaliges Phänomen sind, schenke ich mir an dieser Stelle eine Einordnung.