Warum ich bei der WM nicht für Deutschland jubele
Dies ist ein Beitrag aus unserer Rubrik kleinergast, in der wir alle Gastartikel veröffentlichen.
Dieses Mal kommt er von Oliver.
Oliver lebt in Berlin, studiert Politik und schreibt über Rap und anderes.
Von Fußball hält er viel, von Nationalismus gar nichts.
Oliver auf rap.de • @doktorallesklar
—
Es ist Sommer 1986. Ich bin neun Jahre alt, sitze im elterlichen Wohnzimmer auf dem Sofa und schwenke eine selbstgebastelte Fahne. Im Fernsehen läuft Fußball. Das WM-Finale Argentinien gegen Deutschland. Die Fahne habe ich in drei Farben angemalt: Schwarz, rot und gelb – goldene Malstifte hatte ich leider nicht. Mein Vater, der neben mir sitzt, und ich sind total überzeugt: Es gibt einen kausalen Zusammenhang zwischen meinem Wedeln mit der Fahne und den beiden deutschen Toren.
Auch die schlussendliche Niederlage durch ein Burruchaga-Tor ändert nichts daran: Zu dieser Zeit hatte ich ein sehr entspanntes Verhältnis zu schwarz-rot-goldenen (-gelben) Fahnen. Wo immer ich eine sah, vor einem Amt, in einem Schrebergarten, dachte ich an: Fußball! Wenn Deutschland spielte, vergaß ich plötzlich, dass ich die Bayern-Spieler ja eigentlich nicht mochte – ich bin Fan vom VfB Stuttgart – und ich jubelte für die Nationalmannschaft.
„Deutschland muss sterben“
Später wurde die Beziehung zwischen Schwarz-Rot-Gold und mir komplizierter. Schon die Wiedervereinigung und der damit verbundene nationale Taumel waren mir suspekt.
Ich war in der Pubertät und hörte Deutschpunk. „Deutschland muss sterben“, so hieß mein Lieblingssong. Für Fußball interessierte ich mich kaum noch, und wenn, war ich auf jeden Fall gegen die deutsche Nationalmannschaft, egal, wer der Gegner war.
10 Jahre nach meiner ersten bewusst erlebten WM versauten mir Vogts und Bierhoff die Abi-Sause: Holten die doch einfach den Europameistertitel in England! Hasserfüllt schaute ich auf den großen Bildschirm, der in der Aula unserer Schule aufgestellt worden war. Zwar hörte ich keinen Deutschpunk mehr, aber mit Deutschland wollte ich trotzdem nichts zu tun haben. Die Welle rassistischer Gewalt, die nach der Wiedervereinigung durch ganz Deutschland rollte, hatte viel damit zu tun.
Schwarz-Rot-Gold und ich waren geschiedene Leute.
Ein entspannter Neuanfang?
Doch zum zwanzigsten Jubiläum näherten wir uns wieder ein bisschen an. Es war 2006, die WM fand in Deutschland statt. Zum ersten Mal wurde die deutsche Nationalfahne Pop. Blumenketten in schwarz, rot und gold, Autofahnen in schwarz, rot und gold, Kondome, Würstchen, Bierbecher in den Landesfarben – nichts wurde ausgelassen. Außer Toilettenpapier.
Ich war inzwischen etwas abgeklärter. Vielleicht stimmte die Geschichte vom angeblich entspannten Nationalstolz ja, dachte ich. Schließlich hatten mich in anderen Ländern die dortigen Fahnen auch noch nie groß gestört. Ich wollte Schwarz-Rot-Gold eine Chance geben. Ein Neuanfang schien möglich.
Bis zum Halbfinale ging tatsächlich alles gut. Es war fast wieder wie früher. Ich saß vor dem Fernseher und jubelte für Deutschland. Tat gar nicht weh. Statt einer selbstgebastelten Fahne hatte ich eine aus Plastik, die ich auf der Straße gefunden und bei mir aufgenommen hatte.
Doch dann kam das Halbfinale. Gegen Italien. Ein spannendes Spiel – und am Ende eine verdiente Niederlage gegen spielerisch bessere Italiener. Geknickt schlich ich durch die immer noch gut gefüllten Straßen von Berlin – und musste mit ansehen, was aus dem entspannten, weltoffenen Patriotismus wurde: Männerhorden in schwarz-rot-gold stürzten sich auf einen kleinen Fiat, dessen Insassen sie anhand seiner grün-weiß-roten Fahne als Italienfan identifiziert hatten. Sie umringten den Wagen und begannen, ihn zu schütteln und durchzurütteln. Ich sah das Gesicht des Mannes, der am Steuer saß. Er hatte Angst. Todesangst.
Niemand griff ein. Ich auch nicht. „Die meinen das doch nicht böse, sind halt sauer, weil wir das Spiel verloren haben“, versuchte ich mein Entsetzen irgendwie kleinzureden und ging weiter. Aber das Bild hatte sich tief in mein Gedächtnis gebrannt.
Bis heute muss ich daran denken, wenn vom angeblichen entspannten Patriotismus der Deutschen anlässlich von Fußballturnieren die Rede ist. Wie entspannt ist es, wenn eine einzige Spielniederlage dazu führt, dass wütende Horden andere Menschen verängstigen und belästigen?
Das Spiel ist aus
Es war aus. Aus und vorbei. Schwarz-rot-gold und ich konnten nie wieder zusammen sein. Auch keine Freunde mehr. Für mich steht seit diesem Moment in Berlin 2006 fest: Es gibt keinen „entspannten Patriotismus“, jedenfalls nicht in Deutschland. Stattdessen gibt es Diskussionen darüber, ob die Spieler der Nationalmannschaft deutsch genug sind. Ob sie die Hymne mitsingen müssen. Ob es ein Kniefall vor einem herbeiphantasierten linken Zeitgeist ist, dass die Nationalmannschaft offiziell nun “Die Mannschaft” heißt. Ich will gar nicht wissen, was für ein gefährlicher Bullshit da in den nächsten Wochen noch dazu kommt.
Wenn Deutschland bald in Russland spielt, haben sie bei mir jedenfalls keinen Sympathie-Bonus. Spielen sie gut, gönne ich ihnen den Sieg. Spielen sie schlecht, sollen sie verlieren. Spielen nur Bayern-Spieler, ist mir letzteres noch mehr recht.
Schön fände ich es, wenn keiner von ihnen vorher bei der Hymne mitsingt. Das wäre die einzig richtige Antwort auf diese unsägliche Nulldiskussion, ob es eine Singpflicht gibt oder nicht, und wenn ja, für wen. Eine schwarz-rot-goldene Fahne kommt mir jedenfalls nicht ins Haus.
Wenn, dann höchstens eine belgische. Die Farben an sich sind ja nichts Schlechtes – wenn man sie anders kombiniert.