Zuhause im Fluss
Ich schaue aus dem Fenster hinunter auf die Brücke, über die geschäftig Menschen in dicken Jacken und Wintermänteln gehen. Fahrräder, Autos und gelegentlich Busse überholen sie. Es gibt hier keine Straßenbahn. In der ganzen Stadt nicht. Unter der Brücke wohnt ein schmaler, kraftloser Fluss, der sich an eine uralte Steinmauer anschmiegt, die vielleicht älter sein mag als nahezu alles von Menschenhand Geschaffene in der Stadt, in der ich noch bis vor kurzem gelebt habe.
Ich bin nach sieben Jahren aus einer Stadt fortgezogen, die mit dem Rhein einen doch imposanten Fluss beherbergt, der nicht umsonst Dichter_innen und Maler_innen Worte und Bilder abrang. Ich hatte das Glück, ganz nah am Rhein wohnen zu können. Mein Weg zur Uni führte mich dicht an ihm entlang, Freund_innen, die mich besuchten, wollte ich den Blick eröffnen, wie die Sonne am späten Nachmittag beißend weiß und zugleich tief orange auf den Fluss fiel, und manchmal saß ich auf der flachen Deichmauer, ganz allein, wenn es schon dunkel war und niemand sonst noch da draußen war und schaute auf das Wasser, das ich auch in der Nacht noch im Schwarz wandern ahnte.
Nach meinem letzten Tag an der Universität verabschiedete ich mich vom Rhein. Die Sonne gab nicht mehr viel Licht her und die Wolken taten ihr Übriges, dass das Wasser fahl graublau aussah. Der Fluss war ruhig und ich hatte rechte Mühe, überhaupt Bewegung in ihm zu erkennen, als ich an einem Geländer stand und eine ganze Weile auf seine Oberfläche starrte. In sieben Jahren hatte ich den Fluss nie berührt. Nie meine Hand oder meinen Fuß in ihn gehalten, geschweige denn in einem heißen Sommer in ihm gebadet. Wenn ich mich als kleines Kind besonders über etwas gefreut habe, wollte ich es nur ansehen. Nicht anfassen, nicht ausprobieren. Nur anschauen. Manches Mal sogar mit respektvollem Abstand und Schweigen. Zugegeben hat dieser Ausdruck von Freude schon den einen oder die andere um mich herum irritiert.
Ich habe an diesem Fluss Rhein gepicknickt, getanzt, geküsst, geweint, sogar geschlafen. Ich habe ihn oft mit Musik in den Ohren Rad oder Inlineskates fahrend oder mit einem Eis in der Hand genossen. Ich war oft mit meinen Freunden dort. Und einmal im Jahr an Rosch haSchana habe ich mithilfe des Rheins den uralten Taschlich-Brauch erfüllt, indem ich kleine Steinchen aus meinen Hosentaschen in ihn geworfen habe als Symbol dafür, dass eigene Verfehlungen vergeben und den Steinchen gleich, die in das Dunkel des Wassers hinabsinken, vergessen werden können.
Wenn ich als Kind meiner Oma von den besten Erlebnissen auf der Insel Fehmarn, auf der ich oft die Ferien mit meinen Eltern und Geschwistern verbracht hatte, berichtete, beschrieb ich ihr stets, wie wundervoll, roh und gewaltig ich den Anblick des Meeres fand anstatt ihr davon zu erzählen, wie schön es für mich war, mit meinem Vater im Herbstwind am Strand Drachen steigen zu lassen. Wie auszeichnend ich es dabei fand, wenn er mich ganz allein einen riesigen Lenkdrachen fliegen ließ. Ich sagte meiner Oma nicht, wie gern ich damals mit meinen Geschwistern herumgetobt hatte, und wie geborgen ich mich fühlte, wenn ich immer wieder beim Spazieren, Laufen und Tollen in die Arme meiner Mutter lief.
Von meiner ersten Reise nach Israel habe ich noch einen langen Tagebucheintrag, in dem ich ausführlich schreibe, wie sehr mir in Tel Aviv der erste Blick auf das Mittelmeer ans Herz ging und wie ich mich am Strand nachzuempfinden mühte, wie die Jüdinnen und Juden, die in Hoffnung auf eine eigene Heimat vor nur wenigen Generationen Europa verlassen und jene Stadt errichtet hatten, wohl zum ersten Mal diesen Anblick des warmen Mittelmeeres empfunden haben mussten. Ich verlor in meinem Tagebuch aber kein Wort über den Anlass meiner Reise, mit wem ich dort war oder was ich noch Weiteres sah.
Und von meinen wirklich wunderschönen Aufenthalten mit Freund_innen in einem Haus am Meer in den Niederlanden habe ich als Erinnerungen lediglich Gedichte über die Nordsee niedergeschrieben.
Doch wenn ich diese Gedichte lese, erinnere ich mich daran, in welchen Situationen ich sie geschrieben hatte. Ich sehe dann das Sofa in dem Haus am Meer vor mir, auf dem ich sitze, und den Block, auf dem ich ein paar wahre Sätze über das Meer zu fassen versuche. Ich höre dann, wie eine Freundin mich fragt, was ich denn da schreiben würde, während sie am Küchentresen sitzt und noch ein paar Pinienkerne in ihren Salat streut. Ich sehe dann, wie zwei Freunde von mir mit einem Einkauf die Tür hereinkommen und mit eben jener kämpfen müssen, weil es windig ist und sie nicht mehr richtig schließt. Ich weiß dann wieder, wie ich aufstehe und mir ein Sandwich mit extra vielen eingelegten Gurken mache, während sich meine Freund_innen langsam vor dem Fernseher versammeln, um gemeinsam einen Film zu schauen. Und ich weiß dann, wie zufrieden ich mich an diesem Tag gefühlt habe.
Und wenn ich jetzt auf die Brücke in der neuen Stadt und auf den schmalen Fluss schaue und davon erzähle, wie bedeutend und nah mir in der Stadt am Rhein, die ich verlassen habe und in der ich sieben prägende, gute Jahre verbracht habe, ein Fluss war, dann werden mich diese Worte hoffentlich immerzu daran erinnern, was ich mit ihnen ungesagt lasse. Wen ich mit ihnen ungesagt lasse.
Es fiel mir nie besonders leicht, über die Menschen, die ich gern habe oder liebe, zu sprechen oder zu schreiben. Dieses Gefühl, das ich für sie generell und in bestimmten Momenten besonders empfinde, zu beschreiben. Erst recht nicht, wenn ich auch noch von ihnen fortziehe.
„Wenn du mir nicht von deinen Eltern, deinen Geschwistern und davon, was du mit ihnen auf der Insel unternommen hast, erzählen möchtest, dann erzähl mir doch einfach vom Meer, ja?“, schlug mir meine Oma damals vor. Seitdem habe ich immer wieder vom Meer, von Flüssen erzählt. Und doch nur von Menschen.