Bist du Jungfrau? Wie es ist, (noch) keinen Sex gehabt zu haben (Teil 1)
“Ich finde es schwierig. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich diejenige bin, die nichts von der Torte abbekommen hat. Ich weiß viel über Sex. In der Theorie. Aber mitreden ist da halt nicht so drin. Mir ist es peinlich. Es fühlt sich so an, als wäre es ein Makel. Dabei hätte ich ja die Chance gehabt und habe mich selbst dagegen entschieden.” – Neczka
“Die ständige Angst, als die „die Jungfrau“ abgestempelt zu werden, lähmt einen bei der Interaktion mit anderen Menschen. Weil es kein Label ist mit dem man unbedingt identifiziert werden möchte. Weil man in sich viel mehr sieht als das, und man Angst hat, das alles andere daneben verblasst.” – Jule
“Früher hab ich es auf mein Aussehen bezogen und hatte große Komplexe. Jetzt überlege ich, ob ich vielleicht asexuell bin, weil ich eigentlich auch nicht besonders interessiert bin an Sex.” – Klara
“Manchmal habe ich Lust, aber ich bin entschieden, vor der Ehe keinen Sex zu haben und halte diesen schützenden Rahmen der Ehe für gut.” – ohne Namen.
“Für mich bedeutet das, etwas verpasst zu haben und oft auch der Außenseiter und die „Prüde“ zu sein. Für mich bedeutet es aber auch, zu warten, bis ich mir sicher bin und nicht einfach den nächstbesten zu vögeln, den ich finde.“ – Annie
“Mir persönlich ist es meistens vollkommen egal, da Sex in meinem Leben einfach keine Rolle spielt.” – Em
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Sex ist in unserer Gesellschaft allgegenwärtig. Aber das heißt nicht, dass auch alle erwachsenen Menschen Sex haben, bereits Sex hatten, oder das überhaupt möchten. Das Thema “kein Sex” hat mich aus vielen Gründen interessiert: Weil ich selbst zumindest die Erfahrung von Penetrationssex erst relativ spät gemacht habe, weil ich mich schon häufiger mit Menschen unterhalten habe, die noch nie Sex hatten – schließlich auch, weil die Erfahrung davon, keinen Sex zu haben, für mich zum über Sex reden dazu gehört.
Um mehr darüber zu erfahren, und gleichzeitig die Leute, die es betrifft, selbst zu Wort kommen zu lassen, habe ich eine Umfrage dazu gemacht, wie es ist, (noch) keinen Sex zu haben. Ich habe sie ausschließlich über meinen Twitter-Account verbreitet und hatte trotzdem innerhalb von zwei Tagen 30 Antworten auf meinen Fragebogen, innerhalb von zwei Wochen über 50.
Die Ergebnisse möchte ich euch nicht vorenthalten. Sie sind sogar so umfangreich und interessant, dass ich heute nur den ersten Teil davon präsentieren kann. Heute gibt es also einen ersten Überblick über das Thema – was ist überhaupt gemeint, wenn wir von “noch keinen Sex gehabt” sprechen und was steckt dahinter für die Menschen, die es betrifft?
Viele der Befragten haben ausgedrückt, dass sie sich freuen, dazu befragt zu werden, weil sie sonst kaum darüber reden können. Es scheint also ein drängendes Thema zu sein – let’s talk about not having sex!
Wer hat mitgemacht?
Wie bei Forschungsberichten üblich, möchte ich mit einer knappen Stichprobenbeschreibung anfangen, damit ihr euch vorstellen könnt, über wen ihr hier eigentlich lest.
An der Umfrage haben insgesamt 53 Personen teilgenommen.
- 29 von ihnen sind weiblich, 15 männlich, 9 gehören zum nicht-binären Spektrum.
- Das Alter der Teilnehmenden liegt zwischen 17 und 45 Jahren bei einem Durchschnitt von 24.
- 29 der Teilnehmenden sind heterosexuell, 10 sind bi- oder pansexuell, 8 sind asexuell und 3 sind lesbisch. 3 haben keine sexuelle Orientierung angegeben oder sind (noch) unsicher.
- Die Namen hinter den Zitaten sind Pseudonyme, die sich die Befragten selbst ausgesucht haben, also nicht die Pass-Namen der Teilnehmenden.
Wie jungfräulich bist du eigentlich?
Wenn ich definieren will, ob ich jetzt eigentlich Sex hatte oder nicht, muss ich notwendig auch definieren, was Sex eigentlich ist. Deswegen habe ich die Teilnehmer*innen an meiner Umfrage auch gefragt, was sie unter Sex verstehen. Die Antworten zu dieser Frage habe schon in meinem Text über Sex und Bedürfnisse ausgewertet, deswegen erhalten sie hier weniger Platz. Sie sind vielfältig und reichen von Penis in Vagina bis alles, was die Beteiligten einvernehmlich zusammen tun.
Genauso vielfältig wie die Definitionen von Sex sind, sind die sexuellen Erfahrungen, die die Teilnehmer*innen gemacht haben. Sie reichen von
„Keine – ich hatte bisher weder Sex noch Pettingerfahrungen, ich masturbiere auch nicht.” (Tabea)
über Selbstbefriedigung, Küssen, Fummeln und Petting, Oralsex, Cybersex bis hin zu
“Viele. Mehr als mir lieb ist vielleicht. Von den gängigen Praxen die man heute benennt, habe ich bereits ziemlich viel ausprobiert. Von Penetration mit der Hand, über Oral- und Analverkehr, sowie Sextoys bis hin zum Orgasmus durch Fremdeinwirkung in der Öffentlichkeit (um genau zu sein, durch eine Massagedüse im Schwimmbad).” (Meg)
Erkenntnis Nummer 1: Wir reden überhaupt nicht über das Gleiche, wenn wir darüber reden, noch keinen Sex gehabt zu haben. Die Leute, die in meiner Umfrage mitgemacht haben, haben unterschiedlich viele und unterschiedlich intensive sexuelle Erfahrungen gemacht. Ganz offensichtlich ist die Jungfräulichkeit kein binärer Zustand (entweder du bist es oder du bist es nicht), sondern es gibt eigentlich unterschiedliche Arten, (noch) keinen Sex gehabt zu haben.
Mit Anfang 20, als ich mich selbst als jungfräulich definiert habe, und auch von anderen so definiert wurde, habe ich mich gar nicht unbedingt jungfräulich gefühlt. Ich hatte sexuelle Kontakte mit anderen, eigentlich solange ich mich überhaupt zurück erinnern konnte. Ich hatte mehrere Beziehungen geführt und verschiedene Arten von Sex ausprobiert, nur eben noch keinen vaginalen Penetrationssex gehabt. Auch seitdem fühle ich mich immer wieder “jungfräulich” – beim ersten Sex mit Strap-On, beim ersten One-Night-Stand, eigentlich immer wieder bei den ersten Malen Sex mit einer neuen Person. Ich finde das schön. Sex kann immer wieder anders und neu und aufregend sein. Ich habe noch lange nicht das Gefühl, alles ausprobiert zu haben und ich glaube auch nicht, dass ich dieses Gefühl jemals haben werde.
Die Erkenntnis, dass es sich bei der Jungfräulichkeit nicht um einen binären Zustand handelt, hatte auch Therese Shechter, die sich das Projekt V-Card Diaries ausgedacht hat, bei dem Menschen von ihrem ersten Mal erzählen. Um auf humorvolle Art zu verdeutlichen, dass jede Person in ihrem Leben viele unterschiedliche “erste Male” haben kann, hat sie sich die V-Card (Virginity-Card) ausgedacht, auf der man mit jedem ersten Mal eine Kirsche (ein Symbol für die Jungfräulichkeit) abstempeln kann.
Jungfrau, Wassermann, Waage?!
[Den Begriff “Jungfrau”] „benutze ich eigentlich nicht, außer ich rede über das Sternzeichen. ;-) Ich identifiziere mich eigentlich überhaupt nicht darüber, dass ich noch nie Sex hatte.” – DBM
“Jungfräulichkeit” ist definitiv nicht für alle Befragten ein passender Begriff: Viele Teilnehmende meiner Umfrage kritisieren den Begriff als veraltet, heteronormativ oder sexistisch. Fast alle sagen jedoch auch, dass sie keine besseren Begriffe haben um den Umstand zusammenzufassen, dass sie noch nie Sex hatten. Als Alternativen werden “unerfahren” bzw. “wenig erfahren” und “asexuell” vorgeschlagen.
Viele fühlen sich von dem Bezeichung “Jungfrau” unangenehm bewertet oder stigmatisiert.
„Er schafft kaum Missverständnisse, da die Bedeutung den meisten Menschen klar sein sollte. Mittlerweile haftet aber auch oft eine Wertung an finde ich (im Sinne von „bekommt keine_n Sexpartner_in ab“ z.B.) oder er wird mit verschiedenen Dingen assoziiert, die nicht zwangsläufig zutreffen müssen.“ – Tabea
„Das Wort implizit ja leider irgendwie, auch durch den Zusatz, die J. zu verlieren, dass es nur eine Art davon gibt. Dass sie durch eine einzige Handlung, Erfahrung aufhört. Ich mag das Wort auch aufgrund anderer Assoziation, sowohl religiösen als auch mit „Reinheit“ oder moralischem Verhalten, sehr wenig.
Ich mag jedoch das Konzept mehrerer Jungfräulichkeiten, mehrerer erster Male.
Was mich wütend macht ist der Gebrauch des Wortes Jungfrau als abwertender Begriff. Es macht mich wütend, dass damit Unvollständigkeit, Unreife, Nicht-Attraktivität, Falschsein, Loser_in, Lächerlichkeit mitschwingt. Plus die unterschiedliche Nutzung für verschiedene Geschlechter… “ – Weasley“Ich kann einen Mann, der keinen Sex hatte, nicht JungFRAU nennen. Genauso finde ich es aber auch falsch, eine Frau so zu nennen, weil das impliziert, sie würde erst mit dem Sex reifen. Ich habe keine anderen Begriffe, mit denen ich mich identifiziere, weil das Konzept von Jungfräulichkeit für mich total überholt und irrelevant ist.” – PikAs
Andere schreiben, dass sie die Begriffe “Jungfrau” bzw. “jungfräulich” ok finden und für sich verwenden.
Wenn man bedenkt, welche unterschiedlichen Hintergründe und Erfahrungen sich hinter dem Begriff verbergen, ist es – ähnlich wie bei dem Begriff “Sex” – meistens hilfreicher, darüber zu sprechen, was konkret gemeint ist. Denn Menschen, die gerne Sex in einer vertrauten Beziehung hätten, sind eben nicht wie Menschen, die gar keinen Sex wollen.
Warum eigentlich nicht?
In der Vorbereitung für diesen Artikel habe ich einige andere Berichte über oder von Leuten, die noch nie Sex hatten, gelesen. Dabei ging es fast immer um Menschen, die gerne Sex hätten und sicherlich auch dazu in der Lage wären, bei denen es sich aber aus verschiedenen Gründen noch nicht ergeben hat. Dann geht es auch oft um Szenarien, wie diese Person nun endlich auch zu sexuellen Erfahrungen kommen könnte. Doch nicht alle Menschen wollen überhaupt Sex oder sind dazu in der Lage. Meine Umfrage zeigt, dass es viele verschiedene Fälle gibt.
“Primär ist es für mich schwer Partner zu finden. Als introvertierte Person, der es schwer fällt neue Leute kennen zu lernen, bin ich da glaube ich nicht allein.
Dadurch dass ich Antidepressiva nehme, ist meine Sexualität auch negativ beeinträchtigt. Ich denke dadurch bin ich etwas gehemmt eine sexuelle Beziehung einzugehen, weil ich mich selbst nicht so gut einschätzen kann und evtl. meine Partnerin enttäusche, weil ich gerade keine Lust auf Sex habe.” – Purple Quartz“Es hat sich bisher noch keine Person gefunden, der ich mich auf diese Weise anvertrauen könnte.” – Maya
“Früher war ich mir noch nicht sicher ob mein „kein Sex brauchen und auch nicht (wirklich) zu wollen“ ein fundamentaler Defekt ist. Ob ich vielleicht etwas falsch mache. Inzwischen ist es nicht mehr als die reine Information. Ob, oder welche Formen von Sex ich schon erlebt habe verändert nicht wer ich bin und somit kann das nur unwichtig sein.” – chaoticMind
„Meine Unistadt ist nicht sonderlich groß und das queere Angebot begrenzt. […] Und ich bin noch nicht geübt darin meine Gefühle zu kommunizieren (ich könnte ja in einen unangenehme Situation geraten…), so dass Chancen vergehen.“ – Jesus
“Ich lebe, seit ich meine Sexualität entdeckt habe, mit einigen Symptomen des Vaginismus (der mir nie offiziell diagnostiziert wurde), was bedeutet, dass ich panische Angst vor Berührungen, geschweige denn dem Einführen von etwas, im Vaginalbereich habe. Angst, Verkrampfungen und daraus resultierende, kaum erträgliche Schmerzen. Ein Teufelskreis der sich immer enger zieht.” – Meg
„Ich bin sehr unsicher, was sexuelle Berührungen angeht, also im Bezug darauf, ob es der anderen Person gefällt oder nicht. Ich bin mir absolut sicher, dass sich diese Unsicherheit legt, sobald ich dies einmal einmal gemacht habe und Bestätigung darauf bekommen habe und ich mit mehr Selbstbewusstsein an das Thema rangehe.“ – Spatz
“Long story short: gesellschaftliche Erwartungen, Klischees und Stigmata – quasi meine Sozialisierung diesbezüglich war/ist der Grund, weil sie aus etwas ganz natürlichen und normalen so ein großes, grusliges, gesellschaftliches Konstrukt gemacht haben von dem ich jetzt erst langsam wieder loskommen muss.” – Fynn
“Hatte bisher weder sexuelle noch romantische Beziehungen, kann ich mir auch nicht vorstellen.” – PikAs
“Ich lerne keine Männer kennen, dafür arbeite ich zu viel bzw. die, die ich kenne sind zu alt oder vergeben oder es passt aus anderen Gründen nicht. Ich hab an sich nichts gegen online dating, aber wenn ich mit jemandem schreibe bin ich sehr schnell total verknallt, aber meistens ist es schon bei der Begrüßung beim Date vorbei, weil es im RL nicht passt. Diese Gefühlsachterbahn ist nichts für mich.” – Katharina
Dass es sich bei den (erwachsenen) Menschen, die noch nie Sex hatten, keinesfalls um eine einheitliche Gruppe handelt, sieht man daran, dass es sehr unterschiedliche Gründe gibt, warum diese Menschen noch keinen Sex hatten.
Manchen mangelt es in ihrer Lebenssituation schlicht an Gelegenheiten, Sex zu haben.
Einige möchten aus religiöser Überzeugung bis zur Ehe warten oder auf Sex insgesamt verzichten.
Viele können sich Sex nur mit einer sehr vertrauten Person vorstellen und warten auf die richtige Beziehung.
Andere sind asexuell und haben daher kaum oder gar kein an sexuelles Interesse an anderen Menschen. Trotzdem sind sie oft daran interessiert, wie sich bestimmte sexuelle Handlungen anfühlen oder mögen z.B. gerne kuscheln. Manche von ihnen haben ein romantisches Interesse an anderen.
Einige Befragte beschreiben sich als schüchtern oder introvertiert oder haben ein niedriges Selbstwertgefühl.
Einige haben körperliche Beeinträchtigungen, die es für sie schwer oder unmöglich machen, bestimmte sexuelle Praktiken zu nutzen.
Andere haben psychische Beeinträchtigungen, die für sie Hindernisse darstellen.
Wieder andere haben sexualisierte Gewalt erlebt und daher große Vorbehalte gegenüber Sex mit anderen Menschen.
Auf jeden Fall gilt festzuhalten: Die Frage, warum jemand (noch) keinen Sex hatte, ist komplexer zu beantworten, als es oberflächlich erscheint. Mit dieser Erkenntnis im Hinterkopf könnt ihr den nächsten Teil meiner Kolumne lesen. Dort soll es darum gehen, wie diejenigen, die in unserer Gesellschaft als Erwachsene ohne Sex durchs Leben gehen, ihre Situation erleben.
Sex ist eine der großen Absurditäten unserer Gesellschaft: einerseits wird im Endeffekt nicht genug (bzw. eigentlich genauer: nicht detailliert, einfühlsam usw. genug) darüber gesprochen….
… aber andererseits ist es auch völlig überbewertet.
(es ist halt letzten Endes dann doch „nur“ Sex. die Zahl an der Menschen, die längere „Pausen“ zwischen ihren PartnerInnen haben, dürfte enorm hoch sein – zumindest würde ich das gemäß der anekdotischen Evidenz in meinem Freundes- und Bekanntenskreises vermuten, wo es völlig gebräuchlich ist, daß bspw. zwischen zwei Beziehungen auch mal unzählige Monate oder sogar wenige Jahre ins Land streichen können, in denen sich die Sexualität der Besagten auf die Sexualität ohne PartnerIn beschränkt)
[…] Bist du Jungfrau? Wie es ist, (noch) keinen Sex gehabt zu haben, beschreibt Dr. Vulva. […]
Ich empfinde es immer wieder als eine Bereicherung zu lesen, wie DR. VULVA sich dem Thema Sex nähert… es erscheint mir als eine ganz neue Perspektive, um die ich sehr dankbar bin. Also DANKE für den Text und ich freue mich auf mehr davon.
Achtung, das wird ein längerer Kommentar. Ich möchte zuerst mal ein großes Danke dafür sagen, dass Dr. Vulva dieses Thema aufgreift. Es ist das erste Mal überhaupt, dass ich einen Text lese, wo dies thematisiert wird. Und für mich auch deshalb bemerkenswert – gleich einmal ein Outing – weil ich als Typ mit meinen 41 Jahren zu dieser Gruppe von Menschen dazu gehöre, die noch nie in ihrem Leben Sex hatten.
Ich finde die Erkenntnis aus dem Artikel schon mal sehr interessant, dass Menschen, die ohne Sex leben, so eine heterogene Gruppe sind. Und ich kenne das Gefühl auch, froh zu sein, dass endlich mal ein Thema angesprochen wird, von dem man selbst betroffen ist, an dem man selber sehr zu knabbern hat und über das ich sonst eher keine Gelegenheit habe zu sprechen. Und worüber auch in der Gesellschaft (Medien,..) sonst eher selten oder gar nicht gesprochen wird. Ich kenne auch das Gefühl, wenn ich an mir selber einen Makel bemerke, weil in meinem Leben etwas völlig fehlt, was quasi für den Rest der Welt ganz normal zu sein scheint. Das nagt am Selbstbewusstsein und macht einsam und unglücklich, wenn du merkst, andere Menschen erleben das und drücken so ihre Zuneigung zu einander aus, aber du selber findest einfach keinen Menschen, der oder die das mit dir teilen möchte.
Für mich persönlich entsteht daraus auch das deprimierende Gefühl, von anderen nicht geliebt zu werden und ich habe gleichzeitig aber auch eine große Sehnsucht danach, geliebt zu werden und Liebe zu geben und menschliche Nähe zu erleben. Ich habe in diesem Zusammenhang schon öfter darüber nachgedacht, was ich mir eigentlich wünsche. Und was ich mir wirklich wünsche, ist, mein Leben mit einem Menschen zu teilen, mit dem mich viel verbindet, ein Mensch, mit dem ich gut befreundet bin, und mit dem ich eine Beziehung teile. Zum Beispiel gemeinsame Träume davon, wie die Welt sein könnte, damit es allen Menschen auf der Welt gut geht. Ein Mensch, mit dem ich gegenseitigen Respekt und Zuneigung teile bei Akzeptanz unserer Grenzen. Der Gedanke, dass ich mit diesem Menschen sehr gerne einfach meine Zeit verbringen möchte, wir gemeinsame Interessen verfolgen und die Momente mit diesem Menschen einen Zauber haben, weil er oder sie etwas Besonderes für mich ist. So stelle ich mir das vor mit der Liebe.
Und davon kann Sex dann ja auch ein Teil sein, denke ich mir. Aber das ist eben in meinem Leben alles nur Theorie. Für mich war es nie eine Entscheidung, ohne romantische Beziehung und ohne Sex zu leben. Es war den Umständen geschuldet, denke ich mir. Ich habe mich mein Leben lang, traurig aber wahr, jedes Mal nur einseitig in einen Menschen verliebt, das heisst die Schmetterlinge im Bauch haben nur bei mir getanzt, und ich war dann immer nur unglücklich verliebt. Plus: ich bin sehr schüchtern und introvertiert, Flirten habe ich nie gelernt und hätte wohl daher nicht so recht funktioniert. Umgekehrt habe ich auch nie die Erfahrung gemacht oder vielleicht auch nicht bemerkt (?), dass mich ein Mensch angeflirtet hätte oder mir gezeigt hätte, hey, ich mag dich.
Und Sex ist für mich nun mal auch damit verbunden, dass ich einem Menschen nahe stehen möchte. One Night Stands habe ich zB nie verstanden, und ich habe mir immer gesagt, also nein, selbst wenn sich die Gelegenheit für mich ergeben würde, ich würde sie wohl eher nicht ergreifen, weil mir die Beziehung zu einem Menschen beim One Night Stand irgendwie zu oberflächlich wäre. Achja, und das Gefühl kenne ich übrigens auch, dass ich mir selber denke, naja, keine*r will Sex mit mir haben, also scheinbar bin ich auch äußerlich nicht besonders attraktiv – auch wenn das für mich persönlich im Grunde nur ein oberflächlicher Nebenaspekt ist. Und genau, auch das kenne ich: das Gefühl, etwas verpasst zu haben und ein Außenseiter zu sein, in dessen Leben etwas nicht vorkommt, was alle anderen erleben.
Das hat meiner Meinung nach auch damit zu tun, dass in unserer Gesellschaft ein Bild existiert, bei dem „Sex haben“ als Hinweis darauf gedeutet wird, dass eine*r ein toller Mensch ist, der „etwas drauf hat“. Übrigens auch mit einem sexistischen Kontext: denn Typen, die viel Sex zumal mit mehreren verschiedenen Frauen haben, werden als „echter Mann“ betrachtet, während gleichzeitig bei Frauen, die eine selbstbestimmte Sexualität ausleben und vielleicht dann auch verschiedene Partner beim Sex haben, von manchen eher als „Schl****“ beschimpft werden und man(n) nimmt es ihnen übel.
Hinzu kommt bei mir noch eine Angst davor, dass ich eben weil ich noch nie Sex hatte, auch nicht weiss, wie das ist und wie ich es „richtig“ mache. Mit „richtig“ meine ich hier, in einem Sinne, das es ein Genuss für den anderen Menschen ist. Für mich hat Sex etwas damit zu tun, dass es eben für beide eine schöne Erfahung ist und dass sich darin die gegenseitige Zuneigung auf der körperlichen Ebene ausdrückt. Es geht also darum, ein schönes Erlebnis zu teilen. Und das macht mir auch Angst, weil ich unsicher wäre – selbst wenn sich die Gelegenheit zum Sex aus irgendeinem unerklärlichen Grund wie im Märchen plötzlich für mich ergeben würde, wäre ich extrem verunsichert, weil ich eben diesen für mich besonderen Menschen ungern mit schlechtem Sex enttäuschen möchte. Naja, sad but true.
Am Ende möchte ich noch ein Video hier posten. Es ist ein Lied von Haszcara. Und sie hat ein wunderschönes Liebeslied geschrieben. Für mich vermutlich das wunderbarste Liebeslied, das ich kenne. Und wisst ihr was? Obwohl ich sie persönlich gar nicht kenne, habe ich mich in Haszcara verliebt, gerade auch weil sie dieses Lied geschrieben hat, mit dem sie für mich so viel sagt, was mich ganz tief berührt. <3 https://vimeo.com/224747469
Vielen Dank für diesen Text! Ich hätte da noch einen alternativen Begriff anzubieten: Sein sexuelles Debüt noch nicht gehabt haben. Den finde ich sehr schön, weil er Sex als soziale Erfahrung und als keinen Zustand versteht, dafür definiert er Sexualität allerdings als inhärent zwischenmenschlich, das kann man aber leichter verschmerzen.
[…] einem ersten Bericht zu dieser Umfrage habe ich mich damit beschäftigt, was Jungfräulichkeit alles (nicht) ist und […]