Sex und Bedürfnisse

Foto , CC BY 2.0 , by Dean Hochman

“Grundsätzlich definiere ich das Wort „Sex“ mit sämtlichen intimen Annäherungen die Menschen untereinander eingehen können. Petting ist Sex. Anal-, Oral-, Vaginalverkehr. Aber auch Masturbation ist Sex. Vielleicht könnte man sogar leidenschaftliche Küsse als solche in diese Definition aufnehmen. Bei der Frage danach, ob ich bereits „Sex“ hatte oder nicht, gehe ich allerdings von der (leider) vorherrschenden allgemeingültigen Auffassung von Vaginalverkehr aus.”

Dieses Zitat stammt von Meg, Teilnehmerin bei einer Umfrage, die ich gerade mache, und über die hier es bald einen eigenen Artikel geben wird. Ich habe das Zitat bereits in der heutigen Kolumne aufgegriffen, denn es fasst das Problem, über das ich heute schreibe, ganz gut zusammen: Alle haben eine Vorstellung davon, was Sex ist, aber es zu definieren ist nicht leicht. Denn Sex bedeutet etwas ganz Verschiedenes, je nachdem wer in welchem Zusammenhang darüber redet. Meg illustriert das super: Der Begriff Sex beschreibt sehr unterschiedliche intime Annäherungen zwischen Menschen. Selbstbefriedigung ist aber auch Sex. Und der heteronormative kleinste gemeinsame Nenner ist Penis in Vagina, PiV.

Andere definieren in meiner Umfrage Sex als Aktivitäten, welche die Intimorgane einbeziehen. Das ist wohl eine Definition, die einem mehrheitlichen Verständnis sehr nahe kommt, aber ihr fehlt meines Erachtens mindestens die Absicht, mit der dies passiert. Sonst hat man das Problem, dass pflegebedürftigen Menschen die Windeln wechseln ggf. auch als Sex zählt und das ist nicht sinnvoll.

Eine dritte sehr häufige Definition von Sex, die ich in den Antworten zur Umfrage gefunden habe, ist: Sex sind Aktivitäten, die zu einem Orgasmus führen sollen oder können. Auch das ist eine Definition, hinter die sich vermutlich viele stellen könnten. Sie funktioniert technisch auch schon ganz gut, weil sie viele Dinge umfasst – Orgasmen können ja bei sehr verschiedenen Aktivitäten passieren, mit oder ohne Partner_innen. Trotzdem ist sie mir ein bisschen eng. Ich kann dann am Orgasmus oder an der “Orgasmus-Absicht” ablesen, dass etwas Sex ist. Aber andersrum funktioniert es nicht: Etwa im Bereich BDSM werden viele Dinge in das “Spiel” einbezogen, die in der Regel nicht zu Orgasmen führen (sollen) – zum Beispiel bestimmte Kleidung tragen, fesseln und gefesselt werden, gehorchen oder jemanden bedienen. Trotzdem ist das in diesem Kontext auch Sex.

Als vierte häufige Antwort haben in der Umfrage viele betont, dass Sex nur da ist, wo Einvernehmen zwischen den Beteiligten herrscht. Sex haben ist das, was die Beteiligten wollen. Das ist auch eine schöne Definition, aber ist dann zum Beispiel zusammen kochen und Netflix gucken auch Sex?

Brauchen wir überhaupt das Wort “Sex”?

Wenn ihr jetzt die perfekte Definition erwartet habt: Damit kann ich nicht dienen. Mir reicht es an dieser Stelle festzuhalten, dass es mit der Definition nicht so einfach ist und bei jedem Versuch wesentliche Aspekte nicht so richtig zum Tragen kommen. Es gibt noch andere solcher Konzepte, die ähnlich schwer auf eine Definition zu reduzieren sind, Liebe, Spiritualität und Arbeit, zum Beispiel.

Antje Schrupp hat mal im Podcast vorgeschlagen, wenn das Wort eh nichts Genaues bedeutet, könnte man es doch auch erst einmal weglassen.

Wenn man sich innerhalb einer Gruppe zum Thema Gedanken machen will, kann das zum Test als vereinbarte Regel ganz gut sein, um zu sehen, wie sich dadurch die Diskussion ändert.

Aber an der Stelle merke ich auch: Ich brauche das Wort durchaus. Zum Beispiel, weil es für mich sehr wichtig ist zu wissen, ob sich mir jemand in einer sexuellen Absicht nähert oder nicht. Aber es funktioniert nur als Über-Begriff, als Zuordnung zu einer Sphäre, deren genaue Bedingungen nicht allgemein festgelegt sind.

Der Vorschlag, das Wort wegzulassen, hat sehr viel für sich, wenn es um konkrete sexuelle Interaktion geht. Denn was will ich, wenn ich Sex will? Sicher nicht immer dasselbe. Und der Begriff “Sex” bedeutet sehr viel, aber nichts Genaues und ist damit zu weit gefasst, um konkret zu beschreiben, was ich will. Um zu kommunizieren, welchen Sex man mit anderen gemeinsam haben möchte, ist der Begriff “Sex” dann nicht sehr hilfreich. Da braucht es wenigstens ein paar Adjektive, hart oder zart, schnell oder langsam, oder auch die Beschreibung von konkreten Aktivitäten: “Ich will, dass du mich …”

Auch dann geht es gelegentlich schief, über Sex reden ist bei uns nicht so selbstverständlich und fällt oft schwer, und Missverständnisse führen zu Enttäuschungen.

Was wollen wir, wenn wir Sex wollen?

Deswegen finde ich es wichtig und sehr lohnend, auf die konkreten Bedürfnisse zu gucken, die hinter dem Wunsch Sex zu haben stehen. Denn ein Blick auf die dahinter liegenden Bedürfnisse nützt in sexuellen Situationen mehr, als eine allgemeine Definition zu haben.

Wieso haben wir überhaupt Sex? Für das Fem ***** Sex******** Blog habe ich vor fast drei Jahren einige Bedürfnisse aufgeschrieben, die Leute durch Sex erfüllen oder erfüllen wollen. Seitdem sind mir tatsächlich auch kaum Ergänzungen eingefallen.

Hier also die Liste von Bedürfnissen, die durch Sex erfüllt werden können:

  • Intensität, etwas Krasses erleben
  • Nähe und Intimität herstellen
  • mit Menschen etwas teilen, was man sonst eher versteckt
  • sich zu zeigen wie man ist
  • Spannung abbauen, Entspannung
  • abschalten, nicht nachdenken, andere Sachen vergessen oder verdrängen
  • sich körperlich verausgaben
  • Liebe ausdrücken und spüren
  • sich akzeptiert, gewollt oder begehrt fühlen
  • etwas Kreatives tun, sich ausdrücken
  • etwas Heimliches, Aufregendes evtl. Verbotenes tun
  • einen spirituellen Moment erleben
  • Kontrolle ausüben
  • Kontrolle abgeben, sich ausliefern
  • Hingabe erleben
  • Verbindung zum eigenen Körper aufnehmen, sich spüren
  • jemanden spüren
  • sich auf sich konzentrieren
  • gebraucht werden oder jemanden brauchen (dürfen)

Es gibt natürlich auch andere Gründe, warum Menschen Sex haben, zum Beispiel um ein Kind zu bekommen, einen Orgasmus zu haben, oder um ihr Überleben zu sichern. Gründe sind aber nicht dasselbe wie Bedürfnisse (für den Begriff gibt es verschiedene Definitionen, mir gefällt zum Beispiel dieser Blogpost dazu.) Ein Bedürfnis ist ein tief menschliches Brauchen, das unser Handeln vorantreibt, aber durch viele verschiedene Strategien befriedigt werden kann. In Gründen sind oft auch Bedürfnisse enthalten, aber sie sind meist abstrakter, rationaler und spezifischer. Im Zweifelsfall kann ich mir – oft auch ohne es zu wissen – schaden, wenn meine Gründe und Bedürfnisse sich nicht decken.

Das Spannende an Sex ist für mich, dass ich damit mehrere unterschiedliche Bedürfnisse auf einmal befriedigen kann.

Die Bedürfnisse in der Liste können ja auch anders befriedigt werden. Ich kann Sport machen, oder Kunst, oder arbeiten, fallschirmspringen, jemanden pflegen, tanzen oder meditieren. Diese Aktivitäten sprechen meistens nur eins meiner Bedürfnisse an. Trotzdem finde ich das tröstlich, denn es bedeutet auch, dass ich mich um meine Bedürfnisse auch kümmern kann, wenn Sex mit anderen Menschen grade keine Option ist.

Oh ja, das ist super wichtig, dafür Strategien zu haben! Ich bin manchmal zwar durchaus bedürftig, aber gar nicht in der Lage, so eine soziale Situation zu navigieren. Oder die Leute, mit denen ich gerne Sex hätte, wollen oder müssen grade etwas anderes machen. Dann ist es sehr wichtig, Verantwortung für meine eigenen Bedürfnisse übernehmen zu können und eben doch tanzen zu gehen oder etwas zu schreiben oder malen. Oder mit der begehrten Person zusammen etwas nicht-Sexuelles zu machen, was mir vielleicht auch gefällt. Jedenfalls alles besser, als eine andere Person für mich verantwortlich zu machen und es ihr dann nachzutragen, wenn sie meine Bedürfnisse nicht befriedigt.

Auch wenn es dazu kommt, dass ich Sex mit anderen haben kann, ist es nicht schlecht, zu wissen, um welche Bedürfnisse es uns jeweils dabei geht. Wenn eine Person Nähe will und die andere hauptsächlich abschalten und an nichts denken, wenn beide lieber Kontrolle ausüben oder beide die Kontrolle abgeben wollen, kann das manchmal sehr unangenehm, unbefriedigend oder sogar verletzend werden.

Die meisten Bedürfnisse sind zum Glück gut kombinierbar. Wenn jemand mit mir etwas Heimliches, Aufregendes tun will, kann ich mich dabei trotzdem akzeptiert oder gebraucht fühlen, mich auf meinen Körper konzentrieren oder kreativ werden.

Ich muss dazu nur ok finden, dass wir ggf. nicht genau das gleiche wollen.

Wenn es klappt mit dem Sex und die Bedürfnisse zusammenpassen, bin ich ab und zu verblüfft, wie zufrieden und entspannt und gut gelaunt ich manchmal schon nach 20 Minuten bin. Das klappt mit Massage und Spaziergang nicht so schnell.

Welche Bedürfnisse fallen euch noch ein? Welche spielen bei euch eine Rolle, wenn ihr Sex haben wollt? Was habt ihr für Ersatz-Strategien, wenn Sex mit anderen keine Option ist? Ich freue mich über Kommentare mit Erweiterungsvorschlägen.

2 Antworten zu “Sex und Bedürfnisse”

  1. Louki sagt:

    Hm, bei den Bedürfnissen ist es bei mir eine Kombination aus mehreren, glaube ich. Und es bezieht sich alles auf andere Menschen. Also sowas wie Nähe herstellen, mit Menschen etwas teilen, Liebe geben und spüren. So etwas wie „Spiritualität“ oder sich körperlich verausgaben finde ich dabei unwichtig. Ein Problem, mit dem ich leben muss, ist aber, dass ich eben niemanden finde, der oder die das mit mir teilen möchte. Insofern möchte man meinen, dass Ersatz-Strategien bei mir sehr wichtig sind. Aber ehrlich gesagt wüsste ich nicht, mit welchen Ersatz-Strategien ich das ausgleichen könnte. Es ist einfach eine Riesen-Leerstelle in meinem Leben. Traurig aber wahr.

    • RRR sagt:

      Dachte ich auch immer, dass ich niemanden finde, der das mit mir teilen möchte. (Wobei ich das nicht als soo große Leerstelle empfunden habe, eher als sehr schade.) Bis ich 32 Jahre war und den Deckel gefunden habe, der auf mich Topf passt. Nächstes Jahr wollen wir heiraten…