Interview mit den Initiatorinnen von #Wirzählen – „Zahlen zu den Taten machen das sichtbar, was sonst nur ins Private geschoben wird.“

[Inhaltshinweis: Kurze Beispiele für Gewalt gegen Frauen, Hurenfeindlichkeit]

Gewalt gegen Frauen ist allgegenwärtig und doch immer noch extrem unsichtbar. In der polizeilichen Kriminalstatistik in Bayern werden so zum Beispiel Straftaten aufgrund der Nationalität, Hautfarbe oder Religion als Hasskriminalität (hate crime) erfasst. Frauenfeindliche Gewalt aber, Gewalt also die aufgrund des Geschlechts ausgeübt wird, fällt bisher nicht darunter. Die Aktivistin Penelope Kemekenidou (Leitung von Gender Equality Media e.V./StopBildSexism, campaignerin bei Jugendorganisation Bund Naturschutz Bayern) und Politikerin Katharina Schulze (MdL, Feministin, Fraktionsvorsitzende von BÜNDNIS 90/Die Grünen im Bayerischen Landtag) wollen das nun ändern und diese Gewalt – ob sie nun offline oder online passiert – als Teil von Hasskriminalität sichtbarer machen.

Heute um 10 Uhr starten sie dazu ihre Kampagne „#WirZählen – Straftaten gegen Frauen erfassen und bekämpfen!“ mit einer Pressekonferenz im Bayerischen Landtag. Was genau sich dahinter verbirgt, haben sie Anne vorab schon mal im Interview erzählt.*

kleinerdrei (Anne): Eure Idee ist, Straftaten gegen Frauen in der bayerischen Kriminalstatistik unter Hasskriminalität registrieren zu lassen. Was genau habt ihr geplant um das anzustoßen?

Katha: Wir Grüne stellen einen Antrag im Bayerischen Landtag, dass frauenfeindliche Kriminalität sichtbar und erfasst wird. Wenn die Mehrheit im Landtag unserem Antrag zustimmt, dann wird das umgesetzt und wir hätten eine klare Auflistung von Frauenfeindlichkeit in der Polizeilichen Kriminalstatistik.

kleinerdrei: Was hat euch auf die Idee für den Antrag gebracht und wieso möchtet ihr das direkt mit der Kampagne #wirzählen verbinden?

Katha: Penelope und ich waren beim Kaffeetrinken und haben über die Welt insgesamt und die Wichtigkeit von Feminismus gesprochen. Wenn man über so etwas diskutiert, dann kommt man leider schnell zu dem Punkt, dass wir noch viel verändern müssen. Wir fingen dann mal mit dem Kampf gegen Sexismus, online wie offline, an, denn der regt uns massiv auf. Ich denke, jede Frau kennt das, die Beleidigungen und Angriffe gegenüber einen, nur weil man eine Frau ist. Und dann haben wir uns gefragt, wie hoch wohl die Anzahl von Frauenfeindlichkeit in Bayern ist. Ich habe im Anschluss an unser Gespräch eine Anfrage ans Ministerium gestellt und das Ergebnis hat uns dann doch sehr überrascht: Es kam raus, dass diese Straftaten eigentlich nicht richtig gezählt und aufgelistet werden. Das müssen wir ändern, dachten wir uns und jede von uns hat das gemacht was sie am Besten kann: Ich habe einen Antrag fürs Parlament geschrieben und Penelope die super Kampagne #Wirzählen entwickelt!

Penelope: Ich fand es nicht besonders überraschend, aber dennoch schockierend, was Katha mir erzählte. Während ihr männlicher Kollege, nachdem sie zusammen auf der Bühne für genau die gleiche Sache eingestanden sind, bekam er Drohungen, sie Vergewaltigungsdrohungen. Deutlicher kann man Misogynie kaum aufzeigen.

kleinerdrei: Warum braucht es eurer Meinung nach noch differenziertere Statistiken? Für welche weiteren Schritte kann diese Datenlage dann idealerweise die Grundlage bilden?

Penelope: Zahlen zu den Taten machen das sichtbar, was sonst nur ins Private geschoben wird. Ohne eine Statistik kann man kein systemisches Problem beweisen – und ohne Beweis ist es einfacher Programme zur Bekämpfung dieses Problems abzulehnen.

Katha: Als Abgeordnete kann ich damit besser argumentieren und arbeiten. Wenn ich aus einer offiziellen Polizeistatistik Daten und Zahlen haben, kann ich dieses Material für die Debatten im Ausschuss sehr gut nutzen. Dann kann sich die Regierungspartei CSU nicht mehr rausreden und ich kann ihnen die offiziellen Zahlen vorlegen. Daneben machen solche Statistiken das Ausmaß des Problems deutlich – und helfen hoffentlich in der öffentlichen Debatte. Grad die Leute, die immer gerne davon sprechen, dass „sei doch alles nicht so schlimm!“ und „Frau solle sich nicht so anstellen“, sehen dann mal mit eigenen Augen das Frauenfeindlichkeit kein Nischenproblem ist.


wirzählen

kleinerdrei: Worin seht ihr die größten Herausforderungen die tatsächliche Dunkelziffer der Gewalttaten ans Licht zu bringen, zum Beispiel auch was Online-Belästigungen angeht?

Katha: Ich denke, es gibt bei diesem Thema die gleichen Probleme wie bei ähnlich gelagerten Straftaten. Zum einen, müssen sich die Betroffenen an die Behörden wenden und die Straftaten anzeigen. Und zum anderen müssen die Straftaten dann auch in die richtige Kategorie eingeordnet werden. Wenn es aber gar keine Kategorie für „Frauenfeindlichkeit“ gibt, dann kann man es auch gar nicht aufnehmen. Erster Schritt ist also erstmal die Schaffung der Kategorie in der Polizeilichen Kriminalstatistik.

Penelope: Absolut. Noch spannender wird es, dass viele Leute sich zum ersten Mal Gedanken werden machen müssen, warum eine Straftat gegenüber einer Frau nicht ein Problem ist aufgrund der “Lust der Männer”, wie zum Beispiel beim Thema catcalling, sondern eine politische Machtfrage.

kleinerdrei: Im Kern geht es ja immer noch darum, die tatsächlich stattfindende Gewalt überhaupt erst mal sichtbar zu machen. Ich denke dabei auch an die aktivistische Arbeit unter dem Label #KeineMehr, die in Deutschland ein Bewusstsein über Femizidealso Morde an Frauen, die geschehen, weil sie Frauen sind – schaffen möchte. Arbeitet ihr auch mit solchen bestehenden Bündnissen und Kampagnen zusammen bzw. ist das geplant?

Katha: Wir stehen solidarisch an der Seite von allen, die sich für Gleichstellung und gegen Gewalt an Frauen und Mädchen einsetzen. Jede und jeder kann gerne bei #wirzählen mitmachen – je mehr Unterstützer*innen umso besser!

Penelope: Wir sammeln gerade fleißig Unterstützer*innen – in der Tat sind wir auch mit #niunasmenos, oder wie es in Deutschland heißt #keinemehr, in Kontakt!

kleinerdrei: Wer sich mit dem Thema Gewalt gegen Frauen und Mädchen beschäftigt, findet ja schon diverse Studien etc., die das Ganze in Zahlen festhalten. Aber auch dieses hohe Ausmaß ist leider für die meisten noch nicht Anlass genug, um konsequent und nachhaltig etwas gegen diese Gewaltformen zu tun oder sich auch für Prävention einzusetzen. Was können eure Kampagne und der Antrag vielleicht auch dem krassen Problem der Normalisierung und Verharmlosung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen entgegensetzen?

Penelope: Der entscheidende Unterschied den eine Aufnahme einer Kategorie „Frauenfeindlichkeit“ machen würde, im Gegensatz zu anderen Studien, ist der Wechsel vom Passiven ins Aktive. Man kann noch klarer aufzeigen: Diese Tat hat nichts mit dir oder der Kürze deines Rockes zu tun, sondern ist Teil patriarchaler Machtstrukturen. Der Typ der dich als “Nutte, der es mal so richtig besorgt werden muss” beschimpft, macht dies aufgrund bestehender sozialer Machtverhältnisse und hat nichts mit deiner Person zu tun.

Katha: Das Problem bei allen Themen rund um Gleichberechtigung ist, dass wir eigentlich alle Zahlen, Daten und Fakten haben. Da es in dem Bereich aber um Macht geht, ist der Kampf hart. Es gibt leider noch viele Kräfte in unserer Gesellschaft, die damit kein großes Problem haben. Es gibt auch einige, die zwar oft Sonntagsreden für die Gleichstellung halten, aber wenn es dann um die Verteilung von Macht und Ressourcen geht, dann halt doch sparen. Beispielsweise sind die Frauenhäuser in Bayern chronisch unterfinanziert, obwohl wir als Grüne im Landtag seit Jahren auf das Problem aufmerksam machen. Die CSU stimmt halt einfach unseren Anträgen nicht zu.

kleinerdrei: Was schlagt ihr vor, wie mit Hasskriminalität umgegangen werden sollte, bei der mehrere Identitätsaspekte zusammenwirken, also zum Beispiel Geschlecht und Religion, Geschlecht und Hautfarbe, Geschlechtsidentität etc.? So sind ja gerade muslimische Frauen mit Kopftuch in der Öffentlichkeit verstärkt von Angriffen betroffen genauso wie trans* Frauen zum Beispiel…

Penelope: Exakt. Hasskriminalität hatte aber auch schon vorher Überschneidungspunkte. Eine muslimischen Person kann ebenso aufgrund der Hautfarbe angegriffen werden.

Katha: Das ist ja eh oft das Problem, dass Personen oft doppelt oder dreifach diskriminiert werden. Macht das alles nicht besser, sondern zeigt nur deutlich auf, wo wir in unserer Gesellschaft solidarischer sein müssen. Und wachsamer!

kleinerdrei: Wisst ihr von anderen Ländern, die Frauenfeindlichkeit bereits einkalkulieren und ihre Kriminalstatistik entsprechend führen? Gibt es da eurer Meinung nach Beispiele an denen sich Deutschland vielleicht sogar orientieren sollte?

Katha: Großbritannien und Wales denken schon länger darüber nach, Frauenfeindlichkeit offiziell als Hasskriminalität zu definieren. Im März diesen Jahres hat die Polizei Nottinghamshire als erste Polizeibehörde in Großbritannien diese Kategorie in ihre Polizeilichen Kriminalstatistik aufgenommen. Auf diese Weise können frauenfeindlichn motivierte Straftaten als solche erfasst und geahndet werden. Das macht auch noch deutlicher: Frauenfeindlichkeit ist kein Kavaliersdelikt! Wir sollten dem britischen Beispiel folgen.

Penelope: Unter die Definition von hate crime fällt dort auch street harassment: diese dauerpräsente Form von sexuellen Annäherungen hat nichts mit männlicher Sexualität, sondern mit Macht zu tun.

kleinerdrei: Wie kann man eure Kampagne am besten unterstützen? Ich kann mir außerdem gut vorstellen, dass sich andere davon inspirieren lassen und das auch für ihr jeweiliges Bundesland fordern wollen. Gibt es hier die Möglichkeit der Zusammenarbeit oder ähnliches?

Katha: Klar, dieser Antrag kann auch in anderen Bundesländern gestellt werden. Das schöne ist ja, dass wir Grüne Innenpolitiker*innen einen kurzen Draht zueinander haben und uns regelmäßig austauschen.

Penelope: Ob Organisationen oder Einzelpersonen, wir brauchen jede Menge Fürsprecher*innen. Wer sich aktiver an der Kampagne beteiligen will, kann sich gerne bei uns melden!

kleinerdrei: Wie geht es für euch weiter, sollte der Antrag erfolgreich sein?

Katha: Dann freue ich mich erstmal. Sollte unser Antrag angenommen werden, hört ihr erstmal einen lauten Jubelschrei aus dem Landtag, denn dann wären wir einen wichtigen Schritt weiter. Die Ergebnisse werden wir dann nach einem Jahr evaluieren und schauen, ob und wo wir noch nachsteuern müssen.

Penelope: Auch nach der Annahme des Antrags wird es spannend bleiben. Dieser Antrag hat auch sehr viel damit zu tun, dass wir gesellschaftlich umdenken müssen. Langfristig in die Köpfe der Leute zu bekommen dass viele Taten gegen Frauen Machtkämpfe statt „privater Tragödien“ sind, wird wohl etwas dauern.

Alle Links auf einen Blick

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Webseite von Gender Equality Media
Gender Equality Media auf Facebook
Penelope auf Twitter

*Anmerkung: Anne ist auch offizielle Unterstützerin der Kampagne.

Eine Antwort zu “Interview mit den Initiatorinnen von #Wirzählen – „Zahlen zu den Taten machen das sichtbar, was sonst nur ins Private geschoben wird.“”

  1. Katrin sagt:

    Ich finde das super, dass ihr die Zahlen sammeln wollt und so auf das erschreckende Ausmaß aufmerksam machen wollt.
    Ich wüsste aber gerne, wie ihr feststellen wollt, ob eine Straftat jetzt frauenfeindlich motiviert war. Es gibt natürlich einige Taten, bei denen das eindeutig sichtbar ist, aber der Täter oder die Täterin muss ja nicht immer frauenfeindlich motiviert gewesen sein, sondern es hat sich vielleicht wirklich ,,einfach“ gegen diese Person, die zufällig eine Frau ist, gerichtet? Kann man dann nur aufgeklärte Straftaten bewerten? Also wenn man den Täter/die Täterin zu ihren Motiven befragt hat? Rein aus Interesse nachgefragt =)