Fahrerlaubnis für die saudischen Frauen – Fortschritt oder Feigenblatt? (Teil 4)
Dies ist ein Beitrag aus unserer Rubrik kleinergast, in der wir alle Gastartikel veröffentlichen. Dieses Mal kommt er von Miriam.
Miriam ist Islamwissenschaftlerin und arbeitet derzeit für eine grüne Bundestagsabgeordnete in Berlin. Dies ist der 4. und letzte Teil ihrer Serie zur Aufhebung des saudi-arabischen Fahrverbots für Frauen und den vielfältigen Hintergründen die dazu geführt haben.
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Lest hier auch aus dieser Reihe:
Teil 1 • Teil 2 • Teil 3
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Im September 2017 wurde das Ende des Fahrverbots für Frauen in Saudi Arabien verkündet. Dass diese Reform nicht über Nacht kam, habe ich hier umrissen. Der zweite Teil der Reihe handelte von dem demografischen Wandel in Saudi-Arabien und der Haltung der Menschen zum Fahrverbot. Nachdem wir zuletzt einen Blick auf die Aktivistinnen geworfen haben, die sich seit Jahren vehement für das Ende des Fahrverbots eingesetzt haben, geht es heute darum, wie die Aufhebung des Fahrverbots bewertet wurde und mit welchen Reformen es jetzt weitergehen muss.
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Während abgesehen von einigen Konservativen im Königreich Saudi-Arabien zum Großteil Begeisterung über das königliche Dekret ausbrach und einige Ehemänner sofort damit begannen, ihren Frauen Fahrunterricht zu geben, waren viele (oft gerade westliche) Kommentator*innen teilweise nicht bereit, die Aufhebung des Fahrverbots als einen wichtigen Schritt hin zu einer progressiveren Gesellschaft zu sehen.
I agree it's a encouraging sign, but banning women from driving ranks about 8,349th on Saudi Arabia's list of human rights violations.
— David Burge (@iowahawkblog) 26. September 2017
was die Menschenrechtsverletzungen Saudi-Arabiens anbelangt.“
Mehr als eine Imagekampagne
Der Islamwissenschaftler Loay Mudhoon sieht einem Artikel der Frankfurter Rundschau zufolge die Gefahr, einer reinen Imagekampagne der saudischen Regierung zu viel Bedeutung beizumessen – denn die Aufhebung des Fahrverbots dürfe nicht darüber hinwegtäuschen, dass Saudi-Arabien immer noch eines der repressivsten Regime der Welt sei. Derselbe Artikel findet die begeisterten Reaktionen der internationalen Presse zur Aufhebung des Fahrverbots “reichlich überzogen”. In der Washington Post meint ein Autor, dass die Aufhebung des Fahrverbots nicht durch Zufall zeitlich so nah bei der durch den Kronprinzen angeordneten Verhaftungswelle lag. Auch hier wird die Ansicht vertreten, dass die Aufhebung des Fahrverbots eine reine Image-Maßnahme der saudischen Regierung sei.
Viele andere Kommentator*innen tun die Aufhebung des Fahrverbots ebenfalls als unwichtig oder als Feigenblatt ab. Diese Reform würde nichts bedeuten, solange Frauen in Saudi-Arabien noch in so vielen anderen Bereichen in ihren Freiheiten eingeschränkt werden und tagtäglich so viele Menschenrechtsverletzungen im Königreich verübt werden.
Diese Betrachtungsweise verkennt meiner Meinung nach die Bedeutung, die das Autofahren für die saudischen Frauen hat und ignoriert den Kontext (den ich in den ersten drei Teilen dieser Reihe erläutert habe), in welchem dieses königliche Dekret erlassen wurde. Viele saudische Frauen sind extrem glücklich über die Reform, weil sich dadurch ihr Leben und ihr Alltag auf dramatische Weise ändern werden und sich ihnen jetzt sehr viele neue Entfaltungs- und Teilhabemöglichkeiten eröffnen.
Zitat einer 30-Jährigen saudischen Frau zur Bedeutung der Fahrverbots-Reform:
“We are privileged to be the generation that has seen the before and the after.” The previous generation of Saudi women, she explained, could never imagine a day when a woman could drive and the coming generation will never be able to imagine a day when a woman couldn’t. “But I will always remember not being able to drive”“Wir sind privilegiert, weil wir die Generation sind, die das Davor und das Danach gesehen hat.” Die vorhergehende Generation saudischer Frauen, erklärte sie, hatte sich niemals vorstellen können, dass Frauen eines Tages Auto fahren können würden und die kommende Generation wird es sich niemals vorstellen können, dass es mal eine Zeit gab, wo Frauen nicht Auto fahren konnten. “Aber ich werde mich immer daran erinnern, wie es war, nicht Auto fahren zu können.”
Zu Recht wird viel Kritik am Königreich und den zahlreichen Menschenrechtsverletzungen geübt. Das entwertet meiner Meinung nach jedoch nicht den historischen Erfolg der #Women2Drive-Bewegung. Diese Reform muss vor dem Hintergrund all der Rechte gesehen werden, die schon erkämpft wurden und die noch errungen werden müssen.
Erst seit wenigen Jahren nehmen Frauen am Arbeitsmarkt teil, erst vor zwei Jahren durften sie das erste Mal wählen! Ja, der Wandel geschieht in Saudi-Arabien langsam und viele der Reformen müssen gegen die Widerstände der konservativen Bevölkerungsteile durchgesetzt werden, aber für saudische Verhältnisse ging es in den letzten Jahren doch ganz schön schnell und es ist ganz schön viel passiert.
“Der Regen beginnt mit einem einzigen Tropfen” ist der Slogan der saudischen Aktivistin Manal al-Sharif und das verdeutlicht sehr gut, warum jede einzelne Reform ein wichtiges Puzzlestück ist, das zum großen Ganzen beiträgt.
Oh.
OH. pic.twitter.com/oezGTz1n9d
— Ruthanne Reid (@RuthanneReid) 29. November 2017
Außerdem dürfen wir nicht verkennen, dass durch die Aufhebung des Fahrverbots die konservativen Kräfte im Land geschwächt und die liberalen gestärkt wurden, die dadurch jetzt Schwung für weitere Reformforderungen haben. Das ist bei einer Regierung, die immer in dem Dilemma steckt, es beiden Gruppen Recht machen zu müssen, schon sehr bemerkenswert.
In der Vergangenheit war oft zu sehen, dass das Königshaus im Zuge von liberalen Reformen versucht hat, an anderer Stelle wieder härter durch zu greifen um die Konservativen dadurch wieder zu besänftigen. Mit solchen Aktionen müssen wir natürlich rechnen, auch wenn das Vorgehen des Kronprinzen im Moment eher darauf hindeutet, dass er das Land modernisieren will, egal was die Konservativen davon halten. Die ambivalente Rolle des Kronprinzen Muhammad bin Salman habe ich ja bereits im zweiten Teil dieser Reihe angesprochen.
Und dennoch: Das Ende des Autofahrverbotes für Frauen in Saudi-Arabien ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer offeneren und gleichberechtigten Gesellschaft.
Auch wenn der Weg noch lang ist, sollten wir doch diesen wichtigen Schritt als das anerkennen, was er ist: Ein Meilenstein.
Die Diskussion über die Bewertung der Aufhebung des Fahrverbots ist jedoch eine sehr komplexe Angelegenheit und an dieser Stelle noch nicht zu Ende. Der amerikanische Journalist Thomas L. Friedman hat in der New York Times Ende November 2017 einen vielbeachteten Artikel über die Reformvorhaben des saudischen Kronprinzen und die Aufhebung des Fahrverbots geschrieben. Friedman beschäftigt sich schon viele Jahrzehnte mit Nahostpolitik und viele seiner Einschätzungen aus dem Artikel teile ich. Es gab jedoch auch sehr vehemente Kritik an seinem Text. Und auch diese kann ich gut nachvollziehen.
Zum einen ist es wirklich sehr auffällig, wie begeistert er von dem Kronprinzen Muhammad Bin Salman ist (und der Tatsache, dass dieser ihm ein Interview gegeben hat) und wie wenig kritisch er dessen Aussagen aufnimmt. Zum anderen haben sich viele Menschen mit einem arabischen oder muslimischen Hintergrund über seinen Artikel geärgert, der für sie wie ein unkritischer “Liebesbrief” an das saudische Königshaus klingt und den sie als einschleimende Lobeshymne empfunden haben, welche die Reform des Fahrverbots wiederum zu stark überhöht.
In response to Thomas Friedman's (barf inducing) love letter to Saudi Arabia: "Seventy Years of the New York Times Describing Saudi Royals as Reformers" by @anhistorian https://t.co/xrkJB27Xvh via @Jadaliyya @nytimes
— Heba Y. Amin (@hebaamin) 28. November 2017
Abdullah Al-Arian, ein Historiker, der die Geschichte des politischen Islam erforscht, hat einen extrem oft geteilten Twitter-Thread als Antwort auf Friedmans Artikel verfasst, den man hier in einem Artikel zusammen gefasst lesen kann. Al-Arian bringt zahlreiche Beispiele für Artikel der New York Times seit 1953, in denen Entwicklungen in Saudi-Arabien als wichtige Reformen und gesellschaftliche Veränderungen beschrieben werden. Er will damit zeigen, dass westliche Kommentator*innen schon immer dazu geneigt haben, Reformen in Saudi-Arabien fehl zu interpretieren, zu überhöhen und vor allem fälschlicherweise als Entwicklung hin zu einem modernen demokratischen Staat nach westlichem Vorbild auszulegen.
Ich selbst bin da hin- und hergerissen. Zum einen denke ich: Die Reformen von König Faisal zur Mädchenbildung in den 1960er Jahren waren zum Beispiel wirklich zentral für die Entwicklung des Landes. Zum anderen: Ich kann nachvollziehen, warum Al-Arian sich über die oft nicht besonders tief gehenden Analysen westlicher Journalist*innen ärgert, denen manchmal tiefere Einblicke in die Kultur und Geschichte des Landes fehlen und die oft in einen verklärenden und orientalisierenden Blick verfallen.
Es gibt also ein großes Spektrum an Perspektiven auf die Aufhebung des Fahrverbots und man muss festhalten, dass die Linien hier nicht zwischen West und Ost oder verschiedenen Kulturen verlaufen. Im zweiten Teil dieser Reihe bin ich ja bereits auf die unterschiedlichen Haltungen der Saudis zur Bedeutung des Fahrverbots eingegangen. Ich denke, man sollte diese Reform nicht überhöhen, sie aber auch nicht als bedeutungslose Imagekampagne der saudischen Regierung abtun. Die Wahrheit liegt an verschiedenen Stellen gleichzeitig und natürlich ist es angemessen, die politischen und wirtschaftlichen Motive der Königsfamilie für diese Reform kritisch zu hinterfragen, was ich im ersten Teil dieser Reihe bereits getan habe. Das Leben der saudischen Frauen ändert sich durch die Reformen derzeit jedenfalls rasant, egal wie wir die Ereignisse bewerten und unabhängig von der Motivation der Herrschenden.
Next Stop: Aufhebung der Vormundschaft
In die Freude über die Aufhebung des Fahrverbots haben sich gleich schon die Forderungen nach den nächsten Reformen gemischt. Entsprechende Äußerungen sind auch auf Twitter nachzulesen. Unter dem Hashtag #IAmMyOwnGuardian fordern saudische Aktivist*innen beispielsweise eine Abschaffung des saudischen Systems der männlichen Vormundschaft für Frauen. Die Vormundschaft ist deshalb so ein Problem, weil Frauen ohne die Zustimmung ihres männlichen Vormunds kaum eigenen Handlungsspielraum haben. Wenn eine Frau eine Reise machen, zum Arzt gehen, einen Job oder eine Ausbildung anfangen möchte: Immer braucht sie die Zustimmung ihres Vormunds. Und das kann ihr Vater, Onkel, Bruder, Ehemann oder sogar ihr Sohn sein.
Mit der Aufhebung des Vormundschaftssystems würden saudische Frauen daher auf einen Schlag eine große Anzahl an Rechten erhalten, die ihnen heute noch vorenthalten werden. Das ist keine neue Idee, Aktivist*innen setzen sich seit Jahren für dieses Ziel ein, aber jetzt scheinen sie durch die aktuellen Ereignisse Rückenwind zu haben. In einem Artikel bei Al Jazeera fordern saudische Akademiker*innen, dass König und Kronprinz das Vormundschaftssystem abschaffen sowie weitere Reformen durchführen sollen, um zu zeigen, dass sie es mit der Veränderung ernst meinen.
Ich bin überzeugt, dass die Tage des Vormundschaftssystems gezählt sind und wir auch dessen Abschaffung noch erleben werden.
Bleibt alles anders: Ein Land voller Widersprüche
Seitdem im September 2017 die Aufhebung des Fahrverbots angekündigt wurde, hat sich auch schon wieder einiges getan im Königreich. Die politischen Reformen und Ereignisse überschlagen sich zum Teil. Anfang November 2017 hat der saudische Kronprinz Muhammad Bin Salman in einer beispiellosen Verhaftungswelle politische Gegner unter dem Vorwand von Korruptionsbekämpfung entmachtet. Ende Oktober 2017 hatte König Salman aber auch verkündet, dass Frauen ab 2018 erstmals Zugang zu Sportstadien erhalten sollen, die bisher nur Männern vorbehalten waren. Die ersten Frauen waren seitdem bereits Zuschauerinnen bei Fußballspielen lokaler Clubs. In einem früheren Entwurf dieses Textes hatte ich außerdem geschrieben “vielleicht werden bald auch Kinos erlaubt” und diese Vorhersage wurde mittlerweile tatsächlich von der Wirklichkeit eingeholt.
Zusammengenommen erweckt vieles den Eindruck, als würde das Land unter König Salman und dem Kronprinzen Muhammad Bin Salman immer moderner werden, sich kulturell öffnen und den Frauen mehr und mehr Rechte einräumen. Auf der anderen Seite wird Saudi-Arabien aber derzeit auch immer autoritärer, denn die Macht, die in der Königsfamilie bisher gleichmäßiger verteilt war, liegt jetzt fast gänzlich in der Hand des Kronprinzen, der rücksichtslos alles und jede*n aus dem Weg räumt der seiner Agenda im Weg steht.
Eine Demokratie nach westlichem Vorbild sollte hier niemand so bald erwarten. Damit bleibt sich Saudi-Arabien insofern treu, als dass es weiterhin ein Land voller Widersprüche sein wird. Aber es lohnt sich dennoch auf jeden Fall die Nachrichten aus Saudi-Arabien im Blick zu behalten. Ob irgendwann auch wichtige gesellschaftliche und politische Reformen ohne wirtschaftliche oder machtpolitische Hintergedanken des Herrscherhauses durchgeführt werden, können wir unter anderem daran messen, wie mit Menschen umgegangen wird, die sich als Atheist*innen bezeichnen, ob die Rechte religiöser Minderheiten, von queeren Menschen oder Gastarbeiter*innen respektiert werden und ob weiterhin die Aktivitäten von prodemokratischen Aktivist*innen unterdrückt werden.
Ich glaube jedenfalls, dass wir bald noch mehr Reformen sehen werden. Aber vielleicht wird uns die eine oder andere überraschen, weil die Politik in Saudi-Arabien eben ihrer eigenen Logik folgt.
Zum Schluss bleibt nur noch, den Saudis zur Aufhebung des Fahrverbots zu gratulieren.
Ich sage „mabrouk aleikum“ und Gratulation!
!مبروك عليكم
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