Hygg mich am A… – ein Abgesang auf den Hype um Hygge

Foto , by Matthew Henry

Ein typischer Tag im November und Dezember sieht für mich so aus: 7 Uhr aufstehen, frühstücken und die To-Do-Liste des Tages vorbereiten. 9 Uhr bis 14 Uhr Schreibtischarbeit und E-Mails beantworten, oft gegen den starken Drang, mich vor meinem Postfach zu verstecken, da dort auf mich als Freiberuflerin so manche Monster warten. Zu den Klassikern unter besagten Freiberuflerinnen-Gruselmails zählen “Kunde möchte Leistung erhalten, dafür aber nichts bezahlen” sowie “Kunde möchte den Preis runterhandeln”. Die Mails gehören zu meiner Arbeit. Es ist ok, meine Zeit damit zu verbringen, zu feilschen und zu verhandeln statt meine Zeit nur mit dem Abarbeiten von Jobs zu verbringen. Das versuche ich mir zu sagen. Auch wenn im Hintergrund leise das Ego jault und flüstert, dass der Wert der eigenen Arbeit kein permanenter Diskussionsgegenstand sein dürfte. Aber dann erinnere ich mich, dass ich im Kapitalismus lebe.

Leider bleibt an besagten typischen Dezembertag keine Zeit über einen erwachseneren Umgang mit meinem Mailpostfach zu grübeln, denn auch mein Nachmittag ist mit Arbeit vollgestopft. Akquise fürs nächste Jahr und so viel wie möglich Jobs im laufenden Jahr abhaken, das ist die Devise. Warum? Weil das Jahresende naht und damit Kosten aller Art. Die Umsatzsteuer, Versicherungsprämien, Raten für irgendwelche größeren Anschaffungen und die nicht zu vernachlässigende Kreditkartenabrechnung, wenn die Onlinebestellungen der Last-Minute Weihnachtsgeschenke Zahltag haben.

Damit hier kein Missverständnis aufkommt: Ich mag meine Arbeit. Und ich finde es ok, dass meine Arbeit manchmal sehr fordernd ist. Der Punkt ist, dass kaum eine Zeit im Jahr für mich anstrengender ist als das Jahresende. Das geht den meisten Menschen so, mit denen ich darüber spreche. Auch denen, die nicht von der Lohnarbeit gefordert sind.

Gleichzeitig gibt es kaum eine Zeit, in der wir mit mehr medialen Bildern konfrontiert werden, die uns suggerieren, wir – die Ausgebrannten, die auf dem Zahnfleisch ins Jahresende kriechen – seien die Fehlgeleiteten.

Denn gerade jetzt sind Zeitungen, Internet und Fernsehen voll von Bildern sich in Wolldecken kuschelnder, Schokolade mampfender, bastelnder und permanent glückseliger Kleinfamilien.

Die Augen leuchten, die Wohnungen sind perfekt geputzt und der größte Stress besteht darin, sich auf zu backende Plätzchensorten festzulegen. Alle Menschen tragen Wollpullover und basteln von Herzen kommende und persönliche Geschenke, während sie auf magische Weise mit der rechten Hand im Glühwein rühren und mit einer weiteren, aus dem Nichts aufgetauchten Hand die seidigen Haare der braven Kinderlein streicheln, die geduldig Adventskalendertürchen aufmachen.

Niemand ist am Rand des Nervenzusammenbruchs.

Niemand arbeitet sich den Arsch ab, um kommende Rechnungen zu begleichen.

Niemand flucht dem Paketdienst hinterher, weil die Amazon-Bestellungen, die sie mit schlechtem Gewissen gemacht hat, auch noch im gottverdammten Fahrradladen mit den komischen Öffnungszeiten abgegeben wurden.

Heile Welt und Weihnachtsbaum

So weit, so verlogen.

Was mich aber wirklich rasend macht, ist, dass in den letzten Jahren die subtile Hirnwäsche, dass auf der Welt am Jahresende nur versonnen lächelnde Wollpullovermenschen auf Sofas existieren, erweitert wurde. Die Kampfzone der Weihnachtslüge ist auf die gesamte so genannte “dunkle” Jahreszeit gesuppt. Und weil man einen Begriff brauchte, den man vermarkten kann, nannte man das ganze “Hygge”.

“Hygge” an sich kommt aus dem Norwegischen und bedeutet im Großen und Ganzen Behaglichkeit. Ansonsten scheint die Auslegung des Begriffs etwas vage zu sein. In der englischen Wikipedia werden zwei Menschen, die einander gegenübersitzen und zuprosten mit den Worten “Let’s hygge” untertitelt. Ausgehend von dieser etwas niedrigschwelligen Definition ist also auch Paule’s Metal Eck in Berlin Friedrichshain ein Hygge-Hort.


paules metal eck

Bild aus Paule’s Metal Eck

Kein Grund, für einen deutschen Verlag, nicht ein eigenes Magazin um den Begriff zu stricken. Zynisch betrachtet ist Journalismus wenig anderes als die Bemühung, den Platz zwischen Werbeanzeigen zu füllen. Magazine erfüllen diese Aufgabe noch ergebener als Zeitungen. Man denke nur an Modezeitschriften, bei denen es auf den ersten 50 Seiten um nichts anderes als Anzeigen geht. Oder an Beilagen von Wochenzeitungen, die sich regelmäßig dem Menschheitsthema “Luxusuhren” widmen – eine ganze Ausgabe lang.

Es ist also grundsätzlich nicht verwunderlich, dass die Verlage ständig neue Trends suchen, die es zu kommerzialisieren gilt. Aus dem abstrakten Begriff der Behaglichkeit wird ein mit Bedeutung aufgepumpter Modebegriff. Statt seinen Leser*innen zu helfen damit klarzukommen, welche Bedeutungslosigkeit ihr Leben im kapitalistischen Verwertungskontext hat, wie schwierig es ist, das Jahresende ohne Nervenzusammenbruch zu überstehen, werden Duftkerzen im Gegenwert eines Wocheneinkaufs einer 4-köpfigen Familie getestet. In Großbritannien hat der Trend inzwischen die Bücherregale erreicht. Nach dem letzten Schrei des Aufräum-Diktats von Marie Kondo darf mir jetzt Marie Tourell Søderberg ein schlechtes Gewissen machen, weil ich mir schon wieder keinen Adventskranz selbst gebastelt habe. Oder nicht die Zeit habe, mich überhaupt mit der Idee eines selbstgebastelten Weihnachtskranzes zu beschäftigen.

Was der Hygge-Kult mit vorhergehenden Lifestyle-Predigten gemeinsam hat, ist seine subtile Verwandlung der Realität von 99 Prozent der Zielgruppe – Stress zu haben und generell gegen das Energiedefizit der lichtarmen Winters zu kämpfen – in ein Defizit. Wer keine Zeit für selbstgebastelte Weihnachtsgeschenke hat, weil sie kaum die Energie aufbringt, den Alltag zu bewältigen, macht einen Fehler.

Guck dir die Dän*innen an! Die sind die glücklichste Nation der Welt, sagt der Hygge-Kult. Und die Norweger*innen erst! Das liegt bestimmt daran, dass sie ihre Häuser mit Weihnachtpappsternen dekorieren und nicht an lächerlichen Faktoren wie Sozialsystemen, die auf mehr Interessensgruppen als verheiratete Alleinverdienerfamilien ausgerichtet sind!

Nicht hilfreich ist in diesem Zusammenhang der öffentliche Lebensstil-Schwanzvergleich namens Instagram. Endlos scrollen wir durch Szenen des Glücks, uns verlierend in den Glücksversprechen von inszenierten Situationen an Orten, die wir bereisen wollen, weil wir glauben, dass sie uns interessanter machen, als wir es selbst je sein könnten.

Hygge ist die Flucht vor dem
brennenden Müllhaufen namens Welt

Statt uns ein schlechtes Gewissen zu machen, dass wir nicht behaglich genug leben, sollten wir uns klar machen, dass der Kult um die skandinavische Behaglichkeit nicht mehr ist, als eine weitere Verkaufsmasche. Die Claims der Hygge-Industrie wie “Just be happy” suggerieren uns, unser Wohlbefinden sei ein Zustand, den wir stets und ständig frei wählen und frei gestalten können. Dieser Gedanke ist nicht so harmlos, wie er daherkommt, da er letztlich aus dem gleichen argumentativen Boden sprießt wie die Idee, Depression sei keine Erkrankung, sondern ein bisschen schlechte Stimmung, gegen die sich Betroffene einfach wehren könnten, wenn sie es nur genug wollten.

Aber das ist falsch.

Gleichzeitig verstehe ich, was den Hygge-Kult zum internationalen Verkaufsschlager macht. In einer Zeit, in der Rechtsextreme in den Bundestag gewählt werden, ein Kriminalkomissar in Bürger*innengesprächen rechtsextreme Verschwörungstheorien verbreitet und es einen US-Präsident gibt, der es okay und sogar wünschenswert findet, sexualisierte Gewalt gegen Frauen anzuwenden, wirkt die Welt an manchen Tagen wie ein riesiger, brennender Müllhaufen. Gefühlt minütliche Updates über das Abkacken des Planeten aufgrund des Klimawandels tun ihr Übriges. Genau wie armselige Reaktionen deutscher Zeitungen auf die globale #metoo-Bewegung, in denen der Verfasser oder die Verfasserin versucht, die Erfahrungen von Millionen von Frauen nichtig zu machen oder Schuld umzukehren.

Behaglichkeit und Wohlbefinden
sind nicht immer in unserer Macht

Es gibt überwältigend viele Gründe, sich buchstäblich lieber unter eine Decke zu verkriechen und dem Ende der Welt entgegen zu dämmern, als in dieser Realität zu leben. Und ein System, das besonders weiche Decken propagiert und uns damit ablenkt, welcher Scherenschnitt den perfekten Weihnachtsstern hervorbringt, hat einen großen eskapistischen Reiz.

Aber die Flucht vor der Beschissenheit der Welt und vor dem Stress, in den wir gerade am Jahresende stürzen, braucht kein Verkaufsetikett. Für den Anfang würde es eher helfen uns zu vergegenwärtigen: Behaglichkeit und Wohlbefinden sind nicht immer in unserer Macht und das ist ok. November und Dezember in ständiger Geschäftigkeit zu verbringen, weil wir keine Wahl haben, wann unsere Rechnungen fällig werden, ist ok. Lebensqualität hängt auch davon ab, wie viel Zeit wir haben, um mit Menschen rumzuhängen, mit denen wir gerne zusammen sind. Manchmal ist es schwierig, diese Zeit zu finden – für uns oder für die Freund*innen. Und auch das ist ok.

Statt unser schlechtes Gewissen mit einem neuen Magazin, einem Lifestyle-Blog oder Instagram-Inszenierungen zu befrieden (und damit paradoxerweise nur weiter zu füttern, weil wir niemals so perfekt sein können wie inszenierte Medienwelten),

sollten wir uns klar machen, dass innerer Frieden kein Orden ist, der uns von den entspannten Hygge-Menschen verliehen wird, wenn wir nur schön genug gebastelt haben.

Eher ist er ein Momentzustand. Manchmal können wir etwas dafür machen, dass er sich einstellt, auch ohne dafür Magazine zu kaufen oder dänischen Lifestyle-Gurus zu folgen. Und manchmal können wir nur akzeptieren, dass wir gerade andere Dinge um die Ohren haben, als uns um unsere Behaglichkeit zu kümmern.

6 Antworten zu “Hygg mich am A… – ein Abgesang auf den Hype um Hygge”

  1. RonjaMama sagt:

    Nach dem mehrfachen Lesen des Textes würde ich dich,die Autorin,am liebsten gerade heiraten!

  2. Katrin sagt:

    Genialer Text!! Danke für diese ehrlichen Worte

  3. P_Nuwen sagt:

    Puuuh, was für ein Aufriss um eine Kalenderweisheit: Nur wer mit sich selbst klarkommt, kann äußere Erwartungen richtig einordnen. Insofern … Hygge? Zum ersten mal von gehört. Eine schöne Sache für diejenigen, denen es gefällt. Die anderen? Machen halt ihr Ding wie vorher auch. Und wenn es eben eine zum Rant ausgewalzte Selbstreflexion ist.

  4. Dagenham Dave sagt:

    Arbeite gerade mein Postfach durch und durfte über Deinen Text stolpern.
    DANKE!
    Lass‘ uns Müllhaufen löschen und uns mit lieben Menschen über Lifestyle-Shit belachen!

  5. pjebsen sagt:

    Zum Glück interessiere ich mich für das „Hygge“-Konzept so wenig, dass ich stets aufs Neue nachlesen muss, für was es genau steht. Und Weihnachten ignoriere ich eh. Als Zielgruppe für wollpulloverflauschige Behaglichkeit scheide ich also aus.

    Deswegen verstehe ich nicht, warum dich, liebe @julianeleopold:disqus, solcher Marketing-Quatsch nach eigenem Bekunden offenbar bewegt:

    „Was mich aber wirklich rasend macht, ist, dass in den letzten Jahren die
    subtile Hirnwäsche, dass auf der Welt am Jahresende nur versonnen
    lächelnde Wollpullovermenschen auf Sofas existieren, erweitert wurde.“

    Erreicht dich diese „Hirnwäsche“? Solche Behaglichkeits-Bilder stoßen mich schon beim ersten Betrachten spiontan ab, daher erreichen sie die (Un-)Tiefen meines Hirns erst gar nicht.

    „Endlos scrollen wir durch Szenen des Glücks, uns verlierend in den
    Glücksversprechen von inszenierten Situationen an Orten, die wir
    bereisen wollen, weil wir glauben, dass sie uns interessanter machen,
    als wir es selbst je sein könnten.“

    Wer sind „wir“? Schließt du dich ein, oder urteilst du hier über andere?

    „Statt uns ein schlechtes Gewissen zu machen, dass wir nicht behaglich
    genug leben, sollten wir uns klar machen, dass der Kult um die
    skandinavische Behaglichkeit nicht mehr ist, als eine weitere
    Verkaufsmasche.“

    So weit gehe ich nicht. Es gibt mit Sicherheit die Wollpullover-Klientel, für die solcher Kult keine Masche ist, sondern die persönliche Befindlichkeit ausdrückt. Da ich nicht dazugehöre, habe ich auch nicht die Bohne von schlechtem Gewissen. ;-)

    „(…) Manchmal können wir nur akzeptieren, dass wir gerade andere Dinge um die
    Ohren haben, als uns um unsere Behaglichkeit zu kümmern.“

    Wenn ich mich mal vom Hygge-Marketing-Begriff der „Behaglichkeit“ löse, finde ich so gut wie nichts wichtiger, als dass ich mir auch in größten Stress-Momenten meine Entspannungsmomente gönne – also z. B. eine mittägliche Genießermahlzeit. Vielleicht bin ich ja auf eine andere Art und Weise „Hygge“ … ;-)