Nicht einfach nur traurig – #NotJustSad

Foto , CC BY-SA 2.0 , by Funky Tee

Dies ist ein Beitrag aus unserer Rubrik kleinergast, in der wir alle Gastartikel veröffentlichen. Dieses Mal kommt er von Malaika.

Malaika ist Studentin und Aktivistin. Ihre Herzensthemen sind Feminismus, Antirassismus, Psychologie und Kuchen in allen Variationen. Sie rief den Hashtag #NotJustSad ins Leben.


Blog von Malaika @Mali_2

[Inhaltsanmerkung: Depressionen, Suizid]

Am 10. November 2014 schrieb @R3nDom bei Twitter:


Er selbst ist an einer bipolaren Störung erkrankt. Als bei ihm wieder eine depressive Episode begann, nutzte er Twitter als Ventil.

Die Twitternutzerin @Isayshotgun sah diesen Tweet, retweetete ihn und fing selbst an, in mehreren Tweets über ihre Depressionen zu schreiben:


Einige ihrer Follower_innen begannen, an es ihr gleich zu tun und ebenso über ihre Erfahrungen mit der Erkrankung zu schreiben. Ich sah das und schlug vor, dass man daraus doch einen Hashtag machen könnte:


Gegen späten Abend, nach kurzer Absprache mit den beiden Twitter-User_innen @MikaMurstein und @halbbluthobbit, schrieb ich dann folgenden Tweet:


Er verbreitete sich wie eine Lawine, erreichte nur wenige Tage später 10.000 Tweets, und schon am Morgen nach der Verkündung des Hashtags veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung einen ersten Zeitungsartikel. Viele weitere Medien folgten. Dass dieser Hashtag solche Wellen schlagen würde, hätte ich nie gedacht – aber wer auf Twitter ist und schon die ein oder andere Hashtag-Aktionen wie z.B. #Aufschrei verfolgt hat, weiß wie schnell sowas gehen kann.

Wieso Depressionen kein Synonym für Traurigkeit sind

Ich hatte im spontanen Brainstorming noch weitere mögliche Hashtag-Namen vorgeschlagen. Mittlerweile bin ich sehr zufrieden mit der Namenswahl „NotJustSad“. Depressionen sind eine Erkrankung, von der die meisten Menschen schon mal gehört haben, aber über die die wenigsten wirklich Bescheid wissen. Viele Nicht-Betroffene stellen sich oft vor, dass an Depressionen erkrankt zu sein bedeute, einfach sehr oft traurig zu sein. Niedergeschlagenheit kann eines von vielen Symptomen von Depressionen sein, muss es aber nicht. Es gibt viele unterschiedliche Formen von Depressionen, so kann sie z.B. ein Symptom einer anderen psychischen oder körperlichen Erkrankung sein, sie kann saisonal bedingt auftreten, sie kann nach einer Schwangerschaft vorkommen, sie kann rezidivierend (wiederkehrend) sein, sie kann sich in Form einer bipolaren Störung mit manischen Episoden abwechseln und so weiter. (Da ich unmöglich in einem Post auf alle verschiedenen Formen eingehen kann, werde ich nur ein paar mögliche Merkmale beschreiben und bitte immer zu beachten, dass jede_r Depressiverkrankte anders ist.)

Die Depression ist eine Krankheit der „-losigkeit“, Symptome können sein: Antriebslosigkeit, Freudlosigkeit, Interessenlosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Appetitlosigkeit, Gefühllosigkeit. Depression wirkt sich dabei auf alle Lebensbereiche aus, die Gefühlswelt ist also nur eine davon. Und auch hierbei kann es sowohl zur kompletten emotionalen Leere kommen, als auch zu einer Vielzahl negativer Emotionen. „Traurigkeit“ beschreibt es nur selten.

Meine letzte, und auch für mich bedeutendste/schwerste depressive Episode hat nicht mit Niedergeschlagenheit oder ähnlichen Emotionen begonnen. Die ersten Symptome waren bei mir Antriebslosigkeit und Gefühllosigkeit. Ich traf mich immer weniger mit Freund_innen, ging seltener in die Uni, bis ich dann irgendwann die Wohnung, und eigentlich auch das Bett, gar nicht mehr verließ. Wochen, in denen ich es nur an einem Tag schaffte, überhaupt raus zu gehen, wurden die Regel, statt die Ausnahme. Überhaupt erst das Bett zu verlassen konnte nach dem Aufwachen noch Stunden dauern. Bei all dem fühlte ich nichts. Ich war wie innerlich tot und vegetierte nur in meinem Bett vor mich hin.

Die Symptome änderten sich auch immer mal, und irgendwann fing ich wieder an zu fühlen. Das waren dann aber keine positiven Emotionen, diese schienen für mich unerreichbar. Ich empfand eine Bandbreite an negativen Gefühlen, die so schlimm waren, dass ich für sie immer noch keine Worte habe.



Viele Menschen haben Schlafstörungen, gar keinen oder auch zu viel Appetit, Konzentrationsschwierigkeiten, quälende Grübelspiralen, körperliche Schmerzen. Die einfachsten Aufgaben wie z.B. Duschen, gleichen einem Mount Everest-Aufstieg, die Konzentration fehlt – und es können zahlreiche Zusatzerkrankungen und Komplikationen auftreten (Suchterkrankungen, Angststörungen und Migräne sind nur drei von etlichen Beispielen). Die vermutlich drastischste „Komplikation“ ist der Suizid. Wenn sich jeder Tag anfühlt wie der “Kuss” eines “Dementors“ und man gleichzeitig überzeugt ist, dass es nie besser wird (Hoffnungslosigkeit ist ein Symptome einer Depression), ist es nicht verwunderlich, dass Suizid oft die einzige Option zu sein scheint.

Suizidgedanken sind ein Symptom, das bei der Depression, genauso wie bei einigen anderen psychischen Erkrankungen, sehr häufig vorkommt. Sie treten in einer Bandbreite von verschiedenen Abstufungen auf, angefangen bei „Ich hätte nichts dagegen, wenn ich morgen nicht mehr aufwachen würde“ bis hin zur konkreten Planung und Umsetzung des Suizides. 15% aller Depressiven sterben an ihrer Erkrankung. Ca. 10.000 Menschen sterben in Deutschland jedes Jahr an Suizid – mehr Menschen als an Aids, Drogen und Verkehrsunfällen zusammen. Die Zahl der Suizidversuche wird auf 10 bis 15 Mal so hoch geschätzt.

Was kann und hat #NotJustSad geschafft
und wo müssen wir weiter ansetzen?

Wie viele Rückmeldungen gezeigt haben, bewirkt der Hashtag unter anderem auf einer individuellen Ebene, dass viele Betroffene sich weniger alleine und mehr verstanden fühlen. Dieses Gefühl führt bei vielen zu weniger Scham und bei einigen sogar dazu, sich zum ersten Mal professionelle Hilfe zu suchen.


Manche Erkrankte sprechen durch #NotJustSad sogar zum ersten Mal über ihre Depression.


Auch für Nicht-Betroffene ist der Hashtag von großer Bedeutung. Einige schrieben, dass sie durch die Tweets, teilweise zum ersten Mal, besser verstünden, wie und was Depressionen sein können. All das ist wichtig: Dass Betroffene sich weniger alleine fühlen, dass sie verstehen, dass sie sich professionelle Hilfe holen dürfen und können, und auch, dass Nicht-Betroffene lernen, dass Depressionen eine Krankheit sind und wie diese mitunter verläuft.

Es ist allerdings ebenso notwendig, dass wir uns nicht nur auf dieser individuellen Ebene bewegen. Wir müssen uns als Gesellschaft fragen: Warum können Menschen jahrelang mit niemandem über ihre Krankheit reden? Wieso schämen sich Betroffene eine Therapie zu machen oder darüber zu sprechen? Warum wissen Nichtbetroffene nicht, dass Depressionen „not just sad“ sind? Das sind alles nicht nur rein individuelle Fragen, sondern sie haben essentiell mit unserer gesamten Gesellschaft zu tun.

Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen:
“Krankheit = Schwäche = schlecht”

Vor einem Jahr rief @sassyheng den Hashtag #isjairre ins Leben. Dabei ging es gezielt um die Diskriminierung von psychisch erkrankten Menschen. Wer den Hashtag sucht, wird, neben ein paar Trollen, auf eine Vielzahl an diskriminierenden Äußerungen und Erlebnissen aus dem Leben von psychisch Kranken stoßen. Auch diese individuellen Erlebnisse sind alle eingebettet in einem System, in dem psychisch Kranke als vermeintlich „schwache Glieder“ der Gesellschaft (Schwäche = gesellschaftliches No Go) an allen Ecken und Enden Stigmatisierung erfahren.

Diskriminierung von psychisch Kranken bzw. Ableismus können Kommentare vom privaten Umfeld sein, die daraus resultierende Isolation, das Totschweigen der Erkrankung und ihrer Folgen, aber auch die beruflichen Repressalien, die ein „Coming Out“ mit sich bringt. Eines von vielen Beispielen ist der mittlerweile leider an Suizid verstorbene Profifußballer Andreas Biermann. Nach dem Suizid des Torwarts Robert Enke waren die Rufe sowohl beim Deutschen Fußballbund als auch im restlichen Teil der Öffentlichkeit groß, dass wir als Gesellschaft offener über Depressionen sprechen müssen und auch Betroffenen die Möglichkeit geben wollen und sollten, dies zu tun. Andreas Biermann nahm dies ernst und sprach in der Öffentlichkeit über seine Depressionen und seine Suizidversuche. Folge seines Coming Outs war, dass er keine weiteren Verträge mehr bekam. Was Andreas Biermann erlebte, gleicht den Erlebnissen vieler Betroffenen –nicht ohne Grund schreibe ich hier nicht unter meinem vollständigen Klarnamen.

Stigmatisierung und Diskriminierung von psychisch erkrankten Menschen betrifft allerdings nicht nur ihre berufliche Laufbahn. Sie bedeutet Ausgrenzung und Isolation. Laut Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Wölwer und Dipl.-Psych. Harald Zäske können die Folgen für Betroffene „Verlust von Selbstwertgefühl, (sozialer) Rückzug, erschwerter Zugang zu Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten, verminderte Lebensqualität“ sein.

Stigma kann außerdem „das Hilfesuchverhalten negativ beeinflussen“ und dem Behandlungs- und Besserungsprozess der eigentlichen Erkrankung schaden. Das heißt, Stigma verschlechtert sowohl den Krankheitsverlauf und sorgt gleichzeitig dafür, dass Erkrankte weniger Hilfe und Unterstützung bekommen. Somit kann auch Stigmatisierung unter anderem zu tödlichen Krankheitsverläufen führen.

Hierbei ist das Thema der Mehrfachdiskriminierung noch gar nicht mit einkalkuliert. Mehrfachdiskriminierung bedeutet, dass Menschen verschiedener Diskriminierungsformen ausgesetzt sind, die ineinander wirken. So kann z.B. Rassimus oder Transfeindlichkeit die Therapieplatzsuche für Betroffene noch erschweren.

Mängel im Behandlungssystem

Doch auch, wenn Betroffene es schaffen die Scham und das Stigma für den Moment auszublenden (komplett ignorieren funktioniert eh nicht) und sich Hilfe zu suchen, ist eine adäquate medizinische Behandlung nicht gesichert. Viele Allgemeinärzt_innen, an die sich Betroffene wegen zumeist noch „diffuser Symptome“ wenden, sind nicht ausreichend über psychiatrische Erkrankungen aufgeklärt und sehen die zu Grunde liegende Erkrankung beispielsweise hinter „den Rückenschmerzen und der Müdigkeit“ nicht.

Aber auch wenn Betroffene bereits eine psychische Erkrankung vermuten und sich an Fachärzt_innen und Psychotherapeut_innen wenden, sind die Wartezeiten sehr lang. Die flächendeckende psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung ist alles andere als gesichert. Dies gilt sowohl für stationäre als auch ambulante Behandlungen. Auf ein Erstgespräch bei einem_einer ambulanten Therapeut_innen müssen Betroffene im Durchschnitt drei Monate warten, ein Drittel wartet ein halbes Jahr oder länger. Diese langen Wartezeiten können zum einen eine signifikante Verschlechterung des Krankheitsverlaufs bedeuten, und zum anderen die Folge haben, dass Betroffene diesen Zeitraum gar nicht überleben.

Die individuellen Tweets, die persönliche Geschichten und Symptome und der Austausch von Betroffenen und Nichtbetroffenen sind ein wichtiger Teil im Kampf gegen Stigmatisierung. Aber die Debatte darf hier nicht aufhören. Stigmatisierung, Ableismus/Diskriminierung und deren Folgen, sowie mangelnde Therapieplätze und mangelnde Qualitätskontrollen von psychiatrischen Kliniken müssen von der individuellen auf die gesellschaftliche Dimension gehoben werden und weiterhin Debattenthema bleiben (oder auch erst richtig werden).

Die Themen Depressionen und psychische Erkrankungen im Allgemeinen sind nicht nur „Betroffenenthemen“. Es ist auch ein gesamtgesellschaftliches Problem, das uns alle etwas angeht. Schon alleine, da in der Zeit in der ihr diesen Artikel gelesen habt mindestens eine Person in Deutschland (erfolgreich oder nicht) versucht hat, sich das Leben zu nehmen.

Weiterführende Links

Do’s und Don’ts im Umgang mit Depressiven/suizidalen Menschen
Kommentar zum Hashtag von einem Psychiater

Anlaufstellen

Anlaufstellen (persönliche oder telefonische Beratung) nach Postleitzahl finden
Infotelefon der Deutschen Depressionshilfe
Therapeut_innenlisten gibt es bei Krankenkassen und unter psychinfo.de
Beratung und Unterstützung für Betroffene unter 25 Jahren

13 Antworten zu “Nicht einfach nur traurig – #NotJustSad”

  1. Anonym sagt:

    Ich bin zwar „nur“ ein Dritter der das Ganze mit seiner Partnerin durchgemacht hat, trotzdem war auch das – ich nenne es mal freundlich – aufwühlend. Das größte Dilemma dabei waren nicht einmal Freunde und Familie (die alle davon wissen und uns viel geholfen haben), sondern die psychatrische Abteilung in der sie untergebracht war. Ich bin sicher kein Arzt, aber ich hatte zuvor schon viel über das Thema gelesen (und trotzdem war ich unfähig, die Symptome zu erkennen). Und ich wusste eines sicher: diese psychatrische Abteilung war alles andere als geeignet für einen Menschen, der an Depression erkrankt ist. Sie wurde nicht beschäftigt, die Gespräche waren aggressiv und führten keineswegs zu irgendeinem Ziel. Weder meine Partnerin noch die Angehörigen wurden über ihre Rechte informiert (bspw. Ausgangszeiten).

    Das Schlimmste dabei war, das einer der Ärzte sogar drohte, das es kein Problem wäre ein Gerichtsbeschluss zu bekommen, um sie dort zu halten. Dabei hatte sie keinerlei Selbstverletzungs- oder gar Suizidgedanken. Aber solche Worte können verheerend für einen depressiven Menschen sein, die ohnehin schon eingeschüchtert und ängstlich sind (jedenfalls in ihrem Fall). Ich selber war auch schon wie gelähmt, so das ich all das Gelesene komplett vergessen hatte. Irgendwann kam ich doch drauf, engagierte einen Anwalt und wir holten sie dort raus. Das ist ja auch ihr gutes Recht, nur jemand Depressiven klar zu machen, das sie jederzeit gehen darf, das ist extrem schwierig und hat sehr viel Anstrengung gefordert. Das Ganze waren nur 6 Tage (also in der „Klinik“), aber bis heute kommt mir das wie ein Monat vor.

    Ich könnte sicherlich weit mehr erzählen, aber das wäre dann fast schon einen eigenen Blogeintrag wert. Ich wollte nur über die dabei eigentlich schrecklichste Erfahrung berichten. Nämlich ausgerechnet diejenigen, die sich damit am Besten auskennen sollten, das Ganze am stärksten verschlimmert haben.

    Meine Partnerin ist kurze Zeit später im wohligen Zuhause und mithilfe von schwachen Antidepressiva wieder zur Ruhe gekommen. Aber diese Episode hat uns beide sehr mitgenommen. Hielten wir bis dato psychatrische Einrichtungen in Filmen für Fiktion, wurde das Ganze auf einmal furchtbar real und Filme wie „Einer flog übers Kuckucksnest“ sind unerträglich für uns geworden.

    • Malaika sagt:

      Es tut mir Leid, dass deine Partnerin und du diese schlimmen Erfahrung machen mussten. Ich kann mir vorstellen, dass das auch für dich als Angehörige_n mehr als schwierig war.
      Die Drohung des Arztes ist perfide und sofern keinerlei akute Suizidgedanken erkennbar sind, auch absolut haltlos. Selbst bei Suizidgedanken können sie einen nicht einfach so dabehalten, da müssen die Gedanken schon sehr akut und eine absolute Gefahr für (eigenes oder fremdes) Leib und Leben darstellen.

      Aus meiner eigenen Erfahrung, den Erfahrungen meines Umfelds und von allem was ich gelesen und recherchiert habe, kann ich sagen: Es gibt solche und solche Kliniken. Gerade im Bereich der Psychiatrien gibt es leider auch immer wieder schwarze Schafe. Deswegen wären (bessere) Qualitätskontrollen, wie im Text kurz angeschnitten, auf jeden Fall absolut notwendig. Hatte auch u.a. auf Twitter mich schon mal dazu geäußert (z.B. hier https://twitter.com/Mali_2/status/538677792230350849 und hier https://twitter.com/Mali_2/status/538680253468905472). Allerdings muss da natürlich auch außerhalb von 140 Zeichen noch viel mehr passieren.

      Ich gebe Betroffenen oft den Typ: Für eine richtige, längerfristig wirkende stationäre Therapie lieber in eine Psychosomatik, eine Rehaklinik oder eine spezifische psychotherapeutische Klinik gehen. Und bei geplanten Aufenthalten immer vorher die Klinik und Erfahrungsberichte (z.B auf Klinikbewertungen.de) recherchieren. Allerdings sind die Wartezeiten in solchen Kliniken in der Regel sehr lang. Für den Akutfall würde ich daher immer noch zur Psychiatrie raten. In den meisten Psychiatrien läuft es auch tatsächlich nicht mehr wie „Einer flog übers Kuckucksnest“ ab. Aber es gibt leider doch auch Außnahmen, die immer noch sehr stark an diesen Film erinnern.

  2. Robin Urban sagt:

    Für jede mögliche Diskriminierungsform wird direkt ein neues Wort erfunden. Warum wird bei psychischen Erkrankungen auf „Ableismus“ zurück gegriffen? Eine Depression ist KEINE Behinderung und ich als Betroffene lehne diesen Begriff in diesem Zusammenhang ab.

    • Malaika sagt:

      Ich verstehe deine Einwände, aber muss dir da leider widersprechen. Nicht nur ich als Betroffene, sowie viele weitere Betroffene würden eine Depression unter Umständen als Behinderung einstufen, sondern auch das Versorgungsamt. Die Depression ist, sofern keine körperlichen Folge- oder Zusatzerkrankung auftreten, keine körperliche Behinderung, aber die kann eine psychische Behinderung sein. Je nach Grad der Einschränkungen die durch die Depression auftreten, ist es sogar möglich einen Schwerbehindertenausweis aufgrund der depressiven Erkrankung zu erhalten.
      Weitere Informationen und Erklärungen zum Thema psychische Behinderungen und Schwerbehindertenausweis findest du u,a, auch unter folgenden Links:
      http://de.wikipedia.org/wiki/Psychische_Behinderung
      http://www.curendo.de/pflege/psychische-erkrankungen-wann-werden-sie-als-schwerbehindert-anerkannt/
      http://www.betanet.de/betanet/soziales_recht/Depressionen—Behinderung-608.html

      Der Begriff wird häufig dafür verwandt Diskriminierung sämtlicher Formen von Behinderungen und chronischen Erkrankungen zu erfassen und steht stellvertretend für ein gesellschaftliches System in dem jede Form von vermeintlicher „Schwäche“ (sei es körperlich oder psychisch bedingte) stigmatisiert wird.

  3. Giliell sagt:

    Traurigkeit hat für gewöhnlich einen Grund. Trennung, Todesfall, was auch immer. Deshalb verstehen Menschen, die Depression für Traurigkeit halten es auch ganz und gar nicht, schließlich hat aus ihrer Sicht der/die Erkrankte doch gar keinen Grund zum traurig sein.

    Deshalb ist mir ganz wichtig, Traurigkeit nicht „depressiv“ zu nennen. Nein, du hast nicht „den Depri“. Und schlechte Nachrichten aus der Welt sind auch nicht „deprimierend“.

  4. Manon sagt:

    Die meisten psychatrischen oder psychosomatischen Kliniken haben eine Notfallambulanz. In Kriesen oder bei suizidalen Gedanken kann man sich an diese wenden. Dort bekommt man kurze Gespräche, Notfallmedikation und Unterstützung einen Therapieplatz in einer stationären Klinik zu bekommen.
    Wenn man suizidal ist wird man immer aufgenommen.
    Ambulanzen stellen auch Diagnosen und haben oft Selbsthilfegruppen u.ä.

    Diese ersetzen keine Therapie, können aber im Notfall Leben retten.
    In den meisten Großstädten und Ballungsgebieten sind solche Ambulanzen leicht zu erreichen.

    Danke für diesen tollen Text.
    Gesendet von einer LWL Depressionsstation.

  5. noname sagt:

    Danke für den Text und für den hashtag. Ich beginne zu verstehen, was vor ungefähr zwei Jahren mit mir los war. Ich dachte, ich bin einfach nur unmotiviert, dass es am Winter liegt, an dem falsch gewählten Studiengang, dass ich mich nur einmal aufraffen müsste und disziplinierter sein müsste um nicht immer in meinem Bett zu liegen und an die Wand zu schauen. Um froh zu sein, wenn ich es geschafft habe zur Uni zur gehen, etwas zu kochen oder einkaufen war.
    Depression klang für mich immer so „groß“ und so fern, dass ich überhaupt nicht auf die Idee gekommen bin, dass ich damals nicht einfach nur eine schlechte Zeit sondern vielleicht eine depressive Zeit hatte, aus der ich nur mit viel Glück wieder herausgekommen bin. Ich wünschte ich hätte etwas wie diesen Text damals schon gelesen, es hätte mir bestimmt geholfen, besser damit umzugehen und mir Hilfe zu holen statt einfach nur krampfhaft zu versuchen, „normal“ zu leben. Aber auch jetzt helfen mir all diese Informationen und Erfahrungsberichte zu verstehen was da los war, und besser „vorbereitet“ zu sein, falls ich wieder in so eine Situation gerate.
    Vielen Dank!

  6. Lou Prinz sagt:

    Danke für diesen Text! Mich erstaunt vor allem immer wieder die bewusste und unbewusste Tabuisierung von Depressionen, vor allem in meinem engsten Freundes- und Familienkreis. Neulich saß ich abends mit Freund_innen in einer Kneipe beim Bier, als das Gespräch auf eine Bekannte kam, deren Mann depressiv ist. Zwischen meinem Freund und einer Freundin entspann sich ein Gespräch darüber, wie schwer es für die Bekannte und ihren Mann sein muss etc., und ich kam mir vor, als säße ich nicht mehr am Tisch. Alle wissen, dass ich vier Jahre lang wegen Depressionen zur Therapie gegangen bin, dass ich zwei Jahre lang Medikamente genommen habe. Aber niemand spricht es an. Meiner Meinung nach hat das zwei Gründe: 1. Angst davor, mich irgendwie „falsch“ darauf anzusprechen und damit vielleicht eine neue depressive Phase auszulösen (das trifft v.a. auf meine Mutter zu, die sich nicht mal traut, zu fragen, ob ich denn noch zur Therapie gehe). 2. eine seltsame Konzeption von Therapie als „jetzt ist alles wieder gut“. „Dir gings mal nicht so gut, dann hast du dir Hilfe gesucht, das ist jetzt abgeschlossen und du wieder normal“ ist der Subtext dieser Vorstellung. Als ich meinen Freund auf die Situation in der Kneipe ansprach, sagte er, er habe in dem Moment einfach nicht daran gedacht, dass ich auch mal depressiv war. Mich verletzt sowas, denn es heißt, dass ich nicht ernst genommen werde. Nur wenn ich „wieder normal“ und gesund bin, werde ich gesehen. Als schwache, depressive, verzweifelte Person werde ich vergessen. Denn das wäre ja auch schmerzhaft für das Gegenüber.
    Ich wünsche mir dringend einen offeneren Umgang mit dem Thema Depression, ein respektvolles, interessierte Nachfragen, gerade von mir nahestehenden Menschen. Denn dass man angenommen und gesehen wird, auch wenn man nicht erfolgreich, energiegeladen, unendlich flexibel, sondern niedergeschlagen, müde, verzweifelt ist – das ist ein Gefühl, das mir schon hilft, aus Depressionen herauszufinden.

  7. Malaika sagt:

    Ich hatte es erst so verstanden, dass Robin von körperlicher Behinderung betroffen ist. Aber nach deinem Kommentar und nochmal lesen, kann natürlich auch die Betroffenheit von Depressionen gemeint sein. Teile deine Verwunderung.

  8. sturmfrau sagt:

    Als Depressive kann ich dazu sagen, dass es mich überhaupt nicht wundert, dass die Depression gesellschaftlich nicht gern gesehen ist. Es kann allenthalben die Rede sein von großer Betroffenheit, wenn mal wieder jemand es nicht geschafft hat, sich im Leben festzuhalten, aber ich halte das für gesamtgesellschaftliche Show. Weil es eben ganz schick sein kann, sich bisweilen auch mal gerührt zu zeigen von den Schmerzen anderer. Vielleicht noch ein bisschen Charity dazu, und das war’s dann.

    Ich würde zum Beispiel den Teufel tun, meinem Arbeitgeber oder meinen Kollegen von meiner Depression zu berichten. Mein Mann weiß es, meine engsten Freunde wissen es, und sonst niemand, wo ich nicht anonym bin. Das aus gutem Grund. Ich müsste eingestehen, wie schwer es mir fällt, morgens aufzustehen. Ich müsste eingestehen, dass mich das Gefühl schierer Verzweiflung befällt, wenn man mich kritisiert, und dass das dazu führt, dass ich mich als Person komplett in Frage stelle. Ich müsste eingestehen, dass das Leben selbst keine lustige Party ist, was die meisten nicht sehen wollen. Depression ist ein Symptom dafür, dass man nicht fühlen durfte und es insgesamt nach wie vor nicht darf. Wir sollen funktionieren, konsumieren und die Bedürfnisse anderer erfüllen. Eigene dürfen wir nicht haben. Depressive haben das Selbst-Sein verlernt, und das geschieht nicht einfach so.

    Eine kleine Anekdote: Mein Kollege berichtete heute von seiner Ex-Chefin, die keine Weihnachtsfeier für ihre Belegschaft abhielt, weil an dem betreffenden Tag ihr Mann gestorben war. „Wie kann man nur immer so griesgrämig sein. Menschen sterben nun mal. Darüber muss man nicht jahrelang jammern!“, sagte der Kollege. Derselbe, der Suizidanten als Feiglinge bezeichnet. Er hat gegenüber allem Emotionalen diese Haltung, und ich denke, das ist exemplarisch für die Stimmung vieler Menschen. Sie wollen nichts davon hören, vom Trauern, vom Traurigsein, von Schmerz und Angst. Insofern hat die Depression tatsächlich nichts mit Traurigkeit zu tun. Sie entsteht erst aus dem Verbot, traurig zu sein. Übrigens auch (wie ich in meinem Leben schmerzhaft erfahren habe) aus dem Verbot, sich wirklich tief zu freuen.

    In einer solchen Atmosphäre macht man aus seinem Herzen eine Mördergrube. Verachtung, falsches Mitleid, kühle Distanz lassen einen spüren, dass die Depression eine unerwünschte Erscheinung ist, und mal ehrlich, wie soll man so etwas dann als Depressiver nicht persönlich nehmen? Denn man hat ja „keinen Grund“ zur Depression. Ich glaube nicht, dass ein Hashtag wie dieses daran etwas ändern wird, auch wenn ich es gern würde. Depressive erinnern ihre Mitmenschen daran, wie sie selbst auf keinen Fall sein wollen.

    Psychotherapie birgt meiner Meinung nach große Chancen. Ich persönlich habe mich allerdings davon verabschiedet, meine Depression zu bekämpfen. Sie ist ein Teil von mir, und dafür gibt es Gründe. Das auszublenden triebe mich nur noch tiefer in das schwarze Loch. Insofern ist der gängige Umgang mit Depressionen paradox. Wo lediglich Akzeptanz helfen würde, wird verzweifelt optimiert, retuschiert, schöngelächelt. Natürlich will sich niemand so fühlen, ich auch nicht, und ich bin manchmal kurz vor dem Aufgeben, ganz unten. Aber zu begreifen, dass das Leben so ist, ist das einzige, was meiner Meinung nach hilft. Ich muss kein Bad nehmen, kein Wochenende Auszeit in einem Wellness-Hotel, nicht einfach „Zeit für mich selbst“, keine Pillen, die mein Funktionieren sicherstellen sollen, ich brauche keine Maltherapie und kein Joggen für die Endorphine. Ich muss nur sein dürfen, zu allererst vor mir selbst. Das zu lernen ist eine Lebensaufgabe, die man nicht ohne die liebevolle Akzeptanz und Zuneigung anderer bewältigt. Genau daran scheitert man dann, weil man unbequem, kompliziert, verkrampft, kalt, angespannt, schwierig, schmerzlich ist. Eben nicht shiny. Man hat Glück. Oder man stirbt.

  9. Alex sagt:

    Zwei Erlebnisse, die mir besonders in Erinnerung geblieben sind:
    Als ich in einer neuen Stadt zum ersten Mal psychotherapeuthische Hilfe gesucht habe und zu einer Hausärztin gegangen bin, um eine Überweisung zu bekommen, fragte sie auf meine Bitte: „Wie, Ihnen geht es im Moment nicht gut?! Sind Sie traurig oder was?“ Ich draufhin, ziemlich fassungslos: „äh…ja, das auch manchmal…“. Darauf die Ärztin: „Aber Sie sind doch noch so jung?! Also, ich bin mir nicht sicher, ob Sie eine Therapie brauchen. Ich überweise Sie zu einem Psychiater, der kann das ja dann entscheiden und Ihnen ggf eine Überweisung geben.“

    Die andere Szene spielte sich während einer Obduktion in der Rechtsmedizin ab, an der ich und ca. 10 weitere Personen aufgrund unserer Ausbildung teilnahmen. Eine der Leichen war ein junger Mann, Anfang 20, der sich durch vor-den-Zug-stellen suizidiert hatte. Der Rechtsmediziner erzählte ein wenig über den Fall, sowohl über die Verletzungen als auch darüber, dass der junge Mann vor dem Suizid mehrere Abschiedsbriefe geschrieben hatte, auch einen an den Lokführer, in welchem er sich entschuldigte. Eine Kommilitonin kommentierte dies mit einem Spruch darüber, dass solche Menschen doch das letzte wären, die in sowas auch noch andere mit „hineinzögen“, und dass sie doch bitte gern sterben könnten, aber dann wenigstens andere damit in Ruhe lassen sollten… no words.

    • Kinch sagt:

      Das mit der Hausärztin ist wirklich übel :/

      Eine Kommilitonin kommentierte dies mit einem Spruch darüber, dass solche Menschen doch das letzte wären, die in sowas auch noch andere mit „hineinzögen“, und dass sie doch bitte gern sterben könnten, aber dann wenigstens andere damit in Ruhe lassen sollten… no words.

      Ich hätte dazu gerne Words, wenn ich darf: Was stört dich an der Aussage?

      • Alex sagt:

        Dass ich es unfassbar respektlos und empathielos finde, wenn einer das als erstes und einziges einfällt, beim Anblick des völlig zerschundenen Körpers eines Menschen, der es nicht geschafft hat, weiterzuleben. Es ist ein Urteil und zwar auch ein Werturteil über eine Person, die mensch überhaupt nicht kennt und über deren Geschichte mensch nicht das Geringste weiß. Im übrigen finde ich es sehr problematisch, so völlig die Verantwortung der Gesellschaft(tm) gegenüber dieser Person zu negieren, denn in den seltensten Fällen kommt ein Mensch von ganz allein an einen Punkt, an dem er sich vor einen Zug stellt, um nicht mehr weiterleben zu müssen. In so ziemlich allen Fällen, die ich mir vorstellen kann, spielen da viele Mechanismen und Strukturen der Gesellschaft mit rein, die nicht mehr wahrgenommen werden, wenn Suizide hingestellt werden als persönliches Versagen. Ich will hier nicht über die Traumata von Lokführer_innen diskutieren, die sicher sehr hart und schwerwiegend sind. Aber das ist der Tod eines verzweifelten Menschen auch. Offensichtlich war dieser Suizident sich der Auswirkungen auf den Fahrer bewusst, denn er hat sich dafür im Voraus entschuldigt. Das legt nahe, dass er es gerne vermieden hätte, „eine andere Person mit hineinzuziehen“, es aber in der aktuellen Situation einfach nicht anders geschafft/gekonnt hat. Ich halte es einfach für unglaublich überheblich, so schnell mal eben über das Leben eines Menschen hinwegzugehen mit so einem Satz. Darin steckt für mich so viel Verachtung für Schwäche, dass ich Angst kriege, wenn ich mir überlege, was für ein Menschenbild und welche Kälte sich vielleicht in dieser Aussage ausdrückt…
        words.