Empathie vs. Berufsverbot: Ein Aufruf zum Grinsen

Foto , CC BY-NC 2.0 , by Jens Schott Knudsen

Dies ist ein Beitrag aus unserer Rubrik kleinergast, in der wir alle Gastartikel veröffentlichen. Dieses Mal kommt er von Dom.

Nach einer langen Wanderung durch die deutsche Hochschullandschaft lebt und verläuft sich Dom nun in Berlin, wo er über Spielkultur und Alltägliches schreibt und spricht. Außerdem ist er bipolar und mag große, leere Räume.


Blog von Dom @R3nDom

Es ist nur ein kurzer Moment, in dem die Fahrerkabine der U-Bahn an mir vorbeirauscht und einen flüchtigen Blick auf den Mann Ende vierzig mit lichtem Haar, schwarzem BVG-Pullover und großer Hornbrille offenbart. Danach verschwindet er wieder aus meinem Sichtfeld, ein Abteil kommt vor mir zum Stehen, während sich meine Gedanken in Bewegung setzen:

Als Reaktion auf den Absturz der Germanwings-Maschine über Frankreich, der scheinbar durch den Copiloten der Maschine herbeigeführt wurde, las offenbar auch CSU-Innenminister Hermann die vielen Spekulationen, dass der Mann im Cockpit an Depressionen litt und – wie könnte es nur anders sein, zumindest im Herrmann’schen Fraktionshirn – als Folge seiner psychischen Erkrankung sich selbst und hunderte Passagiere in den Tod riss. Seine Forderung folgte fast unmittelbar:

„Wenn eine sorgfältige medizinische Begutachtung zu dem Schluss kommt, dass etwa ein Pilot, ein Busfahrer oder ein Taxifahrer dauerhaft nicht mehr dazu geeignet ist, Menschen oder sonstige Güter zu transportieren, ohne dass Gefahr für Leib und Leben anderer besteht, dann kann solchen Personen auch der Führerschein beziehungsweise die Lizenz entzogen werden.“

SPD-Fraktionsvize Lauterbach stimmte daraufhin in den Kanon ein: „Wenn etwa eine gefährliche Depression klar diagnostiziert wird und sich der Patient einer Behandlung verweigert, wäre ein Berufsverbot die letzte Konsequenz.“

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Während sich die Bahn wieder allmählich in Gang setzt, wandern meine Gedanken durch die vollbesetzten Gänge in das Fahrerabteil, zu dem Mann mit dem BVG-Pullover.

Seine Aufgabe ist simpel, ermüdend und gleichzeitig wichtig, um die Stadt am Leben zu halten. Es ist ein ständiges Vorwärts- und Rückwärtsbewegen von Hebeln und das Betätigen verschiedener Knöpfe zum richtigen Zeitpunkt. Der Vater einer Exfreundin war Bahnfahrer, er zeigte mir einmal die Welt seiner vier Quadratmeter. Monate danach beging er Selbstmord. Er litt unter Depressionen. Er hatte aus Angst um seinen Job nur seiner Familie davon offen erzählt – eine Offenheit, an der andere bereits scheitern.

Doch nicht mein Bahnfahrer. Er ist am Leben, führt seinen Job in diesem Moment aus, wie von ihm verlangt. Vielleicht ist er wirklich, aufrichtig, mit jeder Faser seines Körpers zufrieden, vielleicht sogar glücklich.

Vielleicht aber gehört er zu den 5 Prozent der Deutschen, die unter Depressionen leiden. Vier Millionen Frauen, Männer, Jugendliche, Kinder erleben regelmäßig die unüberwindbar erscheinenden Symptome ihrer Krankheit. Die Dunkelziffer liegt noch deutlich höher. Wenn die Worte von Herrmann und Lauterbach Gehör finden würden, wäre – um diese Zahlen einmal in Relation zu setzen – die Bevölkerung von Hamburg, München, Köln und Düsseldorf von einer ärztlichen Meldepflicht betroffen – inklusive einem Untersuchungstermin, an dessen Ende ein Dokument steht, dass die Arbeitstauglichkeit für den_die Arbeitgeber_in einschätzen will. Doch während der weiß-bekittelte Daumen nach oben oder unten zeigt, ist von der Schaffung dringend notwendiger Therapieplätze keine Rede.

Ich habe Verständnis für die spontane Reaktion von Herrmann, Lauterbach und die 58 Prozent der von dem Magazin Emnid Befragten, die dem Gesetzesvorschlag zustimmen. Nach extremen Vorfällen und Katastrophen ist der Ruf nach Sicherheit am lautesten. Für die Art und Weise, wie die genannten Politiker mit der Volkskrankheit Depression umzugehen gedenken, habe ich hingegen nur Verachtung übrig. Der Vorschlag einer ärztlichen Meldepflicht von depressiv Erkrankten ist nichts anderes als die gesetzliche Verankerung der Stigmatisierung einer Krankheit, die bisher nur punktuell im Bewusstsein der Menschen immer wieder aufzuleuchten schien, sobald ein Unglück geschieht. Der Selbstmord von Torhüter Robert Enke wie auch der Suizid von Robin Williams schickten Lauffeuer der Anteilnahme und „awareness“ durch das Internet, die allerdings ebenso schnell wieder erloschen, wie sie entflammt waren. Doch nach dem Flugzeug-Unglück über Frankreich scheint sich etwas verändert zu haben: Das Thema bleibt, wenn auch unterschwellig, in den Köpfen der Menschen hängen und allmählich füllen sich Blogs, Zeitungsseiten und Bücher mit Geschichten und Gedanken rund um das Thema der Depression.

Unter dem Hashtag #notjustsad teilen seit Monaten Betroffene ihre erdrückendsten Momente miteinander, auf der diesjährigen re:publica finden erstmals gleichzeitig mehrere Vorträge statt, die sich direkt oder indirekt um Depressionen drehen. Die Entstigmatisierung setzt sich allmählich und langsam in Gang und bedarf unser aller Unterstützung, um in den nächsten Jahren nicht zum Halten zu kommen, sondern auch den Teil der Gesellschaft zu erreichen, der von dieser Diskussion bisher noch unberührt blieb.

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Der Vorschlag von Herrmann birgt neben der fahrlässigen Eindimensionalität allerdings noch eine weitere Gefahr in sich: Wo werden die Grenzen gesetzt? In welchen Berufen gilt eine Depression als bedrohlich für andere Menschen? Beschränkt sich die Definition des Möglichen wirklich nur auf Pilot_innen, Taxi- und Busfahrer_innen? Müssten sich beispielsweise nicht auch Lehrer_innen diesem Gesetz beugen und ihre Arbeitsstätte verlassen, um nicht Schüler_innen und Kolleg_innen zu „gefährden“? Was passiert, wenn Frau Merkel Symptome einer depressiven Erkrankung entwickelt? Entscheiden die gleichen Ärzt_innen über die geistige Eignung einer solchen Person, die mir vor Jahren nur schulterklopfend die Empfehlung aussprachen, ich solle mich nicht so hängen lassen, denn dann käme das Grinsen wieder wie von alleine zurück?

Völlig unbeachtet bleibt auch die Tatsache, dass viele Menschen erst durch langjährige Ausführung ihrer Arbeit erste depressive Episoden erleben. Was soll mit ihnen geschehen? Beurlaubung? Kündigung? Überweisung in eine Therapie? Zumindest das erscheint undenkbar angesichts der aktuellen Verfügbarkeit von Behandlungsplätzen. Patient_innen, die den schwierigen Schritt geschafft haben, die Notwendigkeit einer Therapie zu akzeptieren, müssen nicht selten bis zu neun Monate auf den Beginn ihrer Behandlung warten — unzumutbare Verhältnisse, die durch ein gesetzliches Berufsverbot für Depressive ohne therapeutische Behandlung noch zugespitzt werden würden.

Der Absturz der Germanwings-Maschine hat Anlass für eine Diskussion um die staatliche Betreuung und Versorgung von psychisch Kranken gegeben, wurde allerdings zum Spielplatz populistischer Parolen ohne Substanz und einer geradezu beängstigend voyeuristischen Nachrichtenerstattung. Der laute Aufschrei aus vielen Richtungen hingegen zeigte allerdings eindrucksvoll, dass die Sensibilisierung für psychische Krankheiten mittlerweile begonnen hat.

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Wir brauchen keine ironischen Texte mehr, die Betroffene als „Urlauber_innen“ entlarven wollen und die sich im Mitleid anderer suhlen können während sie von ihren gesunden Freund_innen darum beneidet werdet.

Wir brauchen keinen Gesetzesentwurf, der Stigmatisierung zum Paragrafen macht.

Stattdessen brauchen wir dich! Deine Bereitschaft zur Empathie und dein Verständnis für Erkrankte und ihre Symptome. Ich weiß, ich erwarte damit viel von dir, dem Internet – aber vielleicht sollten wir es auf den Versuch ankommen lassen? Manchmal reicht ehrliche Anteilnahme um den Status Quo ändern und anderen Menschen helfen zu können. Die Schaffung neuer Therapieplätze und die Anpassung des Gesundheitssystems auf die Bedürfnisse einer unübersehbaren, kritischen Masse der Bevölkerung ist schließlich mittelfristig der Schritt, den unsere Politiker_innen gehen sollten.

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Die Bahn kommt zum Halten, die Türen öffnen sich quietschend. Ich trete aus dem muffigen, unangenehm warmen Abteil und kämpfe mich über den überfüllten Bahnsteig in Richtung der Treppen, die an die Oberfläche führen. Als ich für einen kurzen Moment auf einer Höhe mit der Fahrerkabine bin, kreuzt sich mein Blick mit dem BVG-Angestellten, der in seinem schwarzen Pullover auf das Signal zur Weiterfahrt wartet. Ich grinse ihn an, er grinst zurück. Die Bahn setzt sich wieder in Bewegung, schiebt Abteil um Abteil in den dunklen Tunnel zurück und ich beginne meinen Aufstieg zur Oberfläche.

6 Antworten zu “Empathie vs. Berufsverbot: Ein Aufruf zum Grinsen”

  1. Manon sagt:

    Zusätzlich würde ein Berufsverbot zu einem eskalierenden Krankheitsverlauf führen.
    Viele Depressive Menschen brauchen äußere Struktur um dem inneren Chaos her zu werden, ein Wegfall von geregelten Arbeitszeiten (und dem Zwang sich dafür zu duschen, Anzuziehen, zu Essen, Menschen zu treffen, etc) würde zu einer sofortigen Verschlimmerung kommen.
    Dazu kommt, die meisten an Depressionen Erkrankten Personen leiden unter einem geringen Selbstwertgefühl oder einer verschobenen Selbstwahrnehmung, wenn die Gesellschaft diese Gefühle bestätigt („Du bist wertlos, krank kann dich niemand brauchen“) kann man das nur als Dick Move bezeichnen (mit potentieller Todesfolge).
    Für viele Betroffene (vor allem Alleinerziehende) wäre alles daran Existenzbedrohend. Gibt es eine zusätzliche Überschneidung mit Sucht würde der Verlust der Arbeit zu Exzessen führen.

    Und wenn man das Berufsverbot konsequent zu Ende denkt, dürften Depressive keine Verantwortung für (die eigenen) Kinder übernehmen, was weiteres Trauma und Isolation zur Folge hat.

    Dem Gegenüber kann man nur stellen was in den meisten (teil-)stationären Therapien als Grundansatz angewendet wird:
    Schaffung von Strukturen, pünktliches Aufstehen, regelmäßige Mahlzeiten. Einhalten von Terminen, übernehmen von Verantwortung, Kontakt zu anderen Menschen. Ein Arbeitsplatz bietet all dies für Menschen die (noch) nicht so krank sind das sie in stationäre Behandlung müssten.

    Ich habe kein Verständnis für die Forderung nach Berufsverboten, den Grundgedanken das man Probleme löst in dem man sie verbietet und wegsperrt anstatt Ursachen zu bekämpfen und Hilfe zu leisten kann ich einfach nicht begreifen.

  2. Laternchen sagt:

    Und wie ist das mit Menschen, die wieder gesund werden? Dürfen die – vorsichtshalber – dann nie wieder in den gesperrten Berufen arbeiten? Man weiß ja nie… Depression ist zwar in vielen Fällen heilbar, aber… wer weiß, vielleicht verrät die Person das ja nur nicht. Und wenn wir schon dabei sind: Die vielen vermeintlich Gesunden, vielleicht verstecken ja auch die ihre Depression nur gut!

    Danke für den Artikel, vor allem für den Hinweis auf fehlende Therapieplätze. Ich selber hatte Glück. ;-)

  3. someone sagt:

    „Und wenn man das Berufsverbot konsequent zu Ende denkt, dürften
    Depressive keine Verantwortung für (die eigenen) Kinder übernehmen“

    das wären dann 10% aller Mütter – so hoch ist die Rate für postnatale Depressionen. Wäre vielleicht mal eine spannende Frage an den Herrn Innenminister, wie er sich das mit dem Berufsverbot für diese Mütter so vorstellt.

  4. Giliell sagt:

    Sehr guter Artikel. Berufsverbot als Antwort auf eine solche Tat ist wie die wiederkehrenden Forderungen der NRA nach mehr Gewehren an Schulen nach einem Amoklauf: sinnfrei und konterproduktiv.
    Bei psychischen Erkrankungen Hilfe zu suchen ist schwer genug, Dank des Stigmas. Ein drohendes Berufsverbot wird das nicht verbessern. Im Klartext heißt das, Betroffene driften weiter ab, die Krankheit verschlimmert sich.
    Zudem wird das Problem weiter individualisiert. Das Problem ist der/die Betroffene. Ursachen bleiben ausgeblendet, keine gesellschaftlichen Veränderungen passieren.

  5. Danke Dom. Toller Beitrag. Ich bin gespannt auf deinen Talk bei der re:publica.

  6. Marc sagt:

    @Dom: ich habe deinen Artikel in den letzten Tagen gerne häufig zitiert, gesharet, usf. Ich hoffe, wir kriegen den Diskurs damit ein bisschen von den „bösen Depressiven“ weggeschubst :S

    @Manon: mal ab von „Herr werden“ und „Dick Move“, was ich als Formulierungen gruselig finde, liest sich dein Schrieb als würdest du als nicht-betroffene Person nur _über_ aber selten _mit_ depressiven Menschen sprechen. Ich lebe mit meiner Depression schon fast ein Jahrzehnt und kann für mich festhalten, dass „pünktliches Aufstehen, regelmäßige Mahlzeiten, einhalten von Terminen“ gerade Punkte sind, die meine Depression eher verschärfen als verbessern. Ich bin den ganzen Tag vorher, wenn ich auch nur einen Termin habe, völlig zerfleddert, und „glücklich“, wenn der Termin vorbei ist. Je nach Arbeitsplatz, und in meinem Fall fügt sich das günstig, geht es viel eher um Selbstwirksamkeit. Wenn ich sehen kann, dass ich am Ende einer Woche irgendwas geschafft habe, was ohne mich (wahrscheinlich) nicht passiert wäre, dann fühlt sich das gut an. Das ist aber völlig unabhängig davon, ob wir von Lohnarbeit reden, oder anderen Schaffensplätzen. Dass der Ansatz in stationären Therapien funktioniert ist meines Erachtens trotz und nicht wegen der von dir genannten Strukturen so. Die Entscheidung, sich in stationäre Therapie zu begeben, besonders wenn eins sie selbst getroffen hat, aber auch wenn eins sich etwas später erst drauf einlässt, ist der Punkt: Die Zeit und den Raum zu haben, sich um nichts anderes als sich selbst zu kümmern, kümmern zu können und kümmern zu müssen, statt sich etwa mit der Lohnarbeit nur symptomatisch abzulenken, ist das, wo Heilung passieren kann.

    In kurz: Ich stimme natürlich völlig zu, dass diese ganze eklige Rhetorik zum Berufsverbot für Depressive einfach fürchterlich ist, aber ich widerspreche der Alternative „Lohnarbeit als Heilungschance“.