Ein paar Gedanken zur Timeline. Oder: Zeit für den Twitter-Frühjahrsputz!

Foto , CC BY 2.0 , by Rodney Campbell

Ich nutze Twitter seit Jahren mehr oder weniger täglich. Twitter ist meine morgendliche Newsrunde (zumindest ein Teil davon), meine Zigarettenpause, Prokrastinationstool, Distributionskanal, Netzwerk. Ich bin dort um mich zu informieren, auszutauschen, aufzuregen, zu amüsieren und auch mal auszuheulen. Seit ich Twitter nutze, hat es keine andere Plattform geschafft, diesen Platz einzunehmen (was natürlich, wie wir wissen, durchaus irgendwann passieren kann – looking at you, MySpace / StudiVZ / AOL Messenger). Doch trotz einiger Ärgernisse, der Strahlkraft anderer Orte wie etwa tumblr und hin und wieder dem dringenden Bedürfnis nach einer Pause, ist Twitter aktuell noch so ziemlich der Dreh- und Angelpunkt für meine Social Media-Nutzung.

Grund genug, mal darüber nachzudenken, wie es eigentlich um „mein“ Twitter bestellt ist. Letztlich bestimmt dieses Netzwerk unter anderem mit, was ich von der Welt wahrnehme, welchen Menschen und Medien ich meine Aufmerksamkeit schenke. Damit tut es nicht weniger, als meine aktuelle Welt(sicht) mit zu formen. Und vermutlich geht das noch anderen so. Wem wir in sozialen Netzwerken so folgen, entsteht auf unterschiedliche Weisen: manche Timelines sind chaotisch gewachsen, basierend auf Zufällen und Launen, manche sind strategisch optimiert oder von sozialen oder beruflichen Zusammenhängen geprägt. Manche Netzwerke sind mit sehr viel bedacht ausgewählt und gepflegt. Die Nutzungsweisen und Ansprüche sind vielfältig. Daher kann ich hier natürlich auch in erster Linie nur von mir ausgehen – aber vielleicht findet ihr euch ja in manchen Gedanken wieder.

Bei mir war jedenfalls eher das „chaotisch gewachsene“ der Fall. Das ist ja gar nichts Schlimmes, aber es wurde doch etwas unübersichtlich. Und trotz der Größe fehlte mir in letzter Zeit manchmal schlicht die Vielfalt. Daher habe ich meine Twitter-Timeline ein bißchen verändert. Keine radikalen Schritte, nur immer wieder Justierungen hier und da. Dabei schwang immer der Gedanke mit: wenn ich hier so viel Zeit verbringe, sollte ich dann nicht auch ab und zu den Fluss aus eintrudelnden Tweets anders als gegeben hinnehmen? Mal überlegen, wem ich so zuhöre, und wem nicht? Klingt selbstverständlich, aber die Zeit dafür nimmt man sich nach meiner Erfahrung trotzdem selten. Daher hier: ein paar Anregungen für den Twitter-Frühjahrsputz.

1. Entschlackungskur

Kürzlich las ich einen interessanten Erfahrungsbericht von einer Twitter-Nutzerin, die einfach „die Timeline“ aus ihrer Internetnutzung verbannt hatte – sie entfolgte alle Menschen auf Twitter, um fortan nicht mehr so viele Stunden ihres Tages mit dem Lesen von Newsfeeds zu verbringen. Gleichzeitig postete sie selber weiterhin auf der Plattform, für diejeingen die trotz allem noch Lust hatten, ihr zu folgen. Mit dem Ergebnis, dass sie sehr viel mehr darüber nachdachte, dass das Geteilte auch einen Mehrwert für ihre Follower_innen haben solle. Dies ist freilich ein etwas radikales Konzept – kann man machen, aber das „social“ in „social media“ scheint mir dabei etwas ad absurdum geführt.

Ich würde es da vielleicht eine Nummer kleiner angehen lassen. Der erste Schritt: die eigenen Followings durchgehen und gucken, warum man bestimmten Accounts eigentlich folgt. Das ist jetzt kein Aufruf dafür, Twitter_innen auf ihren Nutzen, Informationsgehalt oder Entertainment-Faktor zu prüfen (aber auch das könnt ihr natürlich machen, wenn ihr wollt). Doch es gibt ja viele Accounts von zeitlich begrenztem Nutzen: Veranstaltungs-Accounts, spezielle Accounts zu Kampagnen oder Themen, die abgeschlossen, abgehakt und vermutlich sogar inaktiv sind. Oder die Karteileichen: Twitter_innen, die länger als [Zeitraum X] nichts gepostet haben. Die können eigentlich raus. Für mehr Übersicht!

Einschub: Über das Entfolgen.

Schwieriger ist es mit den Accounts von Leuten, die man auch persönlich kennt, und / oder mit denen man schon lange interagiert oder dies zumindest mal tat. Die sozialen Verflechtungen im Digitalen sind genauso real wie alle anderen auch und zu leugnen, dass es eine emotionale Komponente haben kann, jemanden zu „entfolgen“ (oder entfolgt zu werden), ist entweder naiv oder ignorant. Es scheint mir allgemein eher als uncool zu gelten, dazu viele Worte (und noch dazu emotionale) zu verlieren, doch welche_r noch nie bei einem unerwarteten „folgt dir nicht“ einen Stich verspürte, die_der twittere das erste „Mimimi“.

Andererseits: was dem einen vielleicht eine liebgewordene Verbindung ist, mag der anderen seit je nur ein Newsfeed zum Thema Y gewesen sein – genau wissen können wir es eigentlich nie. Was und wieviel den Nutzer_innen (Twitter-)Verbindungen (und deren Auflösung) im einzelnen bedeuten, dazu gibt es vermutlich sehr viele unterschiedliche Einschätzungen. Es erscheint mir daher in der Regel ratsam, einander ziehen zu lassen, ohne zu viel Groll und Gedanken – wer weiß, welche Bedürfnisse am anderen Ende dahinter stecken. (Aber ein Patentrezept für die möglichst Verletzungs-arme Social-Media-Nutzung habe ich leider auch nicht).

2. Sortieren

Ich habe also entschlackt, folge aber immer noch ziemlich vielen Accounts (und will das eigentlich auch nicht ändern)? Superpraktischerweise gibt es dazu ja Listen, noch dazu solche, die man nicht mit anderen teilen muss (also „private“). Eine öffentliche Liste ist praktisch für Empfehlungen, Accounts zu bestimmten Themen oder die Teilnehmer_innen einer Veranstaltung. Eine private Liste kann ich erstellen, ohne dass deren Kuratieren für irgendwen einen Sinn ergeben muss ausser mir selbst. Für mich ist das keine zusätzlich „extrafeine“ Filterbubble, sondern einfach ein praktischer Weg, bei bestimmten Accounts / Themen sicher zu gehen, dass ich möglichst viele der dazugehörigen Tweets mitkriege. Gleichzeitig kann ich in meiner Komplett-Timeline eine große Vielfalt beibehalten.

3. Mut zum Mute

Ich halte die temporäre Nutzung der „Mute“-Funktion (also „stumm schalten“) nicht für verwerflich, feige oder falsch. Nicht jedes Thema interessiert (und einzelne Hashtags lassen sich ja z.B. bereits ebenfalls muten), nicht jede Stimmung in unserer Timeline können wir gerade ertragen oder teilen. Aber das muss ja nicht heißen, dass wir die Leute gleich entfolgen wollen – nächste Woche sieht die Welt schon wieder anders aus. Wenn ich Twitter nicht gleich ganz auslassen will, dann stelle ich einfach Teile davon mal kurz auf PAUSE.

4. Viele viele bunte Bubbles

Ich will mich gar nicht groß über die so genannte und viel diskutierte „Filterbubble“ auslassen. Es ist völlig legitim, in sozialen Netzwerken einen homogenen Kreis um sich zu scharen, und es sagt für mich auch nichts darüber aus, wie viel man sich ansonsten mit anderen Themen oder Menschen beschäftigt – denn soziale Netzwerke bleiben immer nur ein Ausschnitt. Es ist eine Frage der Nutzungsweise sozialer Plattformen und manchmal ist es auch Selbstschutz.

Nichtsdestotrotz kann es ja auch etwas anstrengend werden, wenn die meisten, denen ich folge, sich mit ähnlichen Themen und Dingen beschäftigen. Manchmal sind wir genervt wenn ein Witz zum x-ten Mal durch die Timeline rauscht oder alle nur was zum Thema der Stunde zu sagen haben. Und dann welche entnervt dazu twittern, dass alle nur das Gleiche sagen. Und dann welche entnervt dazu twittern, dass Leute entnervt dazu twittern… Well, you get the picture.

Doch wir sind unserer Timeline Schmied_in! Zeit also für eine Twitter-Entdeckungstour, Anlässe finden sich genug. Leute, die auf einen Artikel oder Tweet reagiert haben. Leute, die etwas zu einem bestimmten Hashtag geschrieben haben. Mal ein bißchen rausschwimmen und sich weiter von Account zu Account klicken. Mit wem diskutieren die Leute, die ich gut finde, wenn sie mal über andere Themen reden? Wichtig dabei: einfach mal zuhören und rumlesen. Darauf achten, dass es mal andere „Gesichter“ sind. Folge ich vielleicht in der Mehrzahl Männern? Nur Weißen? Nur deutschsprachigen Accounts? Muss das so? Und was ist eigentlich „Black Twitter“? Kenne ich Fat-Fashion-Bloggerinnen? Folge ich jemand aus Syrien?

Gerade auf Twitter geht das total niedrigschwellig und einfach, mit einem simplen „Follow“: neuen Input bekommen, neue Ansichten kennenlernen im Idealfall von Menschen, die etwa aus anderen Kulturkreisen kommen, sich auf andere Themen fokussieren, die sich (ja!), nicht um mich drehen. Die Timeline kann sehr viel spannender werden, wenn ich nicht davon ausgehe, dass dort alle sich auch potentiell für mich interessieren sollten.

Natürlich ist solche Vielfalt zum Teil auch eine Frage der Sprachkenntnisse. Da ist es ein Vorteil, dass viele Menschen auch aus dem Nicht-Englischsprachigen Raum auf Englisch twittern, was man meist noch eher versteht als Spanisch, Japanisch oder Arabisch (schade eigentlich). In einigen Twitter-Apps gibt es auch eine leidlich gute Übersetzungsfunktion, das ist besser als nichts. Manchmal kann es auch interessant sein, Menschen zu folgen, die auf Englisch (oder vielleicht Deutsch) und ab und zu auf ihrer Muttersprache twittern. Vielleicht versteht man ja doch ein wenig – oder man versteht halt einfach mal nichts.

5. Twitter like you mean it

Die Frage, wem ich eigentlich so folge, ist nicht nur eine für persönlichen Nutzen und Input. In Bereichen wie Aktivismus oder Journalismus (und vielen weiteren) sind Zahlen nicht trivial. Es ist nicht unfein festzustellen: numbers do matter, denn viele Follower_innen können mehr Aufmerksamkeit bedeuten, eine Stimme geben – gerade denen, die sie vielleicht in den Mainstream-Medien nicht haben – und Erfolg für politische, soziale, kreative oder berufliche Anliegen bringen. Wessen „Follower“-Zahl ich erhöhe und wen ich retweete (oder nicht) kann immer ein Akt von Bedeutung sein – ohne dass es für mich eine große Sache sein muss. ThinkUp-Gründer Anil Dash nahm sich beispielsweise im Jahr 2013 vor, keine Männer zu retweeten, und fand die Erfahrung lehrreich und positiv. Sein Rat: „try being mindful of whose voices you share, amplify, validate and promote to others.“ („Versuche achtsam damit umzugehen, wessen Stimmen du weiter verbreitest, verstärkst, bestätigst und gegenüber anderen unterstützt.“)

Während ich es immer spannend finde, über solche Experimente zu lesen: soweit muss man ja gar nicht gehen. Rumexperimentieren lässt sich auch gut im Kleinen, ohne sich gleich Regeln und Paradigmen aufzuerlegen. Lohnenswert ist ein Frühjahrsputz allemal, nicht nur auf Twitter, sondern auch im Kopf. Mit einer paar Gedanken dazu, was wir mit diesen omnipräsenten sozialen Netzwerken noch so anstellen können, und ob wir aus Routine, Ignoranz, Vorurteil oder Faulheit nicht doch noch etliche ihrer Potentiale ungenutzt lassen. Wird ja sonst auch irgendwann langweilig. Also: Follow away!

4 Antworten zu “Ein paar Gedanken zur Timeline. Oder: Zeit für den Twitter-Frühjahrsputz!”

  1. endorphenium sagt:

    der frühjahrsputz ist eine gute idee….ich habe selbst gerade eher beiläufig ebenfalls mal einen durchgeführt. und zum teil war es nicht leicht, sich von bestimmten twitteren zu verabschieden. aber zeitgleich hatten sie auch keinen positiven mehrwert mehr für mich. eher einen negativen. aber mit jedem unfollow wurde das ganze einfacher. der grund sind aber auch einfach veränderungen bei den gefolgten twitterern und bei mir selbst. bestimmtes passte da nicht mehr zusammen.

  2. Oscillar sagt:

    Vielen Dank! So simpel wie hilfreich! :) Grad 2h Ordnung gemacht.

  3. Re: Persönliche Kontakte entfolgen.

    @municode hat dazu ein „Unfollow-Manifesto“ geschrieben, das fasst es ganz gut zusammen. Sollte man einfach einmal pro Monat lesen, glaube ich. Auch für sich selbst. :)

    https://carlo.zottmann.org/2012/04/25/the-unfollow-manifesto/

  4. Malaika sagt:

    Da hab ich vor ein paar Wochen auch mal was zu getweetet, was so in deine Richtung geht: Hier in den replies davon https://twitter.com/Mali_2/status/574250611442585600