nicht ganz gedicht (2)

CC BY-NC-SA 4.0 , by Nicole

Vor zwei Wochen schrieb Daniel so schön vom Gedichte lesen. Wie es überhaupt geht und was da drinsteckt. Er fegte Mythen auf. Die richtige Grundlage, um einen Schritt weiter zu gehen und von Lieblingsgedichten zu erzählen. Meinen nämlich!

Otto & Co

Ich spiele für das Team Lyrik. In Alltagsgelegenheiten zu sagen, dass man auf Gedichte steht, mit Gedichten arbeitet, führt häufig zu Reaktionen wie “Nein, mit Gedichten kann ich nichts anfangen”. Was okay ist, keine Frage, aber oft danach klingt, als seien Gedichte aus der Belletristik-Liga der elitärste, komplizierteste, unzugänglichste Club. So unzugänglich, dass es möglicherweise Artikel wie diesen und den von Daniel braucht, um zu vermitteln. Als ich Kreatives Schreiben studierte, kam das sogar von Leuten, die mit mir studierten: “Gedichte kann ich nicht”. Keinen Zugang zu ihnen, sich mit ihnen nicht Zugänge zur Welt verschaffen können. Dabei kann es superduperleicht gehen.

Das Gedicht ist viel und kann viel, muss dafür auf Menschen treffen. Wie es mich traf? Als erstes als Kind. Abzählverse, Schüttelreime, Kinderlieder – Gedichte wohnen bei mir, seit ich lesen kann. Sie sind überall und sie zeichnen sich damals vor allem dadurch aus, dass sie sich reimen. Sind unter anderem als Adventsgedichte Unterrichtsinhalt. Wir mussten in der Grundschule eines von mehreren auswendig lernen und in der Klasse für unsere Eltern vortragen. Ich fand das so gut, ich habe mehrere Gedichte zusätzlich auswendig gelernt, die ich anderswo fand. Das war leicht, das hat Spaß gemacht. Streberinnen-Alert.

Den größten Spaß brachten Gedichte, die ich hörte, nicht las. In meiner Familie gingen Gedichte vor allem mündlich überliefert herum, nicht (vor-)gelesen. Zum Beispiel dieses, gerne aufgesagt von meiner Cismutter:

Dein Leben sei dir nur geliehen,
du sollst daraus kein Vorteil ziehen.
Du sollst es stehts dem anderen weihen,
und der kannst du nicht selber sein.
Der andere, das bin ich, mein Lieber.
Nun rück schon mit der Kohle rüber!

Superliterarisch? Na gut, das nicht, aber nicht minder gerngehabt. Das Œuvre von Otto wurde oft im Familenalltag zitiert, vermittelt vor allem durch das Fernsehen, meine erste Bildungsanstalt.

Als wir in der 5. Klasse ein Lieblingsbuch vorstellen sollten, nahm ich “Das Buch Otto” mit und bekam beim Vorlesen vor Lachen keine Luft, so gut, so toll, so albern.

Gernhardt gernhaben

Später fand ich Robert Gernhardt und mit ihm großes Glück. Seine Gedichte sind pointiert, also witzig und klug, sie reimen sich, ohne dass es platt und altmodisch ist. Das ist schon große Kunst! Sie können ernst sein, politisch, liebevoll. Und sie sind voller Wortspiele, über die ich juchze, die mich zum Hüpfen bringen. (Sein Debut: “Die Blusen des Böhmen”) Wortspiele sind etwas, dass Andrea, meine Transmutter, so gut beherrschte, dass ich mir wünschte, mal mit einer Person zusammenzukommen, die mindestens so witzig wie Andrea sein sollte. Gernhardt ist knapp ein Jahr nach ihr gestorben.

Was sich reimt, ist leichter auswendig zulernen. Gernhardts “Materialien zu einer Kritik
der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs”
kann ich immer noch. Und oh, das Amüsement, wie bildungsbürgerliches Wissen mit Witz verbunden ist; diese Gedichte waren mein Zugang zu diesem Wissen, nebst Comics ( Was Otto für mich in klamaukig war, wurde Gernhardt für mich in intellektuell. Bis ich das Gedicht von oben in einem Band von Gernhardt fand. Und lernte, dass Gernhardt die ganze Zeit (mit anderen) hinter Otto gestanden hatte, für ihn Texte geschrieben hatte. OMG!

Gedicht von Gewicht

Daniel schrieb es schon: Ein Grund, warum Gedichte toll sind, ist, weil sie (meistens) kurz sind. Ein Gedicht zwischendurch geht immer. Gedichtband am Stück? Das geht ungefähr so gut, wie eine Pralinenschachtel auf einmal zu verschlingen. Manchmal Zuckerhigh, manchmal Bauchweh. Diese Pralinen müssen nicht ausschließlich komisch sein. Da ist mehr, was Lyrik zu Wunderkost macht. Sätze, die so delikat und gewichtig sind, dass man sie sich auf die Zunge legen will und sie sättigen tagelang.

Mit wenig Geld zog es mich als Teenager ohne eigenen Computer zu Reclamheften. Ein bisschen auf der Suche nach zeitgenössischen Texten, ohne zu wissen, wie ich es nennen sollte. Für 3,60 € gab es ein Heft mit “blauen gedichten”. An dem hing ich, das wollte ich einerseits immer mit mir tragen, das wollte ich aber auch nicht abnutzen. Das Schönste: die Schrift war komplett blau, so ungefähr wie mein Jugendzimmer.

Verwandelt

Mit meinem Blau
male ich Sterne

Liebend duz ich Dinge

Aus gleichem Stoff
alles
verwandelt
in Licht in Finsternis

Geist
leiser Leib

(Rose Ausländer)

Als ich ein Jahr in Schweden war, probierte ich mich an Gedichten und wurde von meiner Schwedischlehrerin Gunnel mit Gedichten herausgefordert. Einerseits ging das gut, weil es einen Deutungsraum in Übersetzungen gab, andererseits war es schwer, wenn mir Regelkenntnis fehlte, um Regelbrüche zu identifizieren. In den Stockholmer U-Bahnen hingen Gedichte auf Pappschildern, Poesie på väg (Poesie unterwegs), von denen ich meine liebsten klaute und mit nach Hause nahm. Ich bekam Aniara von Harry Martinson in die Hand gedrückt und las mich durch, das war nicht leicht, aber wichtig. So wichtig wie eines konnten aber alle schwedischen Gedichte nicht sein, auswendiggelernt, von Herzen:

I rörelse

Den mätta dagen, den är aldrig störst.
Den bästa dagen är en dag av törst.

Nog finns det mål och mening i vår färd –
men det är vägen, som är mödan värd.

Det bästa målet är en nattlång rast,
där elden tänds och brödet bryts i hast.

På ställen, där man sover blott en gång,
blir sömnen trygg och drömmen full av sång.

Bryt upp, bryt upp! Den nya dagen gryr.
Oändligt är vårt stora äventyr.

(Karin Boye, hier übersetzt)

Ein Lieblingsgedicht, dass ich mit mit Stencil in die Stadt gesprüht wünsche, kommt von Emily Dickinson:

A word is dead
When it is said
Some say

I say it just
Begins to live
That day

No go: Herz auf Schmerz reimen

Nicht alle Gedichte sind gut; vor allem Gedichte mit Reimen haben eine ziemliche Fallhöhe. Wenn ein Gedicht die Kraft hat, die ganze Welt zu tragen, dann kann ein Gedicht auch ein ganz schöne Katastrophe sein. Kann über den subjektiven Zugang, der vielleicht versperrt ist, hinaus scheiße sein. Wenn mit dem Metrum nichts stimmt, wenn die Bilder abgegriffene Kiesel sind, wenn die Metaphern ohne Nuance pathetisch sind. Wie beim guten Gedicht ist es schwer eine Liste aus Regeln zu machen, durch deren Anwendung man ein schlechtes Gedicht bauen kann, aber mit dem guten Gedicht ist es wie mit der Liebe oder Geburtswehen: Wenn sie da sind, erkennst du sie schon.

Von einem Gedicht erwarte ich nicht weniger als von Prosa. Dass es ein Interesse weckt und zwar so unmittelbar wie möglich, ohne dass es komplizierte Vermittlungsverfahren braucht. Der erste Vers ist so wichtig wie der erste Satz eines Romans. Es darf nicht langweilen. Freue mich (wie bei Prosa auch, h/t an Joachim Helfer) über Sprachspiele, die in Leichtigkeit gelingen. Vom Gedicht erwarte ich ganz besonders, dass es auf kurzem Raum superdicht, das sich mehr sehen lässt, als die Oberfläche. Meine Zugänge zu Gedichten sind ziemlich wenig literaturwissenschaftlich, nehme ich an. Heute halte ich aber nicht nur Ausschau nach Gedichten, die leicht und clever sind, sondern auch nach Gedichten, die Sprachräume in Häusern öffnen, die noch nicht gebaut sind, ohne die zu vergessen, die diese Räume betreten.

Alle Wege führen zum Gedicht

Und tatsächlich zeitgenössische Gedichte? Nicht jedes Gedicht ist offen und anfassbar. Ist verständlich. Muss auch nicht, das erklärt Daniel gut. Übers Verstehen hinaus gibt es Wege zum Gedicht. Weil die Aufgabe nicht sein kann, mit Übersetzungsschlüssel daran sitzen zu müssen, um etwas davon haben zu können. Ich bin fest davon überzeugt, dass ein Gedicht ohne Erklärung funktionieren können muss, ohne Autor_in als Assistenz. (Das gilt übrigens auch für andere literarische Formen.)
Ein Weg zum sperrigen Gedicht sind Leute, die es toll finden. Die sagen können, was sie daran gut finden und warum. Und damit möglich machen, etwas im Gedicht zu sehen, das vorher vielleicht verschimmert war. Ein anderer Weg sind Bilder. Was malt das unverständliche Gedicht? Gibt es aufregende Sachen zu sehen? What you see is what you get. It better be good.
Mein liebster Weg zum Gedicht ist übers Ohr, auch in Gedanken. Wie klingt das Gedicht? Welche Melodie hat es? Wie wird es vorgetragen, wie lese ich es selbst? Was geht bei Rhythmus und Metrum? Kann es singen? Hier bin ich harsch; was nicht klingt, stinkt. Wenn ich den Klang im Gedicht selbst nicht sehen kann, baue ich auf den Vortrag der Autor_innen. (Große <3-Empfehlung für lyrikline.org, wo 8841 Gedichte von 977 Dichter_innen zu hören sind.)

“All that is literature seeks to communicate power”

Eine Gedichtform, für die Klang und Vortrag so wichtig sind wie sie mir am Herzen liegen, ist Spoken Word. Endlich mit einem eigenen Computer klickte ich mich von youtube-Video zu Video und sah mir Performances an, mit Hand vor dem offenen Mund weil OhmeinGottsogutichwillsowasauchmachen. (Seriously: Unter anderen Bedingungen wäre ich Rapperin geworden.) Anders als bei Poetry Slam treten Beiträge nicht gegeneinander an und müssen deshalb auch nicht, wie oft beobachtet, mit Zoten um Lacher konkurrieren, um das Publikum auf die eigene Seite zu ziehen. Und sie ziehen das Publikum mit, mit allem, was zu einem guten Gedicht gehört und mehr, mit starken Bildern, mit Geschichten, die in den Kern gehen und ihn mit einer Axt aus Zärtlichkeit spalten, und das singend. Sind im besten Sinne literarisch. Auch wenn die Grenzen zwischen Slam Poetry und Spoken Word wahrscheinlich nicht so getrennt verlaufen, wie es mir oft vorkommt. Vor Jahren gefunden bei Yasiin Beys “Def Jam Poetry” beschreibt diese Performance von Gina Loring, was das Gedicht ausmacht, in uns und der Welt.

“[…]the revolution, which may not be televised and may not get radio play but will be told through poetry because somewhere there is a poem”

Auch auswendig kann ich Grand Canyon of Light von Ani DiFranco. So viel besser passt dafür der englische Begriff “to learn sth by heart”.

Ged_ICH_t

Im Team Lyrik sehe ich nicht nur von der Seitenlinie zu, sondern hoffe auf Gelegenheiten eingewechselt zu werden. Sachen, die ich selber schreibe (ab Minute 14.54) sind nicht immer so verständlich, wie ich mir das wünsche, ich hoffe, sie funktionieren trotzdem.

Am Liebsten würde ich witzige Gedichte schreiben. Aber immer wenn mir das gelang, konnte ich mich beim Vortragen nicht beherrschen. Für ein Dasein als komische Lyrikerin fehlt mir die Ernsthaftigkeit.
Oder Gedichte auf Englisch und als Spoken Word, aber hier fehlt der Raum, sie zu erproben und verbessern. Als ich mich damit auf einem Poetry Slam versuchte, wurde ich von einem der Slammer zur Seite genommen, dass ich damit weitermachen solle, aber auf deutschen Slambühnen leider keinen Erfolg haben würde. Hm.

In meiner ersten Deutschklausur in der Oberstufe bekamen wir übrigens ein Gedicht ohne Titel und Verfasser_in, sollten es analysieren und begründen, ob es sich um ein klassisches oder ein romantisches Gedicht handele. Irgendwie kam es mir bekannt vor. Dann machte es Klick, ich erinnerte mich und schrieb in meiner Zusammenfassung Titel und Autor in den ersten Satz. Während der Klausur ging unser Lehrer durch die Reihen, sah auf die Hefte. Als er meinen Text überflog, sagte er etwas Anerkennendes zu meinem Vorwissen, was für mich, neu auf einem humanistischen Gymnasium und Beef mit dem Habitus da, wichtig war. Der Witz: dass es sich um Wanderers Nachtlied von Goethe handelte, wusste ich, weil ich mich an eine Fotostory aus “Das Buch Otto erinnerte”, in der er das vortrug. BOOM!

Was sind eure Lieblingsgedichte? Welche Gedichte könnt ihr auswendig?

Dieser Beitrag ist Teil einer Mini-Serie. Demnächst erscheint der dritte Teil von Lena.

Übrigens: Ihr könnt dafür sorgen, dass kleinerdrei für Texte wie diesen den diesjährigen Grimme Online Award erhält. Hier könnt ihr für uns abstimmen.

4 Antworten zu “nicht ganz gedicht (2)”

  1. Zipora sagt:

    Yeates. Zu viele vom íhm um sie aufzuzählen, einige auch auswendig. Da du auch über Performance schreibst, erinnerte ich mich daran, wie ich das erste Mal ein Gedicht von ihm hörte. Vorgetragen von Sean Bean in einem Film. (Kann man hier hören https://www.youtube.com/watch?v=os2Z_Ekg-dM).

  2. ruhepuls sagt:

    mir fällt dazu spontan zwei mal loriot ein:
    ein mal hinsichtlich der episode: „essen im flugzeug“ https://www.youtube.com/watch?v=fN14c8ri00E (seither kann ich was von rilke zitieren), sowie und natürlich ‚krawehl, krawehl‘ > https://www.youtube.com/watch?v=ghbj6iNPfCU

  3. Angbis sagt:

    Vielleicht passt es nicht komplett hierhin, aber ich bin momentan fasziniert von einer „6-Word-Novel“, die oft mit Ernest Hemingway in Verbindung gebracht wird:
    For sale: baby shoes, never worn.
    Die paar Worte erzählen eine ganze Geschichte – wahnsinn!

  4. sojabohne sagt:

    ich hab mich kreativ gefühlt und eine antwort gebloggt ;)

    https://klugundschoen.wordpress.com/2014/06/15/lyrik-oderso/