Gedichte lesen (1)

CC BY-NC-ND 4.0 , by Daniel Warwel

Wann habt ihr euren letzten Gedichtband gelesen? Oder gar gezielt gekauft – und dann gelesen? Eine nicht-repräsentative Umfrage meinerseits in meinem Umfeld ergab, dass das bei den meisten ganz schön lange her ist – wenn es überhaupt jemals geschah. Gedichte nicht lesen zu wollen, ist aber erstmal völlig in Ordnung. Ich glaube aber, dass die Lyrik für jede_n etwas parat hat, auch wenn es zunächst ein wenig Anstrengung braucht, das zu erkennen. Dafür werfe ich heute alle literaturwissenschaftlichen Theoriefässer über Bord (die sind nämlich manchmal ziemlich hinderlich) und schreibe aus der Perspektive von jemandem, der gerne Gedichte liest und schreibt und wie ich dieser Jemand geworden bin.

„Die Gattung, die niemand mehr haben will“

So beschreibt mein Lieblingslyriker Oskar Pastior 2006 in seiner Büchnerpreisrede die Lyrik. Und so traurig es klingt: Ein bisschen fühlt es sich auch so an. Zumindest im Mainstream der Thalia-Buchhandlungen, Literatursendungen und Zeitungsfeuilletons ist die Resonanz auf Lyrik eher gering (von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen) und auch ansonsten wird sie vom Literaturbetrieb eher stiefmütterlich behandelt. Die Lyrik war jahrhundertelang die vorherrschende Gattung in der europäischen Literatur, bis sie vor nicht allzu langer Zeit von der Epik – und dort vor allem dem Roman – überflügelt wurde. Wäre ich Kulturpessimist, fände ich das bestimmt schlimm. Aber es ist völlig okay, dass sich der Geschmack des Publikums im Laufe der Zeit verändert hat und damit auch die Vorstellungen und Erwartungen, die wir von und an Literatur haben. Vielleicht möchten wir heute auch einfach lieber kohärente, erzählte Geschichten lesen, statt mit den Augen von Vers zu Vers zu fallen, um nach dem dritten Anlauf den Gedichtband entnervt in die Ecke zu schleudern. Hier könnte die Geschichte auch schon zu Ende sein: Gedichte waren mal cool, heute sind sie es nicht mehr, nicht schlimm, denn wir haben ja Ersatz. Aber das wäre ja nur die halbe Wahrheit, denn: Es gibt sie ja trotzdem noch. Die Lyrik ist das kleine gallische Dorf der Literatur geworden und niemand macht sich die Mühe, es anzugreifen. Aber vielleicht brodelt da schon seit Langem etwas, von uns unbemerkt?

„Gedichte sind nichts für mich.“

Das ist eine sehr häufige Antwort, die ich bekomme, wenn ich Menschen frage, ob sie Gedichte lesen. In meinen Ohren klingt das wie „Ich mag keine roten Lebensmittel“ – da gibt es doch so viele! Beeren, Äpfel, Rote Beete, Tomaten, Paprika, Steak! Balladen, Sonette, konkrete Poesie, komische Poesie, Sprachspiele, Expressionismus, Symbolismus, Dada! Bei einer solchen Vielfalt können wir eine bestimmte Form pauschal gar nicht komplett ablehnen, trotzdem tun wir es aber. Es liegt – so meine Vermutung – viel mehr an dem, was wir mit Gedichten verbinden und welche Erfahrungen wir mit ihnen gemacht haben. Und diese Erfahrungen machen die meisten von uns in der Schule, wo wir mithilfe von Metriktabellen und einer Liste rhetorischer Mittel herausfinden sollten, was uns das „das lyrische Ich“, oder direkt gar „der Autor“ (sic!) sagen will. Das dann am besten noch an einem Barockgedicht oder einem romantischen Gedicht von Eichendorff und schon langweilen wir uns zu Tode und das völlig zurecht. Wir haben in der Schule gelernt, das Gedicht auf seine Interpretation zu reduzieren. Und wir haben gelernt, dass Interpretationen wie Werkzeugkästen funktionieren: Wir nehmen Rhetorisches Mittel A und legen es an Vers B mit Metrum C an und ziehen daraus Schluss D (z. B. „Eichendorff war ein Vollidiot.“). Dieser Umgang mit Texten betrifft oft genug auch andere literarische Gattungen, er ist aber symptomatisch für die Lyrik. Wir lassen dabei allerdings gerade die Aspekte außen vor, die Spaß machen: die Freude an der Sprache, die Lust am Text.

Dieser problematische Zugang zu Gedichten ist vor allem geprägt durch die Erwartung, alles verstehen zu müssen. Wenn wir etwas an einem Gedicht (auch: einem Kunstwerk allgemein) nicht verstehen, versuchen wir es zu interpretieren und die uns unverständlichen Elemente in verständliche zu übersetzen. Das funktioniert aber nur genau so lange, wie die Symbolik entschlüsselbar (z. B. rote Rose = Liebe) bleibt und genau deswegen muss sie ständig aktualisiert werden (wofür sich gerne die Literaturwissenschaft einspannen lässt). Gedichte sind jedoch in erster Linie sprachliche Kunstwerke und sollten daher auch als solche behandelt werden. Sie sind deswegen nicht auf eine bestimmte, ja überhaupt eine Bedeutung festgelegt, weil Sprache nun einmal nicht so funktioniert (das merken wir ja schon an einfachen Missverständnissen in alltäglichen Gesprächssituationen). Ein Instrumentarium wie o.g. Werkzeugkasten erfinden zu wollen, das genau das jedoch versucht, erscheint da geradezu absurd.

Weg vom Verstehen

Nun sitzen wir aber nicht mehr in der Deutschklausur und müssen Metaphern interpretieren, wenn wir einen Gedichtband aufschlagen. Trotzdem glaube ich, dass sich diese Vorstellung sehr in unseren Köpfen gefestigt hat: Ich lese ein Gedicht, das will mir sicher was sagen, ich weiß aber nicht was – doofes Gedicht. Das ist aber genau die Vorstellung, die wir los werden müssen. Manche Gedichte wollen etwas sagen, manche Gedichte bedeuten etwas. Andere nicht. Wir dürfen das nicht für alle erwarten oder voraussetzen. Ich ziehe an dieser Stelle immer gerne den Vergleich mit der abstrakten Malerei: Ein Bild, das nichts Figürliches darstellt, kann mir sehr wohl gefallen, obwohl ich nicht weiß, was oder ob es darstellt. Ein Gedicht ist also zunächst Sprache, die ich nicht unbedingt verstehen muss, die mir aber trotzdem gefallen kann. Warum ist dabei erst einmal zweitrangig, wenn nicht egal. Indem ich diesen Druck vom Gedicht nehme, kann ich mich ihm besser nähern, es betrachten und wahrnehmen. Das hat den unschätzbaren Vorteil, dass ich auch „schwierige“ Gedichte lesen kann, ohne mich zu ärgern, denn sie zu verstehen ist ja gar nicht mein Ziel.

Ich schreibe schon seit über zehn Jahren Gedichte, wirklich angefangen Gedichte in großen Mengen zu lesen, habe ich allerdings erst in den letzten zwei Jahren. Ich musste erst meine Art Gedichte zu lesen (v)erlernen, um Freude daran zu haben, sie auch in größeren Mengen zu lesen. Mittlerweile konsumiere ich sie geradezu, lese in mehreren Bänden gleichzeitig und habe eigentlich immer einen dabei, um in freien Minuten darin zu blättern. Gedichte haben nämlich oft den unschätzbaren Vorteil, dass sie kurz sind: Ein, zwei Gedichte vor dem Schlafengehen passen immer und eine Freundin lagert ihre Gedichtbände auf der Toilette, damit sie auf dem Klo immer ein paar davon lesen kann. Es wäre also gar nicht so schwierig der Lyrik ein bisschen Platz in unserem Leben einzuräumen.

Der Widerstand der Sprache

Ich mag an Gedichten, wenn sie mir die Grenzen der Sprache vor Augen führen – und diese sogar sprengen. Wenn sie mir die Sprache in ihrer Unzulänglichkeit als Medium bewusst machen und ich mir vor Wort- und Formspielen die Augen reiben muss. Das ist natürlich nicht für jede_n etwas, es zeigt jedoch, dass Lyrik ein großartiges Experimentierfeld sein kann. Ein Spielplatz, an dem wir uns austoben können, bis wir ganz erschöpft sind und froh, dass wir dann doch gerade Sätze sprechen können, wenn wir es möchten. Diese Aspekte der lyrischen Sprachverwendung sind, was mich an Gedichten reizt und was ich auch in meinen Gedichten ausloten möchte. Dieser im Gedicht materialisierte Widerstand der Sprache ist es, was einen Text für mich zu einem Gedicht macht. Und es ist für mich auch genau dieser Widerstand der Sprache, über den wir sprechen, wenn es beispielsweise um die Schwierigkeiten geschlechtergerechter Sprache geht.

Vielleicht ist der allgemeine Abgesang auf die Lyrik dann ja auch gar kein echter. Ich glaube nämlich, dass sich die Lyrik in Form besagter lyrischer Sprachverwendung schon längst in unsere Leben eingeschlichen hat, ohne dass wir es merken. Sie begegnet uns zum Beispiel in der Werbung, aber vor allem online: die Gedichtblogs sind unzählbar und vor allem Twitter nutzen viele, um ihren Tweets etwas Poetisches mitzugeben. Und ja, auch manche Formen der geschlechtergerechten Sprache haben für mich eine lyrische Qualität – im positivsten Sinne. Twitter eignet sich zudem sehr gut als Beispiel für diesen Widerstand der Sprache und bei manchen Tweets gibt es für mich tatsächlich keine wirkliche Grenze mehr zwischen „Tweet“ und „Gedicht“ – und letztendlich, so könnte man polemisch fragen, besteht ein Gedicht denn aus mehr als einer Reihe von sehr guten Tweets? Wir verbringen immer mehr Zeit vor Bildschirmen, die uns die Sprache wortwörtlich immer wieder vor Augen führt. Ich mache mir deswegen keine Sorge um die Lyrik: Es wird sie immer geben. Sie ist schon längst da, auch wenn wir keine Gedichtbände lesen, denn sie hat schon andere Formen gefunden, in denen sie präsent ist. Schließlich gilt zuletzt, was Ernst Jandl über Gedichte sagte: „die rache / der sprache / ist das gedicht“.

Dieser Beitrag ist Teil einer Mini-Serie. Demnächst erscheint der zweite Teil von Nicole.

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10 Antworten zu “Gedichte lesen (1)”

  1. cassionetta sagt:

    Wunderbar! Ich stoße immer mal wieder auf tolle Lyrikerinnen, deren Gedichtbände ich dann auch kaufe um darin zu schmökern. Mein letzter ist aber jetzt auch schon über ein Jahr alt: Szymborska (auf polnisch). http://de.wikipedia.org/wiki/Wis%C5%82awa_Szymborska

    Sehr bekannt ihr ja ihr Gedicht zum „Lebenslauf“. http://lesefraeulein.blogspot.de/2012/10/gedicht-des-monats-wislawa-szymborska.html

  2. brent sagt:

    Wenn der Begriff Lyrik etwas weiter gefasst wird, dann lernen tatsächlich viele Menschen Gedichte auswendig; wollen sehen, wie Gedichte aufgesagt werden; hören täglich Gedichte und zahlen sogar dafür; hängen sich vielleicht sogar Poster von Dichter_innen an die Wand: Im Popsong, im Rap, in der Slam-Poetry, im Spoken Word etc. hat die Lyrik doch längst ein weiteres Gesicht gefunden.

    • daniel doublevé sagt:

      sehe ich genauso! wollte diese beispiele auch noch anbringen, hatte sie dann aber vergessen. :)

  3. kami sagt:

    Interessante und durchaus inspirierende Ansichten, auch wenn ich mich zunächst wundern musste, warum als Beispiel für langweilige Schulgedichte ausgerechnet Eichendorff angeführt wurde, den ich lyrischen Bilderzauberer von fast schon universeller Verständlichkeit empfinde und auch heute noch schätze. Wie von brent schon angeführt sehe auch ich die Zukunft der Lyrik eher weniger in Gedichtbänden sondern in Liedtexten, Poetry Slams, Social Media Lyrik u.ä. Inkarnationsformen. Es wäre zu hoffen, das in dieser Form vielleicht auch Gedichte früherer Generationen neues Leben eingehaucht werden könnten. Gerade Gedichte von Leuten wie Tucholsky oder Kästner wirken doch noch genauso frisch wie vor -zig Jahren. Manchmal ist ja auch das Label entscheidend, unter dem etwas firmiert, wenn man Gedichte also befreit vom Muff der Gedichtbände und Lehrbücher, dann könnten eventuell auch Lyrikmuffel (zu denen ich tendenziell aber auch gehöre) Lust bekommen auf das Abenteuer Lyrik.
    Bin gespannt auf weitere Beiträge in dieser Reihe.

    • daniel doublevé sagt:

      danke für die blumen! eichendorff musste einfach deswegen herhalten, weil er mir schlichtweg als erstes in den sinn kam. ich finde aber, er ist ein gutes beispiel für kaputt-interpretieren, das mir regelmäßig in schule und studium begegnete.

  4. XYZ sagt:

    Ich liebe Gedichte und von den letzten zehn Büchern (Ich liebe Bücher!), die ich mir gekauft habe, waren acht Gedichtbände (W. Wordsworth, R. Burns, D. Thomas, Th. Rosenlöcher, R. Frost, M. Angelou, Th. Fontane, L. v. Strauß und Torney). Am Wordsworth lese ich gerade, den Burns habe ich noch vor mir. Durch Dylan Thomas habe ich mich durchgewurschtelt und Thomas Rosenlöcher liebe ich über alles (absolut empfehlenswert)! Robert Frost habe ich zur Hälfte gelesen und die Gedanken der wunderbaren Maya Angelou lese ich meinen Kindern vor – genau wie Theodeor Fontanes Balladen. Lulu von Strauß und Torney hat mich wegen ihrer Verstricktheit in die Naziideologie interessiert (teilweise echt gruseliges Zeug!). Auf meinem kleinen Nachttisch liegen im Moment und meistens mehr Gedichtbände als Romane. Meine Schwiegermutter findet das höchst irritierend; sie sagt, sie könnte nie einfach einen ganzen Gedichtband am Stück durchlesen. Ich kann das und liebe es! :) Solange es Lyriker*innen wie Sarah Krisch und Thomas Rosenlöcher gibt, solange ist Lyrik nicht gestorben. PS: Wer Poetry Slams mit Lyrik auf eine Stufe stellt, der hält auch André Rieu für Klassische Musik. ;)

    • XYZ sagt:

      Theodor Fontane statt Theodeor Fontane, Sarah Kirsch statt Sarah Krisch. Vielleicht sollte ich mal zwischendurch den Duden lesen…

    • brent sagt:

      Es geht vielleicht gar nicht so sehr darum, etwas wertend auf eine Stufe zu stellen. Also im Sinne einer Hierarchisierung anhand von Kategorien wie beispielsweise E- und U-Kultur, die dann einen exklusiven Lyrik-Begriff schafft, in dem für Slam-Poetry kein Platz ist. Und Lyrik ist ja auch nicht nur ein Kanon von Fontane bis Wordsworth, sondern eben auch Sachen, die du dir nicht auf deinen Nachttisch legen oder lese würdest.

      • XYZ sagt:

        Klar, klar. Ich sehe auch nur ein Übergewicht an „Ich les Euch jetzt mal
        mein Tagebuch vor“-Lyrik und „Lasst mich mal ein paar witzige
        Wortspiele performen“-Gedichten bei Poetry Slams. Dass es da auch
        Anderes und Besseres gibt, das dass – auch wenn ich es nicht mag – sehr
        wohl trotzdem seine Daseinsberechtigung hat, will ich ja gar nicht
        abstreiten. Und in der Tat gibt es ja mit Claudius, Ringelnatz und Co.
        auch Dichter des „klassischen Spektrums“, die ähnlich gearbeitet haben.
        Vielleicht habe ich aufgrund meiner Liebe zur Lyrik den Sinn für die
        leichte (oder – hoffentlich nicht! – jedwede neugewonnene) Ebene dieser
        Kunstform verloren und schwinge jetzt die eiserne statt der wächsernen
        Keule gegen die Slammer…