Meine 3. Bildungsanstalt

Als Kind habe ich mir das immer so vorgestellt: Erst kommt die Schule. Dann eine Ausbildung oder ein Studium. Dann startet man einen Beruf. Fertig, alle Ausbildungswege abgeschlossen. Dann muss man nichts mehr lernen, hurra. Oder anders gesehen: dann lernt man halt nichts mehr, gähn. Natürlich blieb diese Sichtweise mit dem Älterwerden nicht die ganze Zeit so simpel. Aber in den Grundzügen hat sich lange nicht viel verändert. Bis ich mich irgendwann in der letzten Zeit gefragt habe: wann und wo habe ich eigentlich gelernt, so über die Welt nachzudenken, wie ich es heute tue? Welcher Bildungsweg hat mich zu dem gemacht, was ich heute bin? Kurz gesagt und etwas unbescheiden ausgedrückt: wo hab ich eigentlich denken gelernt? War das in der Schule, oder doch an der Uni? Ich denke… es war im Internet.
Nicht falsch verstehen: ich bin sehr dankbar dafür, dass ich das Privileg hatte, Abitur zu machen und studieren zu können. Dem verdanke ich die Möglichkeit, mich auf Jobs bewerben zu können, die das erfordern. Dem verdanke ich viel Bildung, die ich ansonsten vielleicht nicht hätte. Und noch viel mehr, Status etc. Aber begriffen, was für ein Privileg das ist – und was überhaupt ein Privileg ist – habe ich so richtig eigentlich erst im Internet.
Mein Studium habe ich kurz vor dem großen Bologna-Umbruch abgeschlossen und damit noch einen geisteswissenschaftlichen Magister “alter Schule” absolviert. Viele Seminare, keine Vorlesungen, Alt-68er-Professor_innen. Etliche Dinge, die im Selbststudium vorbereitet und dann diskutiert werden sollten. Wie viele meiner Kommiliton_innen brachte ich diese Disziplin oft nicht auf oder fühlte mich zu dumm dafür. Dann sahen wir gespannt einigen wenigen sehr schlauen und/oder fleißigen Menschen in den Seminaren beim Diskutieren zu. Manchmal auch beim Denken. Das waren die guten Momente. Für einige war dieser Weg genau der richtige. Das verschultere Bachelor-/Master-System, das Student_innen heute durchlaufen, hat demgegenüber sicher viele, wenn auch andere, Nachteile. Ob man dabei besser Denken lernt, hm. Denken im Sinne von: einen Blick für Strukturen und „das große Ganze“ und eigene Gedanken dazu zu entwickeln, angebliche Standards und Normen zu hinterfragen und solche Dinge.
Im Internet war ich natürlich auch schon während des Studiums – aber ich kann heute gar nicht mehr so genau sagen, was ich “damals” eigentlich so im Internet gemacht habe. Selbst meinen ersten Blog hatte ich erst, als ich bereits meine Magisterarbeit schrieb (so ein Zufall! Das hatte sicher nichts mit Prokrastination zu tun – noch so ein Wort, dass ich erst durch das Internet kenne). Langsam entdeckte ich die “Blogosphäre”, begann regelmässig Blogs zu lesen. Mit Einstieg über Modeblogs kam ich zu Tagebuchartigen und schließlich zu feministischen, politischen oder netzaktivistischen Blogs und Themen. Oder solchen, wo sich alles vermischt. Auf einmal las und las ich. Lange Artikel, theoretische Artikel, traurige Artikel und satirische. Englische Artikel, für die ich Dinge nachschlagen musste. Schaute Streams von Konferenzen, TED-Talks und Youtube-Reihen. Begann zu twittern, Leute auf Twitter kennenzulernen und deren Themen und Meinungen. Ich erinnere mich an eine Zeit, in der ich Kommentarspalten las und sogar selbst Kommentare schrieb, jaha! Und auch heute gibt es spannende Diskussionen im Internet zu verfolgen, vielleicht seltener in Kommentarbereichen denn in Texten, die sich auf einander beziehen, aber manchmal sogar dort. Dabei sind lauter Themen in mein Leben gekommen, von denen ich das Gefühl hatte, sie waren eigentlich immer nur einen Steinwurf von dem entfernt gewesen, womit ich mich ohnehin beschäftigte. Oder eher: einen Klick entfernt. Das Internet vernetzte diese Themen, sowohl sichtbar vor mir auf dem Display als auch in meinem Kopf, und hielt mir dabei vor Augen, an welchen Stellen ich bislang zu naiv, zu faul oder zu ignorant gewesen war. Und tut es immer noch.
Natürlich half mir dabei mein Studium. Etwa, um theoretischere Texte im Netz zu verstehen oder mich davon nicht abschrecken zu lassen, und auch bei eigenen Texten mal auf den einen oder anderen theoretischen Unterbau zurückzugreifen – oft sogar eher unbewusst. Auf der anderen Seite denke ich selten bei einem Artikel darüber nach, ob die_der Schreibende einen akademischen Hintergrund hat und erlebe, dass sich Menschen in den Gebieten, für die sie sich begeistern, Hintergrundwissen erschließen, unabhängig von Bildungswegen, oder auch ohne großen Theorieeinsatz zu interessanten Schlüssen kommen. In aktivistischen und feministischen Kontexten, aber auch etwa in der DIY-Szene und unter Programmierer_innen (und vermutlich auch in vielen anderen thematischen Bereichen) lesen Menschen sich in beeindruckendem Maße in Kontexte und theoretische Hintergründe ein, und tragen ihr Wissen dann wieder ins Netz, für andere verfügbar.
Man darf bei dieser Begeisterung für die Wissenserschließung und Meinungsbildung im und über das Netz nicht vergessen, wieviele Vorteile und Privilegien die “klassische” akademische Bildung bedeutet, und aus dieser Perspektive beurteile ich natürlich auch meine Erfahrung. Aber ich kann einfach nicht anders, als in (Internet-)Begeisterung zu verfallen, wenn ich auf tumblr Diskussionen unter Jugendlichen lese, die in ihrer eigenen Weise und Sprache zu Schlüssen kommen, die auch nicht so weit weg sind von denen, die an Unis gezogen werden (und das hat nicht unbedingt nur damit zu tun, dass das Niveau an Unis vielleicht nicht immer so toll wäre wie gedacht). Und ich kann nicht umhin zu bemerken, welche Politisierung, welche Denkanstösse und Ideen ich erhalten habe rein dadurch, dass ich mich im Netz bewege und dort mit Menschen austausche. Der niedrigschwellige, wilde Mix aus verschriftlichen individuellen Erfahrungen, allgemeinen Überlegungen, aktivistischen Kampagnen, Wikis (und Katzenbildern), wie ich ihn im Netz vorfand und immer noch vorfinde, hat mich wach gemacht und mich für viele Themen begeistert, von denen ich dachte, sie seien vielleicht zu kompliziert für mich, zu weit weg – oder von denen ich einfach nicht wusste, dass sie existieren. Neu hinzugekommen ist bei mir jüngstens das Programmieren, für das im Netz eine unglaubliche Fülle an Lern-Ressourcen offenstehen. Da hab ich mich sogar wortwörtlich wieder eingeschrieben, in der Codecadamy und der codeschool (davon ein anderes Mal mehr).
Natürlich ist das nur meine Erfahrung. Ich kenne einige Menschen, die sich schon im Studium oder in der Schule und ganz ohne Internet politisiert haben, Demos, Veranstaltungen und Gesprächskreise organisierten und dafür politische Lektüre verschlangen. Das ist bewunderswert. Aber das soll ja hier auch nicht der Einleitungstext zu einem neuen Generationenbuch werden. Vielleicht teilen einige meine Erfahrungen (zumindest teilweise). Für viele andere (jüngere?) ist es vielleicht schon ein selbstverständlicher Zustand, der all ihre “Bildungswege” durchdringt und sie unabhängiger und kritischer macht. Ich würde es mir zumindest wünschen. Daran teilzuhaben und davon zu profitieren steht zumindest so vielen Menschen offen wie noch nie zuvor.
Das Internet mag keine Institution, keine Bildungsanstalt und keine Lehrperson sein. Nennt es Medium, Netzwerk, Dienst: wir machen einander darüber Wissen zugänglich, aber vor allem verhandeln wir dieses Wissen auch. Als solches hat es mir unheimlich viel gebracht. Deswegen anthropomorphi stelle ich mir das Internet jetzt mal kurz als Person vor (stellvertretend für all die spannenden Menschen, die ich darüber getroffen habe) und sage: danke. Wie ich jetzt über die Welt nachdenke, habe ich hier gelernt. Ich bin gerne deine Studentin und Alumna, und bleibe es, beides gleichzeitig, hoffentlich noch lang.
Das ist so schön, dass ich gerade Deinen Artikel hier gefunden habe, weil ich darüber seit ein paar Wochen auch nachdenke und gerade im feministischen und im AntiRa-Bereich zu dem gleichen Schluss komme. Generell angefangen zu politisieren und meinen Blick auf die Gesellschaft und die Welt zu verändern, habe ich durch den Umzug in eine andere (Uni-)Stadt, in der sehr viele junge und sehr viele irgendwie links-emanzipatorische Menschen leben, mit denen ich erst zu Beginn meines Studiums in Kontakt gekommen bin. Aber dann wollte ich mehr wissen über die Themen, die um mich herum gerade diskutiert wurden oder im Austausch ergaben sich weitere Fragen. Und dann hab‘ auch ich meinen Weg ins Internet (v. a. zunächst zur Mädchenmannschaft und ein paar veganen Blogs) gefunden und bin dann schnell in der Blogsphäre gelandet. Alles andere kann ich unterschreiben wie Du es schilderst. Danke für den Text, der das nochmal so gut zusammenfasst und auf den Punkt bringt.
Es ist bedenklich, wenn man den qualitativen Unterschied zwischen einer Universitätsausbildung und Tumblr und Twitter nicht mehr erkennt. Das spricht entweder gegen die Studienfächer, für die man sich entschieden hat, oder für eine mangelnde Urteilskraft hinsichtlich der Güte von wissenschaftlichen Texten.
Hm, dein Kommentar spricht irgendwie für mangelndes Durchlesen meines Textes. Das schreibe ich nämlich nicht.
„Mit Einstieg über Modeblogs kam ich zu Tagebuchartigen und schließlich
zu feministischen, politischen oder netzaktivistischen Blogs und Themen.
Oder solchen, wo sich alles vermischt.“ Das war bei mir ganz genauso. Problematisch finde ich nur, dass ich über viele (nicht nur politische) Themen nicht mit meinen Freunden sprechen kann, weil sie noch nie davon gehört haben. Aber daran merke ich auch, was mir fehlen würde, wenn ich das Internet nicht so intensiv nutzen würde.