Den Blick schärfen

Foto , CC BY-SA 2.0 , by jeanmartin

Ende 2011 fragte sich Jörg, ob es möglich sei, das Berliner U-Bahn-Netz an einem Tag in alle Richtungen komplett abzufahren. Wenige Minuten später dachte er, es wäre doch lustig, dies auszuprobieren. Als nächstes trug er die Idee auf Twitter hinaus in die Welt.
Maike nahm ihn beim Wort und wollte mitmachen. Sie sprach ihn immer wieder drauf an: Wann fahren wir endlich los und wie koordinieren wir das? Es sah nach einem komplizierten mathematischen Rätsel aus, diese riesige Gleisspinne innerhalb eines Tages zu bewältigen. 173 Stationen auf 146 Kilometern Streckenlänge.

Wir hielten es für besser, das vorher einmal ausrechnen zu lassen. Freundlicherweise hat sich Prof. Dr. Martin Skutella, zuständig für Kombinatorische Optimierung und Graphenalgorithmen am Institut für Mathemathik der TU Berlin unserer Idee angenommen. Gleich zwei seiner Mitarbeiter, Martin Groß und Wolfgang Welz, haben sich das Ganze für uns angeschaut. Und siehe da, es geht: Bei einer durchschnittlichen Umsteigezeit von 5 Minuten und den durchschnittlichen Fahrzeiten der Berliner U-Bahn dauert das Befahren aller Linien hin und zurück knapp zwölf Stunden. So haben es schlaue Mathematiker errechnet!

Für die Wege gibt es dabei sogar verschiedene Varianten, aber am einfachsten ist es in Berlin, sich entlang der U2 zu orientieren. Die nämlich kreuzt alle Linien, außer die komplett alleinstehende U55 und derzeit den nördlichen Teil der U6, die ja an der Friedrichstraße wegen Bauarbeiten unterbrochen ist und die somit auch etwas mehr Zeit kosten. Die Mathematiker haben das alles nicht nur so toll ausgerechnet, sondern auch noch erklärt: Es handelt sich bei unserem Vorhaben nämlich um eine erweiterte Version des Eulerkreisproblems.

Das Ganze ist übrigens echte Wissenschaft. Wolfgang Welz schrieb uns: “Diese Lösungen wurden mit modernen Methoden der Kombinatorischen Optimierung gefunden, bei denen das Problem zuerst als ein sogenanntes gemischt-ganzzahliges lineares Programm modelliert wurde, welches dann durch Zuhilfenahme von speziell für diese Probleme geschriebenen Algorithmen am Computer gelöst wurde.” Toll, oder?

Wir fahren U-Bahn!

Nun ist es soweit. Wir setzen das Projekt in die Praxis um und stellen der mathematischen Theorie den erfahrenen Beweis zur Seite: Am 13. April starten wir morgens gegen 9:00 Uhr am Alexanderplatz und fahren einmal das komplette Berliner U-Bahn-Netz rauf und runter. Wir sind gespannt, wie lange wir brauchen und ob wir das wirklich in zwölf Stunden schaffen. Wir werden Berlin von unten erkunden. An Orte kommen, wo wir nach fünf beziehungsweise zehn Jahren Berlinbewohnen noch nie waren. Alte Strecken erinnern. Umsteigen. Auf Züge warten. Reden. Spaß haben. Und vor allem beobachten.

Denn am 14. April endet die gestern begonnene International Anti Street Harassment Week, an der sich Menschen weltweit beteiligen können. Sei es die Woche über mit Online-Demonstrationen oder am Wochenende mit Aktionen direkt auf der Straße, um darauf aufmerksam zu machen, dass täglich und überall Menschen aufgrund ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Ausrichtung, ihrer Hautfarbe im öffentlichen Raum belästigt, diskriminiert oder bedroht werden.

Nun sind ja gerade öffentliche Verkehrsmittel und in Berlin vor allem die U-Bahn und ihre Stationen Orte, an denen sich manche Menschen unwohl fühlen oder gar Angst haben. Auch in den #Aufschrei-Tweets im Februar wurde von solchen Situationen berichtet.

Wir wollen deshalb streckenweise ganz bewusst darauf achten, wie die Menschen dort miteinander umgehen. Wir machen quasi eine ausführliche Stichprobe der Interaktion in den gelben Zügen. Um die eigene Aufmerksamkeit zu schärfen. Um anschließend davon zu berichten und so vielleicht etwas mehr Bewusstsein zu schaffen für das, was schiefläuft und hoffentlich auch das, was dem in Form von täglicher Courage entgegengestellt wird.

Vielleicht gelingt es uns auch selbst, ein paar freundliche Zeichen zu setzen, wie respektvolles Miteinander nicht nur in der Linie 1 gehen kann.

Wir werden am Samstag den ganzen Tag unter dem Hashtag #ubahn twittern, durchgeben, wo wir uns gerade aufhalten, und freuen uns über Menschen, die uns temporär begleiten und womöglich sogar mit kulinarischen Köstlichkeiten versorgen wollen.
Steht uns bei: @bjoerngrau und @ruhepuls

14 Antworten zu “Den Blick schärfen”

  1. Fiona sagt:

    Was ihr vorhabt, ist im Grunde genommen wie eine teilnehmende Beobachtung – das ist interessant und eine sinnvolle Möglichkeit, diese qualitative Methode der Datenerhebung einzusetzen.
    Vielleicht kann der Wikipediaeintrag dazu (http://de.wikipedia.org/wiki/Teilnehmende_Beobachtung) ein bisschen zur Überlegung, wie ihr eure Beobachtungen gestalten wollt, beitragen.
    Ich denke, gerade die Fragen nach der Situiertheit der Betrachtenden ist spannend hinsichtlich der Interpretation und Wiedergabe des angesammelten Materials (siehe auch http://de.wikipedia.org/wiki/Dichte_Beschreibung).
    Ich glaube, eine weitere Frage – die sich mir zumindest unmittelbar stellte – ist jene nach eurer Rolle in der Beobachtung. Ihr wollt einen Tang lang ein Phänomen beobachten, das wir als problematisch konnotieren, u.A. aufgrund des Mangels an Solidarität. Es wäre also per default dokumentiert, wenn ihr nicht eingreift und euch nicht solidarisch zeigt. Wie plant ihr damit umzugehen? Wenn ihr wiederum per default eingreifen wollt, seid ihr wie eine Patrouille unterwegs und bürdet euch ganz schön was auf, wenn ihr _immer_ eingreifen wollt.
    Ich bin jedenfalls gespannt auf eure Ergebnisse. Ich kommentierte mal in meinem eigenen Blog (http://fionalerntprogrammieren.wordpress.com/2013/01/04/to-do/#comment-599) wie alltäglich Belästigungen für mich geworden sind. Aber ich denke für beide Seiten – die Belästigten und die, welche das nicht nachempfinden können – ist so eine Beobachtung aufschlussreich.
    Allerdings (und das abschließend ;) kann natürlich die zwölfstündige Beobachtung eines Paares tagsüber in keiner Weise die Erfahrungswelt einer Frau, die nachts alleine U-Bahn fährt nachstellen. Parameter wie „wer“, „wieviele“, „welche Jahreszeit“, „welche Linie“, „welche Klamotten“ konstituieren das Erlebnis der Einzelnen. Ich finde es wichtig, dass ihr das noch einmal herausstellt. Es kann sein, dass ihr ganz besonders viele #aufschrei-würdige Erfahrungen sammelt. Es kann aber auch genausogut sein, dass ihr gar nichts erlebt. Das muss kontextualisiert und relativiert werden.
    Ich freue mich auf eure Antworten und evtl. weitere Fragen, auf die ich mit meinem 4.Semester-Bachelor-Wissen natürlich versuchen würde, Antworten zu geben! :)

    Viel Erfolg!

    • ruhepuls sagt:

      Liebe Fiona, danke für deine Hinweise.
      Unsere Aktion soll ja keine wissenschaftliche Untersuchung werden, wir wollen nur einmal ganz genau hingucken. Was an solch einem langen Tag in der U-Bahn sicherlich anders abläuft, als wenn man eingebettet ist in seinen Alltag und nur von einem Ort zum nächsten gelangen möchte. Es liegt uns zudem fern, etwas nachstellen zu wollen oder gar selbst Belästigungen zu erleben. Wie es sich als Frau nachts in der U-Bahn anfühlt, weiß ich ja zudem leider nur gut genug, denn ich gehöre zu jenen, die dort leider immer mit Angst unterwegs sind.

      Deshalb ist es glaube ich auch unerheblich, ob wir da jetzt als „Paar“ unterwegs sind oder nicht. Ich würde mich freuen, wenn wir gar nichts Negatives sehen und erleben, auch wenn mir klar ist, dass das nichts aussagt über das, was täglich an Übergriffen in öffentlichen Verkehrsmitteln geschieht.

      • Wissenschaftler sagt:

        Hat euer Design überhaupt die Möglichkeit, eure Hypothese zu widerlegen, wenn ihr von vornherein festlegt, was ihr sehen und dafür notfalls sogar eure Wahrnehmung schärfen wollt? So etwas unseriöses dann auch noch medial aufzubereiten und breit zu treten ist unsinnig und verantwortungslos.

        • ruhepuls sagt:

          Welche Hypothese? Es gibt keine. Wir wollen lediglich schauen. Ich bin sehr froh, wenn wir Schönes sehen und die Menschen freundlich miteinander umgehen. Dann werden wir darüber schreiben.
          Wenn du meine Antwort auf Fionas Kommentar gelesen hättest, wäre dir das aufgefallen. Und: es geht uns nicht um eine wissenschaftliche Analyse. Das steht auch dort.

  2. Oh, eine nette Idee, egal ob BerlinerIn oder zugewandert. Ich habe gerade noch mal den Plan angeschaut und kann behaupten bis auf das Stück Wuhletal-Hönow und die U55 wirklich jede Linie mal voll abgefahren zu sein (natürlich nie an einem Tag). Die Linien sind tatsächlich sehr unterschiedlich, aber Ihr werdet ja sehen. Bin gespannt, was Ihr zu berichten haben werdet :)

  3. Samya sagt:

    Sehr schön *kicher*. Ich wünschte, ich würde in Berlin wohnen!

  4. kaltmamsell sagt:

    Großartig, ich bin völlig begeistert! Dass echte universitäre Mathematiker euch die Geschichte ausgerechnet haben, vergrößert den Coolness-Faktor in meinen Augen um das Fünffache.

    • ruhepuls sagt:

      Ja, hier gilt mein Dank Jörg, der das organisiert hat. Ich finde auch, dass der Nerdfaktor damit erheblich ansteigt.

  5. Eine LÄdy! sagt:

    Wow, was für eine tolle Aktion, genau nach meinem Geschmack. Wenn ich nicht etwa 600 Kilometer weit weg wäre, würde ich sofort begeistert mitmachen. Ich freue mich schon sehr auf die Berichterstattung bei twitter und bin gespannt, wie lange ihr braucht und was ihr beobachtet.

  6. yetzt sagt:

    oh, wie awesome. <3

  7. Faldrian sagt:

    Eine spannende Idee! Eigentlich bräuchtet ihr noch sowas wie Glympse oder dergleichen, um eure aktuelle Position live zu streamen – geht natürlich auch mit verorteten Twitter-Updates. :)
    Ich bin ja gespannt, ob die U-Bahn Realität eurer Simulation entspricht bzw. hoffe, dass sich euer Plan nicht an „oh, hier sind Bauarbeiten“ auflöst. :)

  8. […] fahren Jörg Braun und Maike Hank von kleinerdrei im Rahmen der Anti Street Harassment Week das Berliner U-Bahn-Netz ab und beobachten, wie die […]

  9. […] ins Netz, die es nicht zur Re:publica geschafft haben. 27:24 Jörg und Maike fahren für eine gute Sache die gesamte Berliner U-Bahnstrecke ab. 35:16 Sue Reindke über ein gewandeltes Verständnis von […]

  10. […] die uns am Alexanderplatz hinab zur U5 bringen sollte, wurde uns mulmig. Auf was hatten wir uns da nur eingelassen? Würden wir überhaupt durchhalten? Wären wir am Ende des Tages zerstritten? Und vor allem: […]