Der Heimweg

Foto , © , by Chirim Ohm

Dies ist ein Beitrag aus unserer Rubrik kleinergast, in der wir alle Gastartikel veröffentlichen. Dieses Mal kommt er von Chirim.

Chirim Ohm lebt derzeit in Köln und ist u. a. als Korrespondent für ein südkoreanisches Nachrichtenmagazin tätig. Dieses Jahr hat er noch vor, endlich seine erste Kurzgeschichte auf Deutsch fertig zu schreiben. Das Thema: Schwuler Amateurporno.

@grimasse

Er erzählte begeistert von dem Film, der gerade zu Ende ging. „Der Heimweg“, so hieß der chinesische Film. Selten zeigte mein Vater seine Gefühle, seine Tränen umso weniger. Sein altes Gesicht voller Lachen und Berührtheit, daran werde ich mich für sehr lange Zeit erinnern, dachte ich. Denn ich werde es ihm nehmen.

Seit acht Jahren stehe ich mit einem Fuß in Südkorea, wo ich geboren und aufgewachsen bin, und mit dem anderen in Deutschland, wo ich studiere – und wo ich schwul bin. Ich wohne mit meinem Freund in Deutschland, mit dem ich seit sieben Jahren zusammen bin. Aber ich verberge meine Sexualität in Südkorea. Denn Homosexualität gehört nicht zur südkoreanischen Realität. Homosexualität wird in den Medien konsumiert, aber nicht im Alltag ausgelebt. Ein Paar Beispiele: Vor etwa zehn Jahren hat sich ein Schauspieler geoutet – und das war das Ende seiner Karriere. Und zwar sofort. Er hat alles verloren, sogar die Homosexuellen schimpften auf ihn, denn er repräsentierte nach Meinung vieler nicht das Bild, das sie gerne von sich zeigen wollten. Er sei tuntig und hässlich, meinten sie.

Anfang dieses Jahres hat ein Soldat Selbstmord begangen. Er war schwul. Er hatte mehrmals die Beratungsstelle kontaktiert, aber keiner hat ihm geholfen. In seinem Abschiedsbrief gestand er, wie sehr das Duschen mit den anderen Soldaten ihn belastet hatte und wie er sich selbst hasste. Er hatte nicht mal die Wahl, aus der Armee auszutreten, denn jeder Mann in Südkorea muss Militärdienst leisten. In diesem Land ist die Homosexualität eine „tödliche Schwäche“, wie unsere ehemalige Nachhilfelehrerin meiner Schwester erklärt hat. Deshalb vermeide ich sogar in Deutschland den Kontakt zu Südkoreanern, aus Angst, dass die Gerüchte sich schnell verbreiten und irgendwann meine Eltern auch davon erfahren würden.

Aber ich konnte es nicht mehr verbergen. Ich habe mich entschieden, mich dieses Jahr bei meinen Eltern zu outen. Es war keine spontane Idee. Seit sieben Jahren haben wir, ich und mein Freund, auf den richtigen Moment gewartet. Jedoch verstand ich langsam, dass dieser nie kommen würde – nicht bevor ich selbst die Entscheidung träfe, dies zu ändern. Außerdem wollen wir uns diesen Herbst verpartnern, dann hätten wir ein noch größeres Geheimnis zu gestehen. Das geht nicht.

Vor allem aber wollte ich nicht mehr von der Angst eingeschüchtert sein – die Angst, die mein Leben im Griff hatte und die mir verbot frei zu sein. Frei auf der Straße mit meinem Freund Händchen zu halten. Frei von meinem Leben zu erzählen und zu schreiben. Frei so zu sein, wie ich wirklich bin. All das war nur möglich, wenn ich mich selbst von dieser Angst befreite. Das war das Ziel meiner Rückkehr nach Südkorea. Vier Wochen wollte ich bei meinen Eltern wohnen.

Meine ältere Schwester, die bereits von meinem Vorhaben wusste, bat mich, das ganze noch mal genauer zu überlegen. Sonst war sie durchaus unterstützend, aber dieses Mal hatte sie noch größere Angst als ich. „Sie sind nicht mehr so wie früher, sie sind alt und schwach. Vielleicht können sie den Schock nicht überstehen.“ Zudem besuchte meine Mutter wegen Depressionen seit ein paar Monaten eine Psychotherapeutin. Mein Vater hatte wiederholt seine Stelle verloren. Meine Schwester hat es als freiberufliche Übersetzerin und Publizistin noch nicht so weit geschafft, dass sie unsere Eltern finanziell unterstützen kann. „Du bleibst hier nur für vier Wochen und wirst wieder nach Deutschland fliegen. Musst du es dieses Mal wirklich machen?“

Eigentlich wollte sie dabei sein, wenn ich mich oute. Aber als ich mich einmal entschieden habe, konnte ich nicht mehr auf sie warten. Ich frage mich noch immer, warum ich nicht den halben Tag warten konnte, nach dem ich mein ganzes Leben lang gewartet hatte. Zudem war es der erste Tag des Jahres nach dem Mondkalender, einer der größten Feiertage in Südkorea. Und meine Eltern saßen sorglos vor dem Fernseher.

Wie furchtbar ruhig es wurde, als ich den Fernseher ausschaltete.
„Mama, Papa, ich hab was zu erzählen.“
Ich hatte nicht vor zu weinen. Aber die Tränen flossen. Mühsam sprach ich weiter, was ich tausendmal in mir wiederholt hatte.
„Es ist etwas, was ich euch schon lange erzählen wollte, aber es fällt mir so schwer, dass ich bisher davon schwieg. Aber ich kann’s nicht mehr…“
„Was ist mit dir los? Du machst uns ja Angst.“, fragte meine Mutter noch lachend, aber deutlich spürbar unruhig.
„Ich mag Männer, und Lennart ist nicht nur ein guter Freund von mir, sondern mein Lebenspartner. Wir lieben uns.“

Langsam verschwand das Lachen von ihren Gesichtern. Die Augen meiner Mutter zeigten, dass ihr ganzes Wesen zitterte. Mit verschlossenen Armen atmete mein Vater tief ein und machte seine Augen zu. Plötzlich hatte ich Angst, dass er mich angreifen könnte. Aber ich konnte nichts mehr zurücknehmen. Ich habe weiter erzählt. Von meiner Last, die ich seit meiner Jugend trug, die aber niemand sehen konnte und für die daher auch keine Anerkennung bekam – dafür, dass ich sie ganz alleine schleppte. Von meiner Unsicherheit, was die Leute überhaupt von mir halten würden, wenn sie wüssten, dass ich schwul bin. Von der Selbstisolation, in welcher ich deswegen lebte.

„… Das hättest du uns nicht erzählen sollen.“
Nach langer Stille sagte mein Vater zu mir: „Wenn das, was ich nicht mal namentlich nennen möchte, für dich so belastend ist, hättest du einfach davon schweigen sollen. Denn somit hast du, du Egoist, deine Last auf uns verschoben. Nun müssen wir darüber schweigen. Denn wem können wir so etwas bloß erzählen? Wie kannst du nur? Warum machst du sowas? Hast du dich einsam in Deutschland gefühlt?“
Und: „Bist du schwul geworden, weil du Geld gebraucht hast?“

Seine Frustration konnte ich nachvollziehen. Aber das Letzte ging weit über die Grenze dessen, was ich akzeptieren konnte. Ich fragte ihn zurück: „Glaubst du ernsthaft daran, dass ich wegen des Geldes schwul geworden bin?“ Er zögerte. „Wenn du es nicht ernst meinst“, sagte ich, „dann sag mir sowas bloß nicht.“

So wurde aus meinem Heimweg eine Fahrt durch die Hölle.

Als mein Vater seine Wut über mich goss, trat meine Mutter überraschenderweise vor und verteidigte mich. Doch am nächsten Tag brach sie selbst zusammen. Sie, tief gläubige Buddhistin, fing an zu sagen, dass dieses Karma nur mit ihrem Tod zu büßen war. Dass ich sie zu ihrem Tod zwang. Am Abend bestellte mein Vater alle ins Wohnzimmer. Er teilte mir mit, was ich für eine gedankenlose Tat begangen hätte und dass er mir nicht mehr in die Augen sehen könne. Denn ich kam ihm wie ein Wurm vor. Auch wenn man in Deutschland als Homosexueller gleiche Rechte genießt, verrottet die Minderheit immer, das sei ihr Schicksal. Ich habe gesagt: Es stimmt zwar, dass die Homosexuellen auch in Deutschland eine Minderheit sind, jedoch eine respektierte Minderheit. Er hoffte, dass es nur ein Irrtum der Jugend war. Wenn das vorbei ist, darf ich wieder nach Hause, aber ansonsten sollte ich nach Deutschland verschwinden. Für immer.

Zwar setzte sich meine Mutter ihm entgegen, dass ich kein Wurm wäre, doch sei es unfassbar, dass gerade ich, ihr Engel und Buddha, ihre Hoffnung, ihr Herz am brutalsten bricht. Mein Vater bedrohte mich, dass niemand mich benachrichtigen werde, wenn meine Mutter meinetwegen sterbe. Meine Schwester versuchte zu erklären, dass ich doch derselbe war und kein anderer als der, den meine Mutter liebte. Aber meine Mutter konnte es einfach nicht akzeptieren. Sie war und wollte immer stolz auf mich sein, aber ich habe ihr den größten Schmerz in ihrem Leben bereitet und sie könne es niemandem erzählen.

Das zweite Gespräch scheiterte.

Als alle ins Bett gingen, telefonierte ich mit meinem Freund. Zwischen uns lagen etwa 9.000 km Entfernung, aber die zwei Realitäten schienen noch weiter entfernter zu sein. Aus einer fernen Welt sprach er, dass ich kein Wurm sei und keine Sünde begangen hatte. Ich weiß schon, antwortete ich, aber es ist schwer daran zu glauben in Südkorea.

Vor meiner Abreise habe ich mehrmals mit meinem Freund drüber gesprochen, wie es laufen würde. Ob es nicht besser wäre, es nur meinem Vater zu erzählen, weil er nicht so emotional ist, wie meine Mutter. Ob er mich schlagen würde. Ob meine Mutter wieder versuchen würde, sich umzubringen. Ob meine Eltern, kurz gesagt, alles das wiederholen würden, was ich in meiner Schulzeit erdulden musste. Ich war schon 27 Jahre alt und dennoch war ich so verunsichert wie mit 15 Jahren. Nachts konnte ich nicht mehr einschlafen, denn ich war überwältigt von der Ungewissheit des Ganzen.

Ich habe auch meine Freunde gefragt, ob sie es für eine gute Idee hielten. Meine koreanischen Freunde fragten mich, ob ich es wirklich machen musste, wie meine Schwester. Sie hatten eigentlich kein Problem mit der Homosexualität, was sie zur seltenen Ausnahme machte. Außerhalb dieses Freundeskreises traute ich mich nicht, mich zu outen. Es war eine Schaumwelt und ihre Bewohner wussten, dass ich außerhalb dieser Sphäre sehr geringe Chance als Schwuler hatte. Dagegen verstärkten meine deutschen Freunde meine Entscheidung. Sie machten sich zwar auch Sorgen, weil es mir danach schlecht gehen konnte. „Aber du weißt ja schon, dass du es machen willst. Auch wenn deine Eltern es nicht verkraften können, ist es letztendlich ihr Problem“, sagten sie.

Zwischen beiden Freundeskreisen fühlte ich mich zerrissen. Ob ich in Deutschland auch nur eine angenehme Schaumwelt gefunden habe, kann ich nur schwer beurteilen. Aber auch wenn, ist diese Schaumwelt Made in Germany noch stabiler und breiter. Als hätte man aus dem Schaum Glas gemacht. Schließlich entschied ich mich, daran zu glauben, dass ich in dieser Welt glücklich leben kann.

Überhaupt konnte ich die ersten Tage nur durchhalten, weil ich tagsüber meine Freunde traf und nachts mit meinem Freund telefonierte. Jeden Tag schrieb ich alle Geschehnisse nieder. So konnte ich klarer sehen, was wirklich passierte und was ich nun zu tun hatte. Die Freunde in Deutschland schrieben mir ermutigende Nachrichten. Das war mein Sauerstoff.

Eigentlich hatte ich vor, auf jeden Fall zu Hause zu bleiben. Denn nur so konnte ich sie überzeugen, dass ich kein Ungeheuer war, sondern der Sohn, den sie kannten. Aber als meine Mutter mir mitteilte, dass ich entweder mit ihr in einen buddhistischen Tempel gehen müsse, um für meine Sünde zu büßen, oder für immer nach Deutschland zu verreisen hätte, entschied ich mich dazu, das Haus zu verlassen. Es war der dritte Morgen nach dem Coming out und ich lag noch im Bett. Ich wollte nicht mehr bei ihnen bleiben.

Als meine Mutter mit ihrer Freundin in den Tempel ging, beeilte ich mich, alles einzupacken. Eine Freundin bat mir das Sofa für den Rest meines Aufenthalts in Seoul an. Ich schrieb einen kurzen Brief an meine Eltern und legte ihn auf ihr Bett. Aber gerade als ich meine Schuhe anzog, kam meine Mutter zurück – eine Stunde früher als geplant. Meine Mutter begann wieder, mir Vorwürfe zu machen und zu drohen, sich umbringen zu wollen. „Genau das, das vertreibt mich aus diesem Haus“, schrie ich, „Ich kann und will mit dir reden, aber so nicht. Hör auf mit dem Selbstmord, rede mit mir. Denn du hast sicher tausende Fragen zu stellen, ich antworte auf alles!“

Es war schwierig, sie zu beruhigen. Jedoch kamen wir langsam ins Gespräch. Einmal fragte sie: „Es gibt ja Menschen, die auf die Liebe verzichten, und warum kannst du’s nicht auch machen?“ Ich war fassungslos. „Mama, es tat mir sehr weh zu hören, dass du nie in deinem Leben wirklich in jemanden verliebt warst und von jemandem geliebt wurdest.“ – das teilte sie mir bei meinem Coming out nämlich unbedacht mit. „Ja, aber so kann man doch leben!“, sagte sie. „Bist du deshalb glücklich?“, fragte ich sie zurück und darauf kam erstmal keine Antwort. „Mama, die Gewöhnlichen leben doch mit der Liebe und sind glücklich.“ Sie sei glücklich, denn sie habe den Buddha entdeckt. Aber wir wussten beide, dass es eine Lüge war.

Im Laufe des Gesprächs bekam ich den Eindruck, dass sie sich vor allem um mein Glück Sorge machte. Sie sagte: „Was passiert, wenn er dich verlässt?“
„Als ich ein Kind war“, sagte ich, „hast du schon immer so gedacht: Ich wollte immer einen Hund haben und du sagtest immer, es wird mir so weh tun, wenn der Hund eines Tages sterben wird. Aber die meisten Menschen sehen das nicht so. Es ist zwar etwas anderes, aber dennoch: Lennart ist keiner, der sich so von mir trennen würde und auch wenn er mich irgendwann nicht mehr lieben würde, bin ich dankbar dafür, dass er mir die Liebe gegeben hat, von der ich nicht mal zu träumen gewagt hatte. Vorletztes Jahr, als ich selber unter Depressionen litt, stand er die ganze Zeit neben mir und hat mir die Kraft gegeben, obwohl ich mich manchmal selbst nicht ertragen konnte. Er hat mein Leben gerettet.“

Weitere Fragen folgten. Warum ich schwul (geworden) bin, wie die Homosexuellen in Deutschland leben, ob ich dann nicht mehr ihr Sohn sein würde. Aus den Fragen konnte ich auch ihre Angst spüren, mich zu verlieren. Aber langsam konnte ich sie überzeugen, dass ich derselbe bin, den sie kannte und dass ich als ein Schwuler in Deutschland bereits glücklich lebte. Zwei Stunden danach umarmte sie mich kurz und bat mich um Zeit, in Ruhe über alles nachzudenken. Es seien zu viele Neuigkeiten gewesen. Sie bat mich, sie alleine in der Wohnung zu lassen. Zum ersten Mal nach meinem Coming out konnte ich ohne die Angst vor ihrem Tod die Wohnung verlassen.

In kommenden Tagen beschäftigte sich meine Mutter weiter mit ihren Fragen. Aber nicht mehr alleine. Am Tag nach unserer Begegnung besuchte sie einen Mönch, den sie immer um Rat bittet – und erzählte ihm von mir. Vier Tage zuvor behauptete sie, dass ich nie wieder jemandem erzählen sollte, dass ich schwul war. Aber nun erzählte sie von sich aus, dass ihr Sohn schwul war. Da sah ich Hoffnung. Erst nach diesem Besuch verstand sie, dass Homosexualität weder Sünde noch Krankheit war. Ich nahm mir vor, vor dem Buddha 108 Verbeugungen zu machen, aus Dankbarkeit. Am nächsten Morgen weckte sie mich. Sie umarmte mich und flüsterte: „Trotzdem bist du mein Sohn.“ Ich drückte sie ganz fest zurück.

Aber mein Vater. Bis zum letzten Tag meines Heimaturlaubs vermied er den Kontakt mit mir, während meine Mutter nun ganz auf meiner Seite stand. Wir – ich und meine Mutter – wollten eine möglichst schöne Zeit verbringen, bevor ich wieder nach Deutschland flog. Eines Abends wollte mein Vater mich wieder überreden, auf alles in Deutschland zu verzichten und in Seoul als ein „normaler Mensch“ neu anzufangen. Als ich dies verweigerte, wollte er mich nicht mehr sehen. Später habe ich erfahren, dass meine Mutter ihn dafür getadelt hat. Er wollte mich durch den Schock zurückgewinnen. Was für eine dumme Idee, schimpfte sie. Jedoch wollten wir ihm auch Zeit geben, alles in Ruhe zu überdenken. Warum sollten wir auch alle unglücklich sein, nur weil ich schwul bin? Könnte er vernünftig denken, so müsste er eingestehen, dass es eigentlich keinen Grund dafür gab.

Im Laufe der Zeit sprach er wieder mit mir – dank meiner Mutter. Denn sie hat ihm von ihrer Erkenntnis erzählt, dass Homosexualität weder Krankheit noch Sünde ist. Aber zu einem Gespräch kamen wir nicht mehr. Meine Mutter hat sich wieder besonnen und kaufte sogar ein Geschenk für meinen Freund, wie sie es früher gerne gemacht hatte. Am letzten Abend in Seoul war ich mit meiner Mutter und Schwester in der Noraebang (Koreanischen Karaoke) und wir hatten einen Riesenspaß zusammen. Mein Vater war nicht dabei.

Der letzte Tag in Südkorea kam. Nach dem Frühstück fragte mein Vater mich plötzlich: „Soll ich deinen Koffer tragen?“ Er hat sich zwar nicht dafür entschuldigt, was er mir gesagt hat –auch war ich nicht dazu bereit, das zu entschuldigen. Aber ich wusste, dass er auch für dieses Angebot erstmal den Mut fassen musste. „Ja, gerne.“, habe ich ihm geantwortet.

Auf dem Flughafen hat er nicht viel gesprochen. Kurz bevor ich durch die Sicherheitskontrolle gegangen bin, machte meine Mutter ein Foto von mir und ihm. Auf dem Foto sieht er nicht sonderlich glücklich aus. Aber als ich Abschied genommen habe, habe ich ihn kurz umarmt. Er nickte.

Im Flugzeug nach Frankfurt habe ich zwei Filme gesehen und ein Kapitel aus einem Buch gelesen. Erst da merkte ich, dass ich es durchgestanden hatte: mein Coming out bei meinen Eltern. Doch konnte ich mir schlecht vorstellen, wie konkret mein Leben sich von nun an verändern würde. Darf ich jedem erzählen, dass ich schwul bin? Ja, kann ich. Aber ob ich das will? Das ist eine andere Frage.

Als ich endlich wieder in Deutschland war, konnte ich nicht mehr aufhören, zu schmunzeln. Es war eine lange Reise und ich war mächtig stolz auf mich – dafür, dass ich sie überstanden hatte. Und es war ein schönes Gefühl. Der Zug kam im Kölner Hauptbahnhof an. Als ich ausstieg, lief mein Freund zu mir – und wir küssten uns unter dem offenen Himmel.

25 Antworten zu “Der Heimweg”

  1. Hagen von der Lieth sagt:

    Du bist so unfassbar mutig! Thx for sharing…

    • Chirim Ohm sagt:

      Danke fürs Lesen! Es fiel mir sehr schwer, aber ich wollte einfach nicht mehr so unter Druck leben. Ob ich mutig bin, weiß ich nicht, aber ich hab’s gewagt und zum Glück hat es am Endeffekt doch gut geklappt. Ich bin auch nur froh:)

      • Hagen von der Lieth sagt:

        Mut ist für mich: sich sehenden Auges einer Situation stellen, über deren Ausgang man keine Kontrolle hat; eine Wahrheit auszusprechen, von der man weiß, dass sie einen die Beziehung zu Menschen kosten kann, mit denen man verbunden sein möchte. Aus meiner Sicht bist du also mutig. Sehr sogar.

  2. naitaoni sagt:

    Eine sehr bewegender persönlicher Einblick – aufrichtig, berührend, traurig, aber auch mutig und v.a. Mut machend! Danke dafür!

  3. mangosonne.wordpress.com sagt:

    Deine Geschichte hat mich sehr berührt! Ich finde auch, dass du sehr mutig warst! Ich freue mich, dass es ein gutes Ende nahm!

    Ich hoffe du kannst deine Liebe jetzt freier ausleben!

    Ganz liebe Grüsse
    Nathalie

  4. Marc sagt:

    Ich habe nur einen sehr selektiven Eindruck von Südkorea via Starcraft (2) und Gayo, was dabei mit kam. Ich hatte aus all dem den Eindruck mitgenommen, dass Femininitäten viel positiver bewertet wären als in Deutschland. Es deprimiert mich enorm zu sehen, dass das an den Stereotypen über männliche Homosexualität nichts ändert oder es sogar schlimmer macht.
    Umso mehr: Herzlichen Glückwunsch! und vielen Dank fürs Teilen <3

    • Rainer sagt:

      Mir ging es ähnlich. Bei so einigen K-Pop Nummern, wenn z.B. Super Junior Lieder von Girl’s Generation covern und entweder sehr feminin oder sogar als Frauen verkleidet auftreten. Oder auch Ren von Nu’est wirkt doch sehr feminin. Ist das nur der westliche Eindruck, der hier täuscht? Oder ist es in der Pop-Kultur dann doch wieder anders?

      • Chirim Ohm sagt:

        Genau das meinte ich, dass die Homosexualität (in diesem Fall Geschlechterrolle oder Cross-dressing) zwar in den Medien konsumiert wird, aber nicht zum Alltag gehört. In der Tat spüre ich in Südkorea weniger den Druck, dass man stets seine Maskulinität zur Schau stellen muss wie in den europäischen Länder oder in den U.S.A.. Aber das führt nicht dazu, dass die Homosexualität oder das Spiel mit der Genderrolle im Alltag mehr Toleranz findet als in Deutschland.

    • Chirim Ohm sagt:

      Es ist schwierig, südkoreanische Kultur verständlich darzulegen. Ein Aspekt ist jedoch, dass solche Teenie Stars von bestimmter Bevölkerungsgruppe beliebt sind und/aber sich selten feminin – „tuntig“ – verhalten. Manche Jungs küssen sich sogar vor der laufenden Kamera, denn das trifft die Nerven von dieser Gruppe und verkauft sich gut. Einige Fans von solchen Sängern behaupten, dass sie die Schwulen lieben. Aber da fühle ich mich als Schwuler wiederum missverstanden und zu einem Objekt gemacht worden zu sein, als menschlich und politisch unterstützt zu sein.

  5. Ich hab Pipi in den Augen, danke, dass du das teilst.

  6. @callingvienna sagt:

    Deine Geschichte hat mich sehr bewegt! Ich wünsche dir viel Glück mit deinen Eltern.

  7. Katharina sagt:

    Sehr toller Text. Sehr sehr gut geschrieben und berührende Geschichte.
    Ich bin irgendwie total darin versunken und hab bis zum Ende mitgefiebert!
    Grandios!

  8. Dominik Weis sagt:

    Danke für diesen großartigen Gastartikel! (@kleinerdrei: Mehr davon!)
    <3

  9. Samya sagt:

    So zeigt sich wahre Stärke und wahrer Mut! Ich bin beeindruckt von dem, was du geschafft hast! Ich bin sicher, dass du ein gutes Beispiel für viele andere Südkoreaner bist, auch wenn es wohl noch dauern wird, bis sich vielleicht mehr outen möchten.

    • Chirim Ohm sagt:

      In meinem Freundeskreis gibt es noch einige, die sich bei ihren Eltern geoutet haben und viele sind ähnliche Geschichte wie ich durchgegangen. Vielleicht nicht in unserer Generation, aber bestimmt in der kommenden Generation wird man als Homosexuelle kein Problem mehr haben. Ich hoffe es so sehr!

  10. Laura sagt:

    wow. SEHR beeindruckend und ganz toll geschrieben. habe sehr viel nach-gedacht und nach-gefühlt. vielen dank für diesen einblick, it is much appreciated!

  11. Michaela sagt:

    Vielen Dank, dass du uns durch diesen wunderbaren, persönlichen Artikel an deinem Leben teilhaben lässt!

    Ich bin ganz gerührt, und es kam mir vor, als hätte ich mit dir im Wohnzimmer gesessen, als du mit deinen Eltern gesprochen hast. Als ich gelesen habe, wie deine Mutter gesagt hat, dass du trotzdem ihr Sohn bleibst, kamen mir die Tränen.

    Dein Artikel hat mir geholfen, die südkoreanische Mentalität etwas besser zu verstehen. Das hilft mir deshalb, weil ich gerade einen Konflikt mit einer südkoreanischen Freundin habe, mit der ich seit über 20 Jahren befreundet bin, und deren Verhalten ich nicht verstehe.
    <3

  12. Sina sagt:

    Wow, mir sind die Tränen gekommen.
    Ein wirklich bewegender Text. Ich bin froh, dass es dann für Dich letztendlich zum Guten ausgegangen ist.
    Väter sind, meiner Erfahrung nach, eher diejenigen, die mit solchen Dingen weniger umgehen können..