Facebook erfindet die Kommentare neu

Foto , CC BY 2.0 , by http://www.flickr.com/photos/birgerking/5600215736/

Stellt euch vor, ihr seid Bäcker. Ihr wollt euch gerade wie jeden Morgen frisch ans Werk machen, die besten Brote der Stadt zu backen, als ihr bemerkt, dass irgendjemand euren Ofen umgebaut, euer Mehl umgestellt und die Hefe mit dem Backpulver vertauscht hat. Außerdem hält euch euer Kollege für nicht ganz dicht, weil in der Backstube, die ER erlebt, alles beim Alten ist. Eure Kunden wiederum beschuldigen euch, irgendwas ins Brot zu mischen, denn es sieht ganz anders aus als früher.

Relevanz statt Tageszeit

So kommen sich neuerdings Community-Manager und Social Media-Redakteure vor, die Facebook-Seiten von über 10.000 Fans betreuen, womit ich euch herzlich in meiner Welt begrüßen möchte. Anlass meiner schiefen, aber schmackhaften Metapher: Neuerdings zeigt Facebook nach und nach auf Seiten der oben beschriebenen Art Kommentare unter Postings nicht mehr in chronologischer Reihenfolge an, sondern nach Relevanz gewichtet.

Relevanz bedeutet für Facebook laut diesem erklärenden Kommentar eine Mischung aus „Wie viel Reaktionen hat dieser Kommentar verursacht?“ und  „Wie nahe stehe ich dem, der diesen Kommentar abgegeben hat?“. Genau jetzt wird die Sache kompliziert, denn der Faktor „soziale Nähe“ führt dazu, dass jeder Nutzer einen anderen Kommentarstrang sieht. Das sorgt spätestens dann für Verwirrung, wenn Kommentatoren ihre Kommentare nicht mehr finden und die Administratoren einer Seite beschuldigen, ohne Not Kommentare zu löschen.

Kommunikationsbedürfnis: Stänkern

Was Facebook laut eigener Aussage versucht, ist mit seinem neuen Algorithmus die Kommentare unter Postings für Leser und Kommentierende zu einem befriedigenderen Erlebnis zu machen, als es bisher ist. Das ist eine hehre Absicht, mit der Facebook nicht alleine steht. Spätestens seit Markus Beckedahls Blogpost über seinen Verdruss mit der Kommentarkultur auf netzpolitik.org ist klar, dass sich auch im deutschsprachigen Internet Menschen Gedanken darüber machen, wie auf zeitökomisch vertretbare Art Kommentare entstehen, die mehr bieten als Vorurteile, Provokationen und Meinungen, die gänzlich ohne die Stütze von Informationen – auch ohne die des kommentar- anlassgebenenden Postings- auskommen.

 Ein Problem der Kommentare liegt in der Sache selbst: Wer online kommentiert, macht das meist, um sich negativ zu äußern. Das zumindest legt das Ergebnis einer Studie der Universität Warschau aus dem Jahr 2010 nah, die 2,5 Millionen Posts von 18.000 Nutzern im Forum der BBC analysierte: „Automatic sentiment analysis shows that most posts contain negative emotions and the most active users in individual threads express predominantly negative sentiments.“

Es scheint eine weitaus höhere Bereitschaft zu herrschen, bei ablehnender Meinung, über den Inhalt eines Postings oder eines Artikels angeht, zu kommentieren, als bei zustimmender. Allerdings könnten die Schlachten zwischen Weltsichten, zu denen Kommentarspalten schnell werden, auch aus den Effekten stammen, die negative Kommentare nach sich ziehen. Das legt eine Studie von Dominique Brossard und Dietram A. Scheufele von der Universität Wisconsin, Madison nah, die sie im Januar 2013 für die New York Times zu einem Gastbeitrag zusammenfassten.

Sie fanden am Beispiel eines Blogposts über Nanotechnologie heraus, dass negative Kommentare eine bereits bestehende Meinung von Lesern verstärken oder bei Unentschlossenen ins Negative steuern. Die Forscher vermuten, dass gerade starke Negativität zu einem starken Gegeneffekt führt, weil in der Onlinekommunikation eine durch Gelesenes ausgelöste Emotion stärker eine Handlung veranlasst, als rationales Nachdenken.

Das könnte zu einem Teufelskreis führen: Nur wer einem Inhalt negativ gegenüber steht, kommentiert ihn, woraufhin sich wiederum die, die das ablehnen, äußern. Gestritten wird mit viel Emotion, aber wenig Argument, weil diejenigen, die sachlich mitreden wollen ein Schlachtfeld vorfinden, mit dem sie sich in der Öffentlichkeit nicht assoziieren wollen* oder sich durch einen Wust toxischer Negativität wühlen müssen, um selbst das Wort zu ergreifen.

Wunsch und Wirklichkeit ziviler Kommentarkultur

Genau an dieser Stelle scheint Facebook mit seiner neuen Kommentarordnung ansetzen zu wollen:  Um Nutzern zu ersparen, sich durch Dutzende negative Kommentare scrollen zu müssen, bevor sie selbst kommentieren können,  was aufgrund der schieren Anzahl von Kommentaren und vermutlicher Redundanz dem schwindenden Interesse an bereits Geschriebenen zuträgt, sollen von Anfang an die Kommentare oben stehen, die es wert sind, gelesen zu werden. Messen will Facebook das mit der Magic Sauce, die auch schon den Edge Rank baut. Das ist der Algorithmus, der bestimmt, was ein Nutzer in seiner Facebook-Timeline sieht.

Wer was sieht, wird bestimmt dadurch, mit wem er verknüpft ist und welche Kommentare von anderen geliked oder kommentiert wurden.

Das ist auf die Kommentare bezogen aus zwei Gründen problematisch – auch unabhängig von der Tatsache, dass es die Moderation von Threads und damit einen Teil meines Jobs erschwert. Erstens baut die Annahme, dass dieser Algorithmus sachliche Kommentare, bei deren Lesen niemanden schlecht wird, nach oben spült auf einer sehr idealistischen Annahme auf, die den oben genannten Studienergebnissen widerspricht: Es wird eben nicht auf das geantwortet, was zurechnungsfähig ist. Wir füttern die Trolle, jeden Tag. Oder die Trolle füttern sich gegenseitig, indem sie sich Likes und Sternchen verteilen. Ein Kommentar, der provoziert, zieht Likes von anderen nach sich, die genauso provokativ und negativ auftreten wollen. Dazu kommen Kommentare, die widersprechen oder bestätigen, und zwar impulsiv und  emotional, da dies das Verhalten ist, das negative Kommentare triggern. Das gibt zwar einem Ping-Pong von Kommentaren mehr Raum als zuvor, aber es sind mutmaßlich Diskussionen der krawalligen Sorte, die dem Internet und dem Social Web im Speziellen einen Anstrich von boshafter Uninformiertheit geben.

Keine Autonomie

Für die, die von Facebooks Neuerungen bereits betroffen sind und nicht mitmachen wollen, besteht keine Möglichkeit, sich dagegen zu entscheiden, es sei denn, sie entscheiden sich gegen Facebook in Gänze. Das ist das zweite Problem am neuen Kommentarsystem: Es nimmt Nutzern die Möglichkeit, einen Kommentarstrang nach eigenem Gutdünken zu gestalten oder auch nur mit einem Klick die Justierung der Anordnung zu ändern. Was genau hinter der Anordnung der Kommentare steckt, bleibt intransparent.  Zugespitzt ausgedrückt: Facebook glaubt, besser zu wissen, was Nutzer interessiert, als die Nutzer selbst.

Dennoch: Was genau die neue Art der Kommentar-Anordnung mit Facebook-Diskussionen macht, ist noch nicht abzusehen und deswegen sollte der Neuerung Zeit gegeben werden, Wirkung zu entfalten. Vielleicht profitieren Kommentarstränge von der schnelleren Verästelung von Konversationen. Wenn sie es nicht tun, sollte Facebook aber auch offen sein, seinen großartigen Plan zur Rettung der Kommentarkultur im Internet zu revidieren.

Muss uns das eigentlich alles interessieren? Immerhin sagt eine Studie des Pew Institute, dass ein Drittel der US-Nutzer von Facebook weniger Zeit im Netzwerk verbringt als noch vor einem Jahr. Mag sein. Nachgewiesen ist aber auch: Facebook nimmt im täglichen Online-Menü eines US-Nutzers 12 Minuten ein, eine Nachrichtenwebsite hingegen eine Minute.  Die Zeit, das Social Network als Ort der Informationsvermittlung abzuschreiben, ist lange nicht gekommen.

 

 *Die Rolle von Öffentlichkeit in der Online-Kommunikation und ihre mutmaßliche Rückwirkung auf Äußerungen im Netz möchte ich andernorts ausführlicher diskutieren)

Außerdem diskutiere ich hier Kommentare in Blogs und Social Networks unter gleichen Gesichtspunkten, obwohl klar ist, dass Unterschiede z.B. hinsichtlich der sozialen Eingebundenheit von Kommentatoren im Social Web bestehen. Diese Unterschiede vernachlässige ich an dieser Stelle.

 

13 Antworten zu “Facebook erfindet die Kommentare neu”

  1. Christian O. sagt:

    Ich brech hier mal den Fluch der negativen Kommentare ein Stück weit und schreibe:
    Ein toller Artikel, hat mir gut gefallen! :)

  2. Robin Urban sagt:

    Bei dem Screenshot ist ein Name nicht richtig geschwärzt. Soll das so?

    Es ist eigentlich logisch, dass negative Kommentare zahlreicher sind als positive. Das ist ja auch im echten Leben so: Probiert man ein neues Restaurant aus und findet es scheiße, erzählt man davon doppelt und dreifach so vielen Leuten wie im umgekehrten Fall.

    Dennoch kann diese Maßnahme ja wohl nicht die Lösung sein. Das ist intransparent, unnötig kompliziert und bevormundend, zudem leidet wie du schon sagst extrem die Vergleichbarkeit. Ich kann nicht mehr sagen „Boah, hast du das auf Facebook gesehen, das Kommentar ging ja wohl gar nicht!“ wenn dem Freund, mit dem ich mich unterhalte, mitunter was ganz anderes angezeigt wird.

    Mir wäre es lieber, alle Kommentare würden weiterhin chronologisch angezeigt, doch es gäbe die Möglichkeit mit einem Klick zu sehen, ob Freunde von mir ebenfalls kommentiert haben und mit einem weiteren Klick die Sortierung absteigend nach Likes zu ändern. Die meist gelikten Kommentare sind nämlich selbst unter unsäglichen Meldungen oft sogar die einzigen Stimmen der Vernunft in den vielen hundert Kommentaren.

    Ich verstehe nicht, wo das Problem dabei ist, sowas einzuführen. Mir jedenfalls würde das wesentlich besser gefallen.

    • julianeleopold sagt:

      Nee, sollte nicht. Ist geändert, Danke für den Hinweis. Dein Modell der Anzeige von Kommentaren kann ich mir gut vorstellen. Ein Klick, und ich habe die Kommentare gewichtet, ein Klick und ich sehe sie nach Uhrzeit.

    • spicollidriver sagt:

      „Probiert man ein neues Restaurant aus und findet es scheiße, erzählt man
      davon doppelt und dreifach so vielen Leuten wie im umgekehrten Fall.“

      Kann ich für mich persönlich so nicht unterschreiben. Wenn ich von einem Restaurant begeistert bin, empfehle ich es selbstverständlich weiter. Allein schon aus dem egoistischen Grund, daß dann die Wahrscheinlichkeit steigt, daß mir selbst das Etablissement noch länger erhalten bleibt.

  3. Chräcker Heller sagt:

    Das Ding beim Bäcker oben ist: es ist eben nicht sein Ofen und seine Bäckerrei. Es sind die Räume und Werkzeuge von Facebook. Was es freilich nicht schöner macht, klar! Ansonsten finde ich jeden unbekannten und die Ausgabe variierenden Algoritmus eher störend. Schon alleine, daß ich nicht mehr alle Nachrichten meiner Freunde „einfach so“ in meine Timeline bekomme, stört mich. Wenn jetzt auch noch Kommentare wandern, und daß ja auch während einer „Unterhaltungsspanne“…KANN ich mir einfach nicht vorstellen, daß dies gut wird.

  4. Samya sagt:

    Och nö. Ist mir noch nicht aufgefallen, finde ich doof.
    Ich habe allerdings auch schon festgestellt, dass ich weniger kommentiere, wenn ich derselben Meinung bin (es sei denn, der Artikel ist hervorragend geschrieben und trifft meine Meinung exakt auf den Punkt).

  5. bosch sagt:

    Schreibt Ihr

  6. bosch sagt:

    … schreibt Ihr und verwendet statt der nativen Kommentarfunktion von WordPress ein externes Ding namens Disqus, in dem man ja auch Kommentare bewerten und – sofern vom Blogbetreiber gewünscht – gewichten kann.

    Um das Chaos bei FB komplett zu machen: Seit Einführung der neuen Kommentarfunktion kann man auf Kommentare direkt Antworten (ohne Namensnennung dessen, auf den man sich bezieht usw.). In der Mobilansicht allerdings werden die Kommentare unabhängig vom Bezug chronologisch dargestellt. Ein scheußliches Durcheinander!

    • julianeleopold sagt:

      Das stimmt, die Gewichtung findet hier auch statt. Ich glaube, das kann funktionieren, solange die Community klein ist. Die Einheitlichkeit und Nicht-Trolligkeit des Up- und Downvotens skaliert aber meines Erachtens nach nicht. Wächst eine Community, wird sie heterogen in Werten und Erfahrungswelt. Zu heterogen, um ein Voting, dass für alle halbwegs funktioniert, zu stützen. Facebook hat jetzt natürlich Gelegenheit, das Gegenteil zu beweisen. Ansonsten stimme ich dir bezüglich des Chaos der Ansichten mobil und im Desktop voll zu.

    • spicollidriver sagt:

      Disqus läßt den Nutzer aber selbst entscheiden, ob dieser die Kommentare nach den meisten upvotes oder danach, welches die neuesten/ältesten sind, sortieren lassen möchte.

  7. Was mir noch immer nicht klar wird bei dieser Sache ist die Frage nach der genauen Anordnung. Wenn ich einen Beitrag sehe, sehe ich darunter ja immer nur die letzten Kommentare bisher und darüber steht „Vorherige Kommentare anzeigen“ Sind dann in Zukunft also da die „beliebtesten“ zwei, drei Kommentare? und wie finde ich dann überhaupt die anderen. Kann mir einen link zu einem solchen Beitrag schicken? Ich erhlte auch immer häufiger Fragen per Mails, wieso ich Kommentare gelöscht hätte …

    • julianeleopold sagt:

      Schau dir mal facebook.com/zeitonline an, da findest du die Kommentare so neu angeordnet an, wie im Post beschrieben. Allerdings nur in der Desktop-Ansicht. Du siehst in der neuen Welt die Kommentare, die die meisten Replies verursacht haben sowie die Kommentare von Leuten, denen du auf FB „nah“ stehst, weiter oben als andere Kommentare.

  8. spicollidriver sagt:

    Diese Neuerung der Facebook Kommentare hat mich die letzten Tage bereits schwer genervt. Eben, weil ich tatsächlich zu den Deppen :p gehöre, die auch (bzw. sogar gerade) bei vielen Kommentaren gerne die letzten zwanzig, dreißig Stück lese um zu sehen in welche Richtung die Diskussion gegangen ist.