Lügen fressen Kraft oder Warum Polyamorie Ehrlichkeit in Beziehungen erleichtert

Foto , CC BY 2.0 , by JD Hancock

Dies ist ein Beitrag aus unserer Rubrik kleinergast, in der wir alle Gastartikel veröffentlichen. Dieses Mal kommt er von Inna.

Inna ist 26 Jahre alt und wohnt derzeit in Berlin. Theoretisch ist sie Studentin, versucht sich als Philosophin und scheitert mal mehr, mal weniger an hochschul-akademischem-Gelaber. Sie liebt Trailer, Würstchen, Quallen und ihren queer-feministischen Lesekreis. Mit viel Leidenschaft gibt sie Workshops zum Thema Eifersucht und erkundet in der restlichen Zeit ihr Jüdischsein und bloggt über Polyamorie auf polyplom.wordpress.com. Auf kleinerdrei ist von ihr bereits ein Gastbeitrag erschienen zum Thema Polyamorie und Outing.

Wer gut lügen will, braucht zwei wesentliche Qualitäten. Zum einen sollte der eigene Körper schon eher eure*r Verbündete*r sein. Es ist nicht von Vorteil, wenn er plötzlich anfängt rot zu werden, wild zu transpirieren oder nervös von einem Fuß auf den anderen zu hüpfen. Zum anderen solltet ihr euch echt gut an Dinge erinnern können. Das fiese an Lügen ist, dass man jeder Zeit und auch noch nach fünf oder zehn Jahren bereit sein muss an die allererste Lüge wieder anzuknüpfen. Das macht Lügen auch so unfassbar komplex und anstrengend. Sie sind vielschichtige Konstruktionen, die sich auf Vertrauen, Verantwortung und Macht in Beziehungen auswirken.

Leider bin ich alles andere als geschickt, was das Erinnern betrifft. Ich vergesse zu schnell und denke, dass das Gesagte im Moment bleibt. Es ist besonders schwer sich an Dinge zu erinnern, die gar nicht stimmen. Als ich zum Beispiel das erste Mal meine sehr monogame Beziehung für andere Menschen geöffnet habe, war ich meiner Beziehungsperson gegenüber unehrlich. Ich hatte jemanden kennengelernt und wollte mich komplett darin verlieren. Ich habe Absprachen nicht eingehalten, verschleiert, wie häufig ich wirklich mit der Person schreibe, wie sehr ich mich für sie interessiere und mich schließlich in Lügen verstrickt.

Nur war ich leider alles andere als gut darin die Lüge auch zu spielen, sie zu performen und mich noch dazu an all das zu erinnern, was ich so von mir gegeben hatte. Ihr könnt euch also vorstellen, dass früher oder später das Gerüst in sich zusammen fiel. Meine Beziehungsperson war alles andere als entzückt. Sie war verletzt, enttäuscht und ihr Vertrauen mir gegenüber war leider auch am Boden. Wir haben uns daraufhin für kurze Zeit getrennt, sind schließlich doch wieder zusammen gekommen und bis heute in einer Beziehung. Was ich damals für mich beschlossen habe, gewissermaßen ein Versprechen an mich selbst, war die Verbindlichkeit zur Wahrheit.

Anders als über die Wahrheit, hätten wir beide nicht wieder zueinander gefunden. Die Lügen haben mich von ihr entfernt und distanziert, weil ich ständig Angst hatte, mich selbst zu verraten. Ich war immer auf der Hut, das war furchtbar anstrengend. Nachdem wir wieder beschlossen hatten eine Beziehung zu führen, empfand ich es als meine Aufgabe zu beweisen, dass ich vertrauenswürdig bin. Und das war auch total anstrengend, weil meine Beziehungsperson sehr viel Misstrauen in mich hatte. Ich verbrachte total viel Zeit damit darüber nachzudenken, ob ich wirklich jemanden “nur” für Erfahrungen auf der physischen Ebene treffen möchte oder doch mehr emotionale Nähe suche. Ich musste mir auch eingestehen, dass ich mich verletzt und vernachlässigt gefühlt hatte und deswegen die Nähe zu einer anderen Person suchte, anstatt diese Gefühle klar zu benennen.

Ich wollte es mir irgendwie einfach machen, in eine neue Romanze flüchten und die Beziehungsarbeit hinter mir lassen.
Ich war häufig ratlos und unsicher, weil Ehrlichkeit anderen gegenüber bedeutet, dass ich in erster Linie ehrlich zu mir sein muss und das ist alles andere als einfach.

Aber was ist schon Wahrheit bzw. eine Lüge? Und was ist eine Lüge in einer Liebesbeziehung zu einem anderen Menschen? Zum Beispiel ist es keine Lüge, wenn eine Person nicht weiß, was sie will. Wie sollte das auch eine Lüge sein? Wenn ich nicht weiß, dass ich meine Meinung ändern werde, dann hat es nichts damit zu tun, dass ich nicht ehrlich bin. Wenn ich mich nicht absichtlich dafür entscheide etwas zu verschleiern, dann kann es keine Lüge sein, weil es nichts gibt, was ich verschleiern kann. Das hat mich allerdings nicht davor bewahrt solche Situationen als Lügen zu empfinden, wenn ich das Gegenüber der Person war, die ihre Meinung geändert hat. Häufig hatte ich dann das Gefühl, dass Menschen nicht ehrlich zu sich selbst sind und dementsprechend gar nicht ehrlich zu mir sein können. Aber es muss nichts mit Lüge oder Wahrheit zu tun haben, wenn Menschen nicht wissen was sie wollen.

Kann eine Lüge berechtigt sein?

Ich glaube: um eine Lüge zu beurteilen, ist es in erster Linie wichtig zu erkennen, dass es einen Unterschied macht, wem gegenüber man lügt. Wenn ich auf einer Party eine lose Bekannte wieder treffe und sie mir eine Frage stellt, die ich total unangebracht und viel zu intim finde, dann ist eine Lüge vielleicht das richtige Mittel der Wahl, um aufzuzeigen, dass ich mich von der Person distanzieren will oder die Privatsphäre anderer schützen möchte. Ich kann mit ihr eine Grenze ziehen zwischen meiner Privatsphäre und den übergriffigen Fragen der anderen Person. Genauso ist es mein gutes Recht und vollkommen legitim, wenn ich z.B. ausgehe und so lange von einem mir fremden Cis-Typen belagert werde, bis ich ihm eine falsche Handynummer gebe und er mich daraufhin in Ruhe lässt.

Eine Lüge kann genauso gut ein Signal in intimen zwischenmenschlichen Bindungen sein. Sie kann zeigen, dass man sich voneinander distanziert hat, der anderen Person nicht mehr vertraut oder sie vielleicht nicht mehr nah an sich heranlassen will. Und eben dieses Vertrauen ist für so viele Beziehungen wichtig. Es ist meiner Meinung nach die Grundlage für Intimität und Nähe.

Hier kommt es zu einer Art Teufelskreis, denn die Lüge, die schon für verlorengegangenes Vertrauen stehen kann, kann das Vertrauen noch mehr in Frage stellen. Klar, so lange die Lüge als Lüge nicht entlarvt wird, weiß nur die Person die gelogen hat, dass sie nicht die Wahrheit gesagt hat. Aber auch wenn sich die Lüge “nur” auf den*die Lügner*in auswirkt, hat das Folgen. Ich kann unter Umständen anfangen meine eigenen Aussagen und Bedürfnisse in Frage zu stellen, mir selbst nicht mehr zu vertrauen und vielleicht sogar meinen Beziehungspersonen zu misstrauen. Denn wenn ich selbst lüge, tun es vielleicht auch die anderen?

In meinem Fall hat das dazu geführt, dass ich tatsächlich misstrauisch geworden bin. Ich habe angefangen die Intentionen meiner Beziehungsperson zu hinterfragen und anzuzweifeln, ob sie wirklich weiß, was sie will. Vielleicht steckt mehr dahinter? Vielleicht verheimlicht sie mir auch etwas? Verstärkt durch meine ohnehin vorhandenen Depressionen und Angststörungen empfinde ich seitdem ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber meinen Beziehungspersonen. Das hat nichts damit zu tun, dass ich ihnen nicht vertraue, ich bin aus der oben genannten Erfahrung einfach zweifelnd raus gegangen. Wenn ich selbst in der Lage bin so ein Gerüst an Lügen aufzubauen, dann können das andere Menschen auch.

Gute Absicht, böse Folge

Es gibt sicherlich Lügen, die nur an und für sich stehen bleiben. Ich brauche keine zweite, dritte Lüge, um die erste Aufrecht zu erhalten. Doch die meisten Lügen sind, wie schon erwähnt, viel komplizierter, sie sind ganze Gerüste. Es bedarf sehr viel Energie, die in Lügen investiert werden muss. Energie, die genau so gut in schöne, kreative und bereichernde Dinge investiert werden könnte.

Ob die Intentionen hinter einer Lüge in erster Linie gut sind, wie etwa das Bedürfnis jemanden schützen zu wollen oder aus Angst anders wahrgenommen zu werden, wenn die Wahrheit ans Licht kommt, das spielt unter Umständen leider keine Rolle, denn aus einer Macht-Hierarchie-Perspektive steht der*die Lügner*in immer über der Person die belogen wird. Lügen verleihen die Macht, den Ausgang von Situationen oder Entscheidungen zu beeinflussen.

Wenn ich auf einem Date gefragt werde, ob ich in einer Beziehung bin und ich verneine – in der Absicht, dass die andere Person mich unabhängig von meinem polyamoren Beziehungsstatus toll findet – dann ist das der anderen Person gegenüber unter Umständen nicht fair. Manche Menschen wollen nicht polyamor leben und auch keine polyamoren Menschen daten. Das sollte jeder Person selbst überlassen werden. Davon abgesehen fände ich es respektlos meine Beziehungen zu verleugnen. In dieser Situation finde ich es fair, dass die andere Person auf ihre Frage hin die Wahrheit erfährt. Ich will nicht manipulativ handeln und den Ausgang von einer Situation so beeinflussen, dass er meinen Wünschen und Bedürfnissen entspricht.

Polyamore Beziehungen sind in der Hinsicht für mich besonders. Ich habe noch nie so viel, so ehrlich und so offen über meine Bedürfnisse geredet wie in meinen polyamoren Beziehungen.

Klar, nicht alles was ich will, kann ich sofort umsetzen. Manchmal muss ich meine Bedürfnisse an die Situation anpassen oder mich ein bisschen gedulden, weil nicht alles immer sofort umgesetzt werden kann. Aber unvoreingenommen die Wahrheit zu sagen, das fällt mir in polyamoren Beziehungen einfach leichter. Ich weiß, dass es auch viele Menschen in monogamen Beziehungen gibt, die sehr ehrlich miteinander sind, das will ich nicht verleugnen oder aberkennen.

Ich weiß nur, dass polyamore Beziehungen weniger Druck bedeuten für mich, weil sie zu keinem Zeitpunkt die Erwartungshaltung aufstellen, für immer ausschließlich nur eine Person auf der Welt zu begehren. Die Wahrheit zu sagen fällt dann leichter, weil es nicht gleich mit der Vorstellung von “der einen wahren Liebe” bricht.

Lügen und Machtgefälle

Ein Gespräch auf Augenhöhe zu führen bedeutet, dass nicht eine Person Kontrolle über den Ausgang des Gesprächs übernimmt, sondern alle Beteiligten. Mich fuchst es am meisten, wenn Menschen denken zu wissen, wie ich reagieren werde und mich deswegen in Schutz nehmen wollen oder mir mit einer Lüge meine Reaktion vorweg nehmen wollen. Ich kann dann gar nichts mehr machen, ich bin total ohnmächtig. Das macht mich wütend. Ich will selbst darüber entscheiden können, ob ich es etwas schlecht, gut, verletzend, erfreulich oder betrübend finde.

Ich erlebe das Schlimme am Belogen werden darin, dass ich meiner Reaktion beraubt werde. Da geht es für mich weniger um die Lüge selbst und ihren Kontext, als einfach um die Tatsache, dass mir eine Reaktion unterstellt wurde, die ich noch nicht einmal vollziehen konnte. Ich durfte ja gar nicht reagieren – nur in der Vorstellung der anderen Person. Deswegen ist es für mich meistens so, dass die Tatsache, auf Grund derer ich belogen wurde, nur halb so schlimm ist wie die Lüge an sich. Aber die Lüge lässt die Tatsache gleich doppelt so groß erscheinen. Sie macht aus ihr ein Riesending, was es gar nicht sein müsste.

Ich glaube nicht daran, dass Lügen an und für sich gesehen immer schlecht sind, aber ich bin der Meinung, dass sie in einen sozialen und vielleicht noch dazu intimen zwischenmenschlichen Kontext eingebettet, fast immer zu mehr Schaden führen als zu positiven Auswirkungen. Ich will auch nicht die Moralkeule schwingen und alle Menschen verurteilen, die sich für eine Lüge entscheiden, mir ist es nur wichtig die Konsequenzen aufzuzeigen, um die Auswirkungen von Lügen offen zu legen.

Denn meistens ist es so, dass man sich aus dem Affekt, der Angst oder der Überforderung heraus für eine Lüge entscheidet.

Der Moment bleibt aber nicht in sich abgeschlossen, die Geschichte geht ja weiter. Und da fängt das ganze mögliche Chaos an.

Natürlich wirken alle Lügen unterschiedlich und nicht alle wirken sich auf Beziehungen so aus, wie in meinem Fall. Ich habe für mich allerdings gemerkt, dass Ehrlichkeit die Grundlage für eine polyamore Beziehung ist. Ich muss gewissermaßen ehrlich sein, um in erster Linie das zu bekommen, was ich wirklich möchte und natürlich, um auch kommunizieren zu können, wenn sich etwas nicht gut anfühlt. In polyamoren Konstellationen können immer wieder neue Herausforderungen und Probleme auftreten, das ist keine Seltenheit. Wenn viele Menschen miteinander versuchen Beziehungen und Leben zu teilen, dann ist das kompliziert. Ohne Vertrauen und Ehrlichkeit würde das schnell in sich zusammenfallen.

Die Wahrheit ist ein Geschenk

Das bedeutet für mich nicht, dass ich immer in der Lage bin die Wahrheit zu sagen. Insbesondere, weil ich nie gelernt habe, dass die Wahrheit zu sagen was positives ist. Als Kind wurde ich eher bestraft, wenn ich gestand, dass ich die Vase zerbrochen oder heimlich geraucht habe. Da hat sich niemand wie ein Honigkuchenpferd über die Wahrheit gefreut. Ich kann mich auch an keine Situation in meinem Leben erinnern, in der mir jemand gesagt hat, dass er*sie mein Geburtstagsgeschenk unpraktisch, unbrauchbar oder einfach nur hässlich fand. Und so geht das immer weiter.

Wahrheit wird im Gegensatz zu einer Notlüge, einer Lüge aus Höflichkeit oder eben aus Schutz weniger wertgeschätzt. Wie sollen wir dann lernen die Wahrheit zu sagen?

Ich glaube, da gibt es zwei Perspektiven. Zum einen von der Person, die die Wahrheit sagt und zum anderen von der Person, die die Wahrheit erfährt. Die Wahrheit zu sagen ist alles andere als einfach – zumindest für die meistens Menschen, mich eingeschlossen – denn es schwingt häufig die Angst mit, die andere Person zu verletzen. Und das ist nicht unwahrscheinlich. Gleichzeitig zollt es von jeder Menge Respekt, Liebe und Vertrauen in die andere Person, dass man sich gegenseitig die Wahrheit sagen kann und darauf vertraut, dass der andere Mensch nicht gleich wegrennt.

Die Wahrheit zu erfahren hat in meinen Augen zwei Dimensionen. Zum einen der ernüchternde Moment in dem man etwas hört, was man vielleicht nicht hören will und zum anderen der Moment, in dem man die Perspektive wechselt und realisiert, dass es die andere Person ganz schön viel Überwindung gekostet haben muss das zu sagen. Beides ist total wichtig. Die Wahrheit schätzen zu lernen ist nicht einfach, gebe ich zu. Am liebsten will ich vielleicht wütend sein, rot anlaufen, wilde Anschuldigungen im Raum verteilen. Kann ich auch alles machen, alle meine Gefühle haben ihre Daseinsberechtigung und doch will ich der anderen Person auch mit Dankbarkeit begegnen – zumindest so gut ich kann ;)

Eine letzte wichtige Sache ist der Kontext, die Situation in der das Gespräch geführt wird. Wenn man sich zum Beispiel dafür entscheidet die Lüge als Lüge aufzudecken, dann wird es häufig kein schönes Gespräch. Wer freut sich schon darüber angelogen worden zu sein? Ich mag am liebsten Orte, die ruhig sind und Momente, wenn ich und die andere(n) Person(en) genügend Zeit mitbringen. Ich treffe mich auch nicht gerne zu Hause für solche Gespräche, denn dann bleibt die Atmosphäre und das möglicherweise schlechte Gefühl in den eigenen vier Wänden.

Auch wenn es kein einfaches Gespräch ist, bin ich der Meinung, dass es besser ist überhaupt die Wahrheit gesagt zu haben, als sie für immer zu verbergen. Was für manche Menschen als einfach und selbstverständlich erscheinen mag, ist für andere eine schwere Herausforderung.

Und genau das macht die Wahrheit nicht weniger kompliziert, vielschichtig und anstrengend als die Lüge.

2 Antworten zu “Lügen fressen Kraft oder Warum Polyamorie Ehrlichkeit in Beziehungen erleichtert”

  1. Christoph Fink Fotografie sagt:

    Ich habe Deinen Artikel gerne gelesen. Gleichzeitig empfehle ich, sich bei der Wahrheit an das Bewusstseinskontinuum zu halten.Das heisst Sinne, Empfindungen (Emotionen) und Gedanken. Das alles nehme ich „jetzt“ wahr und darüber kann ich berichten. Die Wahrheit ist einfach und simpel.

  2. sebasthoh sagt:

    Schöne Gedanken. Auch wegen der ambivalenzen und kleineren widersprüchligkeiten.