Ein Lob auf die Filterblase

Foto , by Juliane Leopold

Ende 2015 begann ich, alle Freundschaftsanfragen, die mich auf Facebook erreichen, anzunehmen. Hintergrund war nicht Masochismus, obwohl der sich für die folgende Zeit hätte nützlich erweisen können, sondern Neugier. Ich wollte herausfinden, was passiert, wenn ich die vielgescholtene Filterblase verlasse, also Personen in meinen Facebook-Feed auftauchen lasse, die ich nicht vorher sorgfältig ausgewählt habe, z.B. hinsichtlich der Frage, ob wir auf der gleichen gesellschaftspolitischen Welle liegen. Mir ist bewusst, dass dies vielleicht nicht ist, wovon manche Leute sprechen, wenn sie zum Verlassen der Filterblase aufrufen, aber für mich was es die Art, wie ich dieses Experiment in einem ersten Versuchsaufbau angehen wollte. Ich wollte herausfinden, ob der Horizont wirklich weiter wird, wenn die Facebook-Freundschaftstür aufgeht.

Eineinhalb Jahre später ist das einzige, das durch meine ungefilterte Annahme aller Freundschaftsanfragen größer geworden ist, mein überquellendes Nachrichtenpostfach mit Einsendungen, die ich systematischen Kategorien zuordnen kann:

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Was passiert, wenn eine weiße, heterosexuelle Cis-Frau ihr Facebook-Postfach für alle Einsendungen öffnet, will ich heute mit euch teilen. In erster Linie, damit ihr es nicht selbst machen müsst. Denn glaubt mir, es war zwar manchmal unterhaltsam, aber meistens nur im Sinne des letzten Ordners meiner Kategorien, WTF (“What the fuck”).

Beispiel gefällig?  Einer meiner neuen Facebook-Freunde, den ich wohlgemerkt nicht kenne und nie getroffen habe, teilte mir folgendes mit:

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Ein anderer, mir ebenfalls gänzlich unbekannter neuer Facebook-Freund kam eine Minute nach Annahme der Freundschaftsanfrage mit dieser dringlich erscheinenden Frage auf mich zu:

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Aber der Reihe nach.

Was mich von Anfang an überrascht hat, war die Masse an Nachrichten, die mir überhaupt geschickt wurden, einzig, weil ich eine Freundschaftsanfrage angenommen habe. Insgesamt habe ich in meinem anderthalbjährigen Facebook-Experiment hunderte unverlangt eingesandte Nachrichten von Männern erhalten. 128 davon habe ich für diesen Artikel ausgewertet.

Die Zahl der Nachrichten und ihre Art hat mich überrascht, weil ich vor dem Experiment von mir selbst ausgegangen war. Ich befreunde auf Facebook nur Leute, die ich entweder mal selbst getroffen oder mit denen ich direkt zu tun hatte. Wenn ich kein Anliegen habe, endet das Ganze für mich auch nach einem Klick, nämlich dem Versenden der Freundschaftsanfrage.

Nicht so bei meinen neuen Freunden. Ich sage bewusst nicht Freund_innen, denn die erste Erfahrung meines Facebook-Experiments war, dass 99 Prozent der sich neu mit mir befreundenden Menschen männlich waren oder sich als männlich identifizierten. Die zweite Erfahrung war, dass sich meine neuen männlichen Facebook-Freunde gerne mit Nachrichten vorstellen.

Zur häufigsten Gruppe gehörten die “Hi” bzw. “Hi und Danke”-Nachrichten, bei denen die Männer kurz “Hallo” sagten oder sich noch für die Annahme der Freundschaftsanfrage bedankten. Sie sahen typischerweise so aus:

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So weit so gut, könntet ihr denken. Bis ihr seht, wie mein Posteingang aussah:

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Die “Hi” beziehungsweise “Hi und Danke”-Nachrichten – in absoluter Mehrzahl von Männern* – bestimmten zu 98 Prozent meinen Facebook-Posteingang.

Das Tinder des kleinen Mannes

Mir war klar, dass ich alle Nachrichten mit ein paar Klicks entfernen konnte und dass es sicher Männer gibt, die wirklich “nur” Hallo sagen wollten. Dennoch war mein Eindruck schnell: Für die “Hallo”-Sager schien Facebook so eine Art einfacheres Tinder zu sein. Für mich ist es das nicht, weswegen ich auf keine der Nachrichten in irgendeiner Art reagierte.

Das führt mich direkt zur zweiten Gruppe von Nachrichten, die ich am Ende meines Experiments als Gruppe identifizieren kann: Die Unerschütterlichen. Die, denen Stille am anderen Ende der Leitung egal war und die immer weiter sendeten, unabhängig davon, ob ich antwortete. Das sah dann so aus:

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Bei den Unerschütterlichen schien es die Erwartung zu geben, dass eine angenommene Freundschaftsanfrage gleichbedeutend mit Gesprächswünschen meinerseits war:

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Einige Vertreter dieser Gruppe nahmen sich das Motto “Ein Bild sagt mehr als tausend Worte” zu Herzen:

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Was mich direkt zur nächsten Gruppe bringt, die ich schlicht “bildhaft” genannt habe. In ihren Nachrichten sprachen nur noch Bilder, aber wie.

Da gab es den Romantiker:

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Den Verspielten:

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Den Modernen:

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Den, der mich “von meinen Augen her” verstand:

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Alles in allem einte die Bildhaften der Hang zur Blume:

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Die Deutlichkeit, mit der die Bildhaften ihr Ansinnen der Partner_innensuche vortrugen, wurde nur noch übertroffen von den Nachrichten, die ich unter dem Begriff “Anmachen” zusammenfasse:

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Hier war ein echter Spaßvogel am Werk, mit einem popkulturellen Bezug, der erst 21 Jahre alt ist.

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Bei ihm wiederum schien der Eindruck zu bestehen, die Annahme einer Freundschaftsanfrage eröffnete einen Chat – mal wieder ein Fall für Tinder:

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Während wir es hier mit einem klassischen Joey-Tribbiani-Tribut zu tun haben:

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Getoppt nur noch von einem Joey, der mit sich selbst spricht:

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Die Kollektion unverlangt eingesandten Männer-Botschaften wäre nicht komplett ohne unaufgeforderte Bewertungen meiner Person, meiner Fotos, meiner Arbeit und meiner Äußerungen durch mir gänzlich unbekannte Männer.

Das begann schon vorm Posteingang:

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Ein Kommentar zu einem Job, den ich zum Zeitpunkt der Nachricht seit Monaten aufgegeben hatte:

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Die letzte Kategorie von Nachrichten, die mir Menschen während meines Facebook-Experiments schickten, war Werbung. Auch sie kam in der überwältigenden Mehrheit von Männern. Auffällig war die erschütternde Irrelevanz der Angebote meiner neuen FB-Freunde für mein Leben. Hier sollte ich eine Schwimmschule empfehlen. 500 km entfernt von meinem Wohnort.

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Ebenfalls unwichtig war, ob ich überhaupt Interesse an den Angeboten dieser geschäftstüchtigen Männer* hatte. Die Updates kamen trotzdem!

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Ebenfalls unwichtig: Mein Name.

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Am Ende meines Experiments steht für mich folgendes fest: Ein Facebook ohne Filterblase ist möglich, aber sinnlos.

Informationsramsch statt Mehrwert

Mein Facebook-Experiment hat mich in meiner Meinung bestätigt: Wir müssen Informationen und auch Quellen filtern, um uns einen Reim auf die Welt zu machen. Ich habe erlebt, wie ein unbegrenztes Öffnen der eigenen Timeline über die Freundschaftsliste mich Null Komma Null bereichert hat. Im Gegenteil: Durch meine “Ich nehme alle an”-Policy hatte ich deutlich mehr Arbeit, mich durch ramschige Informationen und vor allem seltsame Nachrichtenberge zu wühlen, bis ich das Netzwerk überhaupt noch sinnvoll nutzen konnte.

Natürlich birgt es Risiken, wenn wir filtern, mit wem wir kommunizieren oder wessen Botschaften wir sehen. Wir werden bestätigt in dem, was wir denken und blenden aus, was unser Weltbild stört. Dagegen hilft, die Wege, über die wir uns informieren selbst möglichst vielfältig zu gestalten. In Social Media unterwegs zu sein, aber auch Nachrichtenwebsites oder Zeitungen zu lesen, Nachrichten zu gucken, das kann den Tellerrand erweitern. Das bedeutet aber nicht das stumpfe Aufgeben von Filtern in sozialen Netzwerken, sondern im Gegenteil eine Investition in die Filter, zum Beispiel, beim Zusammenstellen einer Timeline oder beim Zusammenstellen der Facebook-Freunde. Das ist zumindest mein Ergebnis des Versuchsaufbaus bei diesem Facebook-Experiment.

Genausowenig, wie wir alle Leute, die wir zufällig sehen, einladen, mit uns über Politik und Gesellschaft zu sprechen, uns Nachrichten zu erzählen oder uns zu Werbemaskottchen ihrer Schwimmschulen zu machen, sind diese Handlungen in sozialen Netzwerken sinnvoll. Dort bedeutete das Weglassen von Filtern für mich einzig und allein beliebige, unverlangte Nachrichten von Männern.  Das brachte gar nichts, außer ein paar Absurditäten im Posteingang, wie diesen letzten Rohdiamanten der Netzkommunikation:

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6 Antworten zu “Ein Lob auf die Filterblase”

  1. Markus Potpourri sagt:

    Recht interessant, aber was Sie leider komplett auslassen ist die Möglichkeit, dass es sich hier bei vielen Profilen um
    Bots handeln könnte. Das Experiment fühlt sich ein bisschen so an, wie den Spam Filter bei Mails ausschalten und sich dann wundern was einem für komische Menschen schreiben (Prinzen aus Uganda, Leute aus der pharma Branche, sehr viele einsame Frauen etc).

    Damit Bots nicht von Facebooks Algorithmen erkannt werden, müssen Sie viel interagieren, d.h. sie liken wahllos Bilder/Beiträge, versuchen Freundschaften zu knüpfen, schreiben Leute an etc. Einige der Konversationen deuten auch stark darauf hin, dass es sich um Bots handelt.

    Es wäre schön, wenn Sie versucht hätten auch ein wenig rauszufinden, wer Ihnen denn genau schreibt. Sind das Freunde von Freunden? Wenn nicht, wie kommen die auf ihr Profil? (gut, ich weiß nicht inwiefern sie sich öffentlich bewegen auf Facebook)

    Auch wäre es interessant, warum Sie soviel Freundschaftsanfragen erhalten? Bei einer kleinen Blitz Umfrage unter Freundinnen kommt raus, dass die durchaus auch mal seltsame Freundschaftsanfragen bekommen, aber nicht in Ihrem Ausmaß. Sind Sie stark öffentlich unterwegs, in großen Facebook Gruppen aktiv etc?

    Auch ich als männliche Person erhalte hier und da mal seltsame Freundschaftsanfragen, meistens von Frauen, die offensichtlich Bots sind.

    Ich will nicht sagen, dass alles Bots waren, die Ihnen geschrieben haben, aber diese Möglichkeit sollte man definitiv mit einrechnen. Zu glauben, im Internet agieren nur echte Personen ist mir etwas zu naiv :)

    Das wäre schonmal interessant zu erfahren gewesen, denn so kann ich den Bericht wenig einordnen. Obwohl ich ja gerade überlege einem Bericht über mein Email Eingang zu schreiben :P (nicht böse gemeint)

  2. mcflurry28 sagt:

    Ich habe bis zuletzt gehofft, dass noch ein besonders tiefsinniges, selbst-ironisches Gespräch zu Stande kam..

  3. MatthiasSchuchard sagt:

    Moin,
    Ist wahrscheinlich schwer zu erkennen, aber vielleicht lässt sich schätzen, wie viele der Anfragen von Bots kamen?
    Und es wäre mal interessant zu sehen, wie so ein Experiment bei einem Mann ausgeht.
    Gruß,
    Matthias

  4. […] ein Stück vom Rechtspopulismus zu „entgiften“ • Und: Scheißt auf irgendwelche Vorwürfe zu irgendwelchen Filterblasen (denn die kommen so oder […]