Flieh um dein Leben

Foto , © , by Martin Gommel

Triggerwarnung: Erwähnung von Suizid und Tod, Darstellung von Kriegsverletzungen

Dies ist ein Beitrag aus unserer Rubrik kleinergast, in der wir alle Gastartikel veröffentlichen. Dieses Mal kommt er von Martin.

Als Fotograf dokumentiert Martin derzeit vor allem geflüchtete Menschen an unterschiedlichen Orten.

Alle Fotos © Martin Gommel.


Webseite von Martin @martingommel Martin auf Facebook

Vielleicht erinnert sich noch die*der ein oder andere an den Podcast, den Anne mit mir im Januar aufgezeichnet hatte, als ich gerade in Berlin war.

Ich war in die Haupstadt gekommen, um die Situation am LAGeSo, dem Landesamt für Gesundheit und Soziales als Fotograf zu dokumentieren. Dort warteten Geflüchtete zig Stunden in bitterster Kälte auf ihren Termin zur Registrierung.

Seither ist viel passiert – und heute möchte ich euch davon erzählen.

Ich fühle mich allen hier beschriebenen und porträtierten Menschen verpflichtet, denn leider lassen die meisten großen Medien die betroffenen Menschen hinter irgendwelchen Zahlen verschwinden. Meist wird nur über große Unglücke oder von Massen und Statistiken gesprochen. Nach Europa fliehen aber keine Statistiken, sondern Menschen. Diesen möchte ich begegnen und ihre jeweilige Situation sichtbar machen.

Samos

Nach meinem Aufenthalt in Berlin wollte ich zu den griechischen Inseln und reiste nach Samos. Knappe 1,7 km trennen die relativ kleine Insel von der Türkei. Das Meer dazwischen wird Ägäis genannt und ist ein Massengrab für die Menschen geworden, die vor Krieg, Verfolgung oder Armut nach Europa fliehen.

Auf Samos wurde ich Teil einer achtstündigen Rettungsaktion von Geflüchteten, die MSF (Médecins Sans Frontières) durchführte. Es ging um eine große Gruppe afghanischer Geflüchteter, die vom Schlepper mit dem Schlauchboot an einem verlassenen, unmöglich erreichbaren Strand abgesetzt worden war und seit Mitternacht durchnässt, hungernd und frierend auf Hilfe wartete. Unter ihnen auch Schwangere und Kinder. Ich werde ihre Blicke nie vergessen.


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Des weiteren dokumentierte ich ratlos den Aufbau des Hotspots auf Samos, der vorher ein Gefängnis war – und in diesem Stile direkt übernommen wurde. Das gesamte Areal war nach wie vor mit Stacheldraht gesichert und wurde vom griechischen Militär überwacht. Hotspots sind dafür gedacht, ankommende Geflüchtete sofort mittels Fingerabdruck zu registrieren, um die sogenannte Einreise zu regeln. Angesichts dessen spürte ich, wie sich eine große Wut in mir breit machte und ich die Asyl-Politik der EU jeden Tag mehr verabscheute.


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Direkt nach meinem Samos-Aufenthalt reiste ich an die griechisch- mazedonische Grenze, wo zu diesem Zeitpunkt ca. 12.000 Menschen festsaßen und auf die Öffnung des Zaunes hofften.


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Dort lernte ich unter anderem die 17-jährige Wajd und ihre Großfamilie kennen. Sie waren aus Syrien geflohen und fragten mich: »Martin, wird die Grenze wieder öffnen? Was sollen wir tun?«


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Neben ihnen traf ich dort auch einen syrischen Mann, der sein rechtes Augenlicht bei einem Bombenabwurf verloren hatte. Und ich lernte Diana kennen: das kleine Mädchen lebte mit ihrer Mutter auf den Gleisen unmittelbar vor der Grenze.


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Als ich dann Zeuge eines Selbstmordversuches einer Geflüchteten wurde, waren diese Gefühle erneut da: Trauer – und Wut auf unsere Politiker*innen. Die Frau hatte sich das Leben nehmen wollen, weil sie keine Syrerin war. Bis heute werden Menschen in Europa nur dann aufgenommen, wenn sie aus bestimmten Herkunftsländern und -gebieten kommen. Kommt also eine Person aus einem sogenannten »sicheren Herkunftsland«, muss sie mit einer Abschiebung rechnen.


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Es ist eines, einen EU-kritischen Tweet abzusetzen, aber etwas ganz anderes, den Menschen in die Augen zu sehen, die deshalb beinahe krepieren, weil ebendiese EU geflüchteten Menschen Tür und Tor verschließt, egal, was das für ihr Leben bedeutet.

Die Frau überlebte übrigens. Das ist jedoch nicht immer der Fall.

Athen

Als ich im April nach Athen ins anarchistische Vierteil »Exarchia« reißte, war ich komplett überwältigt von der gelebten Solidarität der dortigen Bewohner*innen. Nur ein Beleg dafür: Weil die Polizei sowohl kurz vor, als auch nach der Jahrtausendwende Kinder aus dem Viertel erschossen hatte, wurden Einsatzkräfte schlicht nicht mehr hineingelassen.

Die Anarchist*innen besetzen seit Jahren ein Haus nach dem anderen, verwandeln diese in Cafés, Bibliotheken oder Unterkünfte für Geflüchtete. Unter anderem auch das City Plaza Hotel, das mittlerweile internationalen Ruf als Unterkunft für Fliehende genießt.


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Die Situation der Schutzsuchenden war in Athen allerdings alles andere als rosig. Als mir der kleine Amir gegenüberstand, der seinen Unterarm, wie seine Mutter erklärte, wegen einer Bombe verlor, traf mich das mitten ins Herz.


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Genauso trafen mich die Worte des jungen Griechen Dimitri, der auf Lesbos die angespülten Leichen von Geflüchteten gewaschen und begraben hatte. Dimitri war der erste, der sich um die Versorgung der Toten kümmerte, als sich das Krankenhaus von Lesbos weigerte, dem nachzukommen. Mit jedem Satz, den mir Dimitri anvertraute, wurde mir ganz anders und ich bewunderte den Mut dieses Mannes.


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In Athen traf ich übrigens auch Wajd und ihre Familie wieder. Sie hatten mittlerweile Unterschlupf in der Wohnung eines Verwandten bekommen. Doch weil sie zuvor nach Mazedonien geflohen und von der Polizei aufgegriffen worden waren, hatten sie einen Monat lang kein Lebenszeichen von ihrem Vater mehr bekommen, der seitdem auf der Polizeiwache festsaß.


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Auch in Athen fragte mich die Familie: Was sollen wir tun? In Griechenland Asyl beantragen? Das Relocation-Programm (die Umverteilung von in Europa angekommenen Geflüchteten in EU-Staaten) beanspruchen und das Risiko eingehen, in einem rassistischen Staat unterzukommen – ein Staat, in dem sie also auch nicht sicher wären?

Die Mutter war sogar bereit, wieder zurück nach Syrien zu gehen, sollte sich der Vater nicht mehr melden können.

Derzeit lebe ich in Berlin und versuche erneut mir die Situation der Geflüchteten in der Hauptstadt anzusehen und werde bald beginnen, darüber zu berichten. Da meine berufliche Karriere finanziell immer noch nicht optimal gedeckt ist, plane ich nur vorsichtig weitere Reisen nach Europa. Wer mich unterstützen möchte, kann das gerne via Paypal (paypal.me/martingommel) oder Direktüberweisung (IBAN: DE60 6605 0101 1020 2083 26 | BIC KARSDE66XXX) tun.

Ich danke euch für euer Vertrauen.

Mit diesen Organisationen
hat Martin bereits zusammengearbeitet

Spenden- und Unterstützungsmöglichkeiten findet ihr jeweils auf der Webseite:

Projekt Seehilfe
Heimatstern
Moabit hilft

Eine Antwort zu “Flieh um dein Leben”

  1. Fabian sagt:

    Danke für den Artikel!

    Hat jemand links zu Berichten dieser Art in English?