Mehr als Kopfweh

Foto , CC 2.0 , by ultraBobban

Seit über zehn Jahren habe ich regelmäßig Migräne, weswegen ich mehr über die Erkrankung weiß als mir lieb ist. In dieser Zeit habe ich unzählige Vorbeugungsmethoden probiert, meine Ernährung immer wieder umgestellt, an einer Studie teilgenommen und mich durch ganze Apotheken gefuttert. Ich war bei mehreren Neurologen, die sich auf Kopfschmerzen im Allgemeinen und Migräne im Besonderen spezialisiert haben, habe mich einer Selbsthilfegruppe auf Facebook angeschlossen, Dr. Google konsultiert, Bücher, Broschüren und Journalartikel gewälzt. Wie gesagt: Ich weiß mehr, als mir lieb ist, aber kann natürlich nicht für alle Menschen mit Migräne sprechen

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Migräne ist eine Erkrankung, zu der nicht nur der Kopfschmerz an sich gehört. Um als Migräne zu gelten, müssen neben Kopfschmerzen noch weitere Symptome vorliegen. Halbseitig? Check. Pulsierend oder pochend? Check. Wird bei Bewegung schlimmer? Check. Außerdem müssen entweder Übelkeit/Erbrechen oder Licht- und Geräuschempfindlichkeit vorliegen. Leider gibt es keine Bonuspunkte, wenn man alles davon hat, aber manche Menschen haben zusätzlich dazu auch noch Wahrnehmungsstörungen, die als “Aura” bezeichnet werden. Das kann beispielsweise Kribbeln in Armen und Beinen, verschlechterte Sicht oder eine plötzlich auftretende Sprachstörung sein. Ein typischer Migräneanfall dauert mindestens vier, maximal 72 Stunden. Eine Komplikaton eines gewöhnlichen Migräneanfalls ist der länger als drei Tage andauernde und gegen alle eigenen Behandlungsversuche resistente Status migraenosus.

Hier eine kleine Auswahl von Beschreibungen, die hoffentlich etwas greifbarer machen, wie sich Migräne anfühlt (darf gerne in den Kommentaren ergänzt werden):

Wie Donnergrollen, das durch das Echo in einer Höhle verstärkt wird; mit sehr fragwürdigem Glück kriegt man sogar noch Blitze dazu

Als hätte man das Gehirn in Benzin getunkt und angezündet

Als würden kleine grüne Aliens das Innere des Kopfes renovieren, unter anderem mit Pressluft- und Vorschlaghämmern

Wie der Plot von Edgar Allan Poes Kurzgeschichte “Das schwatzende Herz”, bloß in sehr laut

Die Tabletten-Yoga-Mischung macht’s

Das klingt anders als die Art von Kopfschmerz, die viele Menschen nach einem langen Arbeitstag am PC, einer Nacht mit komischen Verrenkungen oder einem Abend mit etwas zu viel Alkohol bekommen – und wird auch anders behandelt. Meistens helfen Schmerzmittel wie Aspirin, Ibuprofen oder Paracetamol nicht, also werden bei akuten Migräneanfällen Triptane verabreicht, von denen ein Großteil verschreibungspflichtig ist. Gegen die Übelkeit können Antiemetika wie z.B. Vomex eingenommen werden, allerdings machen einige davon schläfrig. Wenn man unbedingt arbeitsfähig sein muss, ist das ungünstig.

Manchen Menschen hilft Progressive Muskelentspannung, Yoga, Akupunktur, eine Ernährungumstellung, mehr Ausdauersport, Biofeedback oder eine andere Verhütungsmethode, um die Zahl der Migräneanfälle zu senken. Generell wird empfohlen, ein Kopfschmerztagebuch zu führen, in dem mögliche Auslöser, die Stärke, Art und Dauer der Kopfschmerzen festgehalten werden. Das “Schöne” an Migräne: Es gibt auch gut wirksame medikamentöse Prophylaxemöglichkeiten, durch die die Häufigkeit und Intensität der Attacken verringert werden können. Das Unschöne: Es muss abgewägt werden, ob die tägliche Einnahme von Medikamenten mehr Vor- als Nachteile hat. Oft müssen sehr viele verschiedene Medikamente probiert werden, um das eine zu finden, das hilft, was sehr zermürbend ist und aufgrund eventuell auftretender Nebenwirkungen auch körperlich anstrengend sein kann. Unbedingt sollte immer ehrlich mit dem*der behandelnden Ärzt*in Rücksprache gehalten und nicht auf eigene Faust an der Medikation rumgeschraubt werden.

Hilfreiche Menschen und andere Komplikationen

Nicht nur die körperlichen Schmerzen sind für Betroffene belastend, sondern auch die Reaktionen des Umfelds. Viele Menschen, die nicht an Migräne leiden, können sich nur schwer vorstellen, wie einschränkend eine Attacke sein kann und wie sehr die Lebensqualität durch immer wiederkehrende Migräne gemindert wird. Verständlicherweise sind Freund*innen und Bekannte nicht wirklich begeistert, wenn ihnen immer mal wieder wegen Migräne kurzfristig abgesagt wird, und auch Arbeitgeber*innen können eher skeptisch sein, weil der Begriff “Migräne” inflationär verwendet wird.

Besonders “großartig” sind die zahlreichen Ratschläge, die meist ungefragt gegeben werden. Manche sind nachvollziehbar, aber nur schwer umsetzbar (“Stress dich einfach weniger!”), bei anderen stellt sich hingegen ernsthaft die Frage, ob das jetzt wirklich gesagt wurde (“Vielleicht würde es dir ja helfen, schwanger zu werden – hat bei deiner Tante und Cousine ja auch geklappt!”). Manches sollte von Menschen, die keine Migräne haben, lieber ungesagt bleiben.

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Ein weiteres Problem im Zusammenhang mit Migräne ist, dass oft von Migräne gesprochen wird, obwohl etwas anderes gemeint ist. “Nein, Schatz, heute Abend nicht, ich habe Migräne” als Witz finde ich nicht lustig – es schadet Menschen mit Migräne, eben weil dadurch der Eindruck entsteht, Migräne sei nichts weiter als ein kleiner Gag, nur halb so wild, ist ja bloß ein bisschen Kopfweh. Seinen gelegentlich auftretenden Spannungskopfschmerz Migräne zu nennen ist vergleichbar mit der Aussage “ich bin voll depressiv” an einem Tag mit schlechter Laune: Es sind zwei verschiedene Paar Schuhe, von denen sich eins deutlich stärker auf den Alltag einer Person auswirkt, was aber durch diese Verwässerung der Begriffe unsichtbar gemacht wird.

Röhren und Hauben und Nadeln, oh my!

Dieses “bisschen Kopfweh” kann Betroffene zum Verzweifeln bringen. Als ich mal mit einem tauben Arm und pochenden Schädel in der Notaufnahme lag, wurde mir geraten, gleich im Krankenhaus zu bleiben, damit einige Tests durchgeführt werden können. Noch in derselben Nacht wurde ich zur Computertomographie gefahren, was die erste von vielen Untersuchungen war.

Stellt euch bitte kurz vor, wie furchterregend das ist: Mit 22 im Krankenhaus liegen, während die Ärzt*innen leise diskutieren, ob es ein Schlaganfall sein könnte (war’s nicht). Einige weitere Untersuchungen kannte ich schon – EEG mit diesen funky Rezeptoren aufm Kopf zum Beispiel –, während mir andere neu waren. Am schlimmsten war die Lumbalpunktion, mit der mir Nervenwasser entnommen wurde. Glaubt mir: Eine Nadel in der Wirbelsäule ist die ultima ratio, ein Ausdruck der Verzweiflung, das “wir wissen nicht weiter”, nachdem alle anderen Möglichkeiten, eine konkrete Ursache für die Migräne zu finden, erschöpft waren.

funky rezeptoren

SourceCC BY-SA 4.0

Nach einer Woche wurde ich entlassen. Ergebnis: Bis auf kleinere Auffälligkeiten, die eigentlich keinen Krankheitswert haben, bin ich kerngesund. Es gibt keine Bildchen, keine Laborwerte, die erklären können, warum ich in dieser Zeit durchschnittlich 16 Migränetage im Monat hatte. Das ist gut. Das ist aber auch sehr schlecht. Bilde ich mir alles etwa nur ein? Wie soll etwas behandelt werden, für das keine konkrete Ursache zu finden ist? Ich musste damit meinen Frieden machen und akzeptieren, dass ich nicht immer erklären kann, woher die Migräne kommt, und dass ich einfach versuche, so gut wie möglich damit zu leben.

Wer weiß, vielleicht kriege ich eines Tages ja dafür einen Orden. Verdient hätte ich ihn – genau wie alle anderen, die mit einer chronischen Erkrankung ihren Alltag meistern, ohne regelmäßig für “ach, das bisschen [hier Schmerz einfügen]!” anderen Menschen eine zu scheuern.

9 Antworten zu “Mehr als Kopfweh”

  1. slowtiger sagt:

    Ich hatte mehrere Jahre regelmäßig jede Woche Migränetage, die offenbar durch Koffeinentzug ausgelöst wurden. Heilfroh, dies durch sehr mäßigen, aber täglichen Kaffee abstellen zu können. Jetzt nur noch so 3 Migränetage im Jahr, und ab und zu mal Aura ohne Migräne. (Und natürlich auch mal ganz normale andere Kopfschmerzen.) Wünsch dir Glück, daß du auch über deinen Hauptauslöser stolperst.

  2. D3rdr1u sagt:

    Danke für den Artikel. Migräne ist quasi eine Volkskrankheit und trotzdem wird einem kaum geholfen. Selbst für einen Neurologen ist man als Migräne-Patient/in unattraktiv.
    Bei mir wirkt sich Migräne etwas anders aus- auch weniger stark. Ich werde ca. 1 Woche vorher etwas verwirrt, orientierungslos & unkonzentriert. Meistens nehme ich dann schon 2 starke Ibuprofen mit Lysin – hilft tatsächlich besser als man glauben kann. Wenn ich Migräne habe bin ich extrem licht- und geruchsempfindlich (daher gehe ich auch eigentlich nie ins Krankenhaus: Desinfektionsmittel & das Licht). Es fühlt sich dann so an, wie ein extrem kälteempfindlicher Zahn, auf den ein Eiswürfel gestülpt wird- nur hinterm Auge/ an der Schläfe.
    Ich habe von einigen „Tricks“ gehört wie starker Kaffee oder Zitrone gegen die Entzündung. Da es aber ja verschiedene Migränetypen gibt, hilft das wohl nicht jedem.

  3. Patient 0 sagt:

    Besonders schwierig finde ich diese Reaktionen á la „sind doch nur Kopfschmerzen“, weil ich dadurch ständig meine eigene Schmerz-Wahrnehmung hinterfrage. Ich habe aber immerhin keine Migräne-Symtome wie Übelkeit und Kribbeln, sondern „nur“ Kopfschmerzen, die aber durchgehend, sich nur ändernd in der Intensität.

    Und nein, auch nicht therapierbar.

  4. Kaya sagt:

    Danke. Besonders schlimm finde ich (ebenfalls migränegeplagt), das Verwenden einer Migräne als Ausrede für „ich hab keine Lust, traue mich das aber so nicht zu sagen und schieb jetzt mal ne Migräne vor“. Sowas ist ärgerlich.

  5. 5Kaffeespaeter sagt:

    Jede Migräne ist individuell, aber jede ist ein Arschloch. Meine bringt, neben Schmerz, Licht-, Geräusch- und Geruchsempfindlichkeit, eingeschränktem Sichtfeld, Wahrnehmungsstörungen bezüglich der Temperatur und Übelkeit auch das lästige Feature der totalen Unruhe mit sich. Was man nicht gebrauchen kann, wenn der Körper alle Kräfte wie mit dem Staubsauger abzieht, um den Schmerz und das Erbrechen zu kompensieren. Es fehlt die Kraft, auch nur einen Finger zu rühren, aber der Körper selbst würde am liebsten vor all‘ dem davonlaufen und weg und nur raus aus der Situation. Obwohl mich die Migräne seit vielen Jahren begleitet, bin ich in einer Attacke nie in der Lage, mir über das zeitliche Moment darin bewusst zu werden. Ein Gedanke wie „Nur durchhalten, irgendwann ist es vorbei“ kommt gar nicht auf. Jede Attacke nimmt mich so ein, dass es sich immer wieder anfühlt, als würde es nie wieder aufhören, als wäre man gefangen in diesem Schmerz und dem Gefühl, das keinen Moment länger mehr aushalten zu können und das es nie wieder aufhören wird. Ich kann dann nicht glauben, jemals wieder durchatmen zu können, so weitermachen zu können, es ist immer wieder Endzeitstimmung. Wenn es dann (Überraschung!) doch anfängt, besser zu werden, ist es wie ein abziehendes Unwetter.
    Vom sozialen Aspekt mal ganz abgesehen, Migräne ist und bleibt ein Arschloch. Und sie wohnt in unseren Köpfen, nicht bereit, dort auszuziehen.
    Danke für den Post, man ist ja doch immer wieder froh, wenn man bestätigt bekommt, dass nicht die eigene Wahrnehmung verschoben ist und man sich nicht anstellt, sondern es allen mit diesem Arschloch im Gehirn so geht.

  6. Lea sagt:

    Dein Bericht spricht mir aus der Seele. Danke dafür! Ich habe über eine Psychotherapie raus gefunden, dass ich eine sehr starke Stress-Migränikerin bin und bin darüber von 20 Migräne Tagen auf 0-7 im Monat gekommen. Ich kann es wirklich nur empfehlen. Sich selber kennen ist das A&O.
    Mir bleiben jetzt noch meine Migräneanfälle durch Hitze und Wetterumschwünge, die werde ich dieses Jahr aktiv mit viel Sport versuchen einzudämmen. Die letzten Jahre hatte ich zu viel Migräne um regelmäßig Sport zu machen. Auch so eine Auswirkung die Mensch ohne Migräne mit Sicherheit nicht auf dem Schirm hat. Umso wichtiger sich immer weiter verständlich zu machen und zu erklären. Dafür ist dieser Artikel hier großartig!

  7. Mondfuchs sagt:

    Es gibt da so ein Zitat aus dem Film „Shutter Island“, das zumindest für mich sehr passend ist:
    “Es fühlt sich so an, als würde man den Kopf aufschneiden, ein paar Rasierklingen hineinlegen und kräftig schütteln”.

    Ich hatte in der Grundschulzeit ständig Migräne (meine Hausärztin schob es darauf, dass ich als Kleinkind die Treppe hinunterfiel und dabei mit dem Kopf zwischen zwei Stufen steckenblieb, wodurch sich die weichen Schädelplatten verschoben haben sollen… idk…), dann Jahre der Ruhe und ab der Abiturzeit ging es dann wieder los, mal mehrmals hintereinander, mal monatelang nichts, aber meist durch Stress ausgelöst. Immer mit Lichtempfindlichkeit und ab und zu Geruchsempfindlichkeit (besonders schön, wenn Mitbewohner dann keine Rücksicht nehmen und das am ekligsten riechende Essen zubereiten, dessen Geruch je durchs Haus zog), seit ein paar Jahren dann auch der ganze Spaß mit Aura wie Kribbeln, Sehstörungen, Derealisationsempfinden. Allerdings habe ich häufiger beidseitigen Kopfschmerz anstatt nur halbseitig, und wirklich das Glück, dass meine Attacken höchstens 24 Stunden andauern. Also meist.
    Besonders schön sind ja immer gut gemeinte Ratschläge wie „Geh doch mal an die frische Luft!“ oder „Bewege dich doch mehr.“ – natürlich immer super, wenn das Gehirn kurz vorm Explodieren steht und mit Höllenfeuer auf Licht und Bewegung und überhaupt alles andere außer kühle Dunkelheit reagiert. Den Spruch mit der Schwangerschaft kannte ich bisher noch gar nicht bei der Thematik, auch sehr großartig (wtf)…

    Danke auf jeden Fall für den Text <3

  8. […] hat Mehr als Kopfweh und schreibt über die große Schwester des Kopfschmerzes, die […]

  9. […] – reduzierte sie auf Erkältung oder Kopfschmerzen. Meine Mutter litt dabei lange Jahre unter Migräne. Nur bei intensiven Anfällen, die ich vor allem aus der Zeit erinnere, bis ich etwa 10 Jahre alt […]