Verschaue deine Jugend!

Foto , CC BY-NC-ND 2.0 , by Steve Rhodes

Wie das Fernsehen vor dem Internet Heranwachsenden zeigte, dass sie nicht allein waren in ihrem Anders- oder Außenseitersein, wenn sie etwa wie der Autor schwul und/oder jüdisch waren.

Der Höhepunkt meiner Woche war für mich als Jugendlicher der Samstag. Er war es allerdings nicht wegen Verabredungen mit Freunden (die kamen später) oder Partys (die kamen nie; zumindest, als ich noch zur Schule ging), sondern wegen des Fernsehprogramms. Am Samstag liefen „Friends“, „Dawson’s Creek“ und „Will & Grace“. Als ich diese Serien sah, war ich zwar jünger als die Mittzwanziger im Central Perk, die Freunde um Dawson, die bald das College besuchen würden, und ohnehin jünger als die Architektin und der Anwalt in ihrer Zweier-WG. Dennoch bargen sie für mich ein immenses Identifikationspotenzial in sich.

Meine Mutter kam zumeist kurz vor Serienbeginn von einem größeren Einkauf wieder und brachte mir Schokolade einer ganz bestimmten Sorte mit, die es tatsächlich leider nicht mehr zu kaufen gibt. Sie war wunderschön verpackt: ein blasses blau, darauf feine weiße Linien, Goldrand. An jedem Samstag hatte ich eine Tafel davon vor mir liegen und sah jene Serien. Meine Mutter lächelte verschmitzt, wenn sie das Wohnzimmer durchquerte und mich dabei in fürstlichem Schneidersitz mit der Schokolade sah. Manches Mal wunderte sie sich, dass eine Tafel so lang vor mir verschlossen lag und ich sie noch nicht geöffnet hatte, obwohl ich schon vor dem Fernseher saß und fleißig fernsah. Was ich meiner Mutter damals nicht sagte, war, dass ich mir diese Tafel Schokolade aufsparte, bis „Will & Grace“ beginnen würde.

Wovon „Will & Grace“ handelt?

„Will & Grace“ zeigte all das, was es nicht (oder nicht sichtbar) in der trist einfarbigen Provinz gab, in der ich aufwuchs: Juden, Schwule und urbanes Leben. Diese Serie offenbarte mir einen Blick darauf, wie das Leben sein könnte. Offenbarte, dass da draußen Möglichkeiten der freien Entfaltung waren. In diesem fernen Manhattan lebten eine Jüdin und ein Schwuler in einer Wohngemeinschaft zusammen. Das, was undenkbar gewesen wäre dort, wo ich lebte, war in der Serie nicht nur normal und alltäglich, daraus entsprangen sogar ganz besondere Freundschaften und Witz.

Meine Eltern wussten nicht, was ich da schaute. Manchmal setzte sich meine Mutter in den Sessel am anderen Ende des Wohnzimmers, weil sie von Gartenarbeit ausruhte, und fragte mich, während „Will & Grace“ noch lief, was ich denn da eigentlich genau gucken würde. Ich antwortete stets in Ausflüchten, Uneindeutigkeiten oder erzählte stattdessen von „Friends“. In jedem Falle aber verschwieg ich, dass es dort bei „Will & Grace“ vor allem um Schwule ging. Ich wollte nicht, dass meine Eltern dachten, ich wäre schwul. Ich wollte das selbst nicht von mir denken.
Ich war damals noch nicht geoutet. Ich hatte noch nicht einmal eine Ahnung, was ich genau oder ob ich überhaupt fühlte. Ich bemerkte diese nicht auszusprechende Faszination für die schwulen Charaktere der Serie, aber ich zog daraus keine Schlüsse über mich. Ich konnte es nicht.

In der Schule ließ es sich nicht recht mit anderen über „Will & Grace“ sprechen. Obwohl die Serie populär war, immer wieder im Fernsehen lief – noch dazu vor oder nach (ich erinnere mich nicht mehr) „Friends“, das nahezu alle sahen – und ständig Werbung für sie zu sehen war, taten die heranwachsenden Jungen und jungen Männer zumeist so, als hätten sie von dieser Serie nie etwas gehört. Oder falls doch, hätten sie sie nie gesehen und keine Ahnung, worum es darin eigentlich ginge. Oder aber, sie hätten sie ein einziges Mal geguckt, aber als seltsam oder eklig befunden.

Über Fiktion sprechen heißt über sich sprechen

Doch ich hatte damals auch eine wirklich gute – und gewiss war sie lange auch meine engste – Freundin, mit der ich über „Will & Grace“ sprechen konnte. Wir konnten uns montags austauschen über die letzte Folge, die am Wochenende gelaufen war, konnten die besten Gags daraus noch einmal Revue passieren lassen und sprachen mit Begeisterung über die Charaktere der Serie, die uns so ungewöhnlich, unterhaltsam, spannend schienen, als wären sie reale Personen in unseren Leben, so etwas wie die Cousins und Cousinen, die man lediglich aus den pointierten Erzählungen des anderen kannte. Und, oh, wir beide liebten Karen Walker!
Ich habe es jener Freundin nie gesagt, aber mit ihr über diese Serie sprechen und lachen gekonnt zu haben, bedeutete mir in meiner Entwicklung wirklich viel. Denn so konnte ich, auch wenn mir dies damals nicht bewusst war, zum ersten Mal überhaupt mit jemandem über diesen lang unbewussten Teil von mir selbst sprechen.

Während in „Will & Grace“ Homosexualität selbstverständlich war und die Outings von Will und Jack lediglich retrospektiv und nur am Rande eine Rolle spielten, konnte ich einem anderen Jack in „Dawson’s Creek“ bei seiner Selbstfindung aus Angst, Neugier und dem ersten echten Verliebtsein folgen, die in der dritten Staffel mit dem ersten schwulen Kuss im amerikanischen Fernsehen endete.
Ich kann nicht behaupten, dass mich Jacks Werdegang dazu animiert hätte, mich zeitnah zu outen. Aber ich fühlte mit keiner anderen Figur dieser Serie so sehr mit wie mit ihm. Sein Weg beschäftigte mich. Vielleicht, weil ich tatsächlich nie einen solchen Weg gekannt hatte. Und so offenbarte eine Fiktion plötzlich eine real erscheinende Möglichkeit. Für mich.

TV-Judaism

Ich hatte bereits Erfahrung damit, qua Fernsehen an einem Leben teilzuhaben, das schwerlich in der Provinz zu leben gewesen wäre. Es gab um mich herum kein jüdisches Leben. Es war nirgends wirklich präsent. Die nächste jüdische Gemeinde war weit weg und winzig. Judentum fand in Deutschland im Stillen statt, meist unsichtbar.
Auch mit dem Zuzug vieler tausender Juden aus den Ländern der ehemaligen UdSSR wurde jüdisches Leben hier nicht so selbstverständlich wie etwa in den USA. Die deutsche NS-Vergangenheit, die Shoah und ihre Folgen, der Anpassungsdruck in der BRD, der nicht zu überwindende Kontrast zu dem Leben und der Kultur, die vorher da gewesen und nun zerstört waren, verunmöglichten jede jüdische Selbstverständlichkeit. Daran konnten auch die russischsprachigen Neumitglieder wenig ändern; immerhin stammten sie aus der Sowjetunion, die jahrzehntelang Juden und Judentum unterdrückt hatten, sodass ein Großteil an Glaube, Tradition und einem jüdischen Selbstverständnis dort verloren gegangen waren.

Für mich eröffnete hier das amerikanische Fernsehen eine heile jüdische Welt. Sie zeigte mir, dass Jüdischsein in den USA derart normal, verbreitet und gleichberechtigt war, dass es nicht nur in nahezu jeder mit Schauspielern inszenierten Serie jüdische Figuren gab, sondern auch in Trickserien.
Bei den Kleinkindern in „Rugrats“ gab es sogar Episoden, in denen sie jüdische Feiertage wie Pessach und Chanukka feierten. Ohnehin schien Chanukka das nach Weihnachten im Fernsehen am häufigsten zu bestaunende Fest zu sein. Ich sah es auch in der „Sesamstraße“; später dann auch in „South Park“, „Friends“ und natürlich bei „Die Nanny“. Ich hatte mehr noch sogar den Eindruck, man würde Bar Mitzvah-Feiern wie in „Hey Arnold!“ oder bei „Die Simpsons“ öfter zu sehen bekommen als Taufe, Kommunion und Konfirmation zusammen.

Mir war schon in jungen Jahren aufgefallen, dass die Macher der US-Serien, vor allem die Drehbuchautoren, aber auch Regisseure und Schauspieler u.a., zu einem nicht unerheblichen Teil selbst jüdisch waren – soweit ich das zumindest vor der Zeit des Nachgooglens anhand von Nachnamen beurteilen konnte – und so etwa Erfahrungen aus der eigenen jüdischen Familie dem allgemeinen amerikanischen Publikum präsentierten.

Bei mir führte das infolge zu dem in meinem Freundeskreis berüchtigten „Wer ist alles jüdisch im Abspann?“- oder auch „Welche jüdischen Personen haben in diesem Jahr alle einen Oscar/Emmy/Golden Globe gewonnen?“-Spiel, das Freunde von mir nervte oder belustigte, sie aber in jedem Falle dazu brachte, selbst wahrzunehmen, dass es da draußen in der Welt noch Juden gab und sie Film- und Fernsehkultur schufen. Es gab also nicht nur fiktionale Juden, sondern auch reale jüdische Personen, die Filme und Serien machten, die anderen Leuten Freude bereiteten. Das gab mir Hoffnung: ich sah, dass man als Jude zwar in Deutschland ein ziemlich unbemerkt umherschwirrendes Atom war, aber nicht in Amerika. Dort gab es viele von uns und sie kreierten das, was Menschen überall in der Welt unterhält oder gar inspiriert: Filme und Serien. In Amerika war sogar Krusty der Clown jüdisch, auch Ross und Monica Geller aus „Friends“ und die in Deutschland so beliebte Nanny Fran Fine.

Ich werde noch heute immer wieder gefragt, ob meine Mutter so wie jene in „Die Nanny“ sei (ist sie nicht). Oder ob Juden wirklich so gern und so viel essen würden wie in der Serie (wer isst denn nicht gern und viel?). Ich mochte die Serie sehr; ich glaube, ich habe sie vier- oder fünfmal komplett gesehen und kann auch bis heute – ich habe es gerade noch einmal erprobt – das deutsche Titellied („Sie verkaufte Hochzeitkleider und war sehr mondän…“; mondän!) singen. Ich habe oft überlegt, ob ich von der Serie eine humorvolle, augenzwinkernde Vermittlung meiner Religion und Kultur vor anderen gelernt habe. Zumindest habe ich durch sie ein gewisses Faible für Barbra Streisand entwickelt…

Womit wir wieder bei „Will & Grace“ wären, denn Barbra Streisand gilt schließlich nicht nur als jüdische Ikone, sondern gemeinhin auch als eine Schwulenikone. „Will & Grace“ war für mich eine aufmunternde Synthese aus Homosexualität und Judentum; ein Hinweis darauf, dass beides miteinander zu harmonisieren sein kann. Doch es sollte einige Jahre dauern, bis ich eine solche Synthese in meinem eigenen Leben hinbekommen sollte.

Serien kann man nicht verpassen, nur nachholen

Heute schaue ich immer einmal wieder alte Episoden aus Serien, die mir auf meinem Weg halfen. Ich tue dies nicht, um mich Nostalgie oder gar Melancholie hinzugeben (okay, ab und zu schon), sondern weil sie mir auch jetzt noch Trost spenden, mich aufs Neue hoffen lassen, wenn Welt und Mensch einem finster begegnen.
Dann schaue ich etwa die Folge, in der sich der alte kauzige jüdische Anwalt Douglas Wambaugh aus „Picket Fences“ (das lief anstößig früh am Samstagmorgen im Fernsehen) amüsant mit seinem Rabbiner streitet oder die Folge von „Akte X“ mit dem Golem.

Letztere Episode finde ich deshalb so schön, weil ich sie zuerst nachts als Kind mit meinem älteren Bruder gesehen hatte. Ich durfte diese Serie eigentlich nicht schauen, weil ich noch zu jung gewesen war, aber mein Bruder verhalf mir gern dabei, das Verbotene zu sehen. Ich glaube, er fand es auch ganz unterhaltsam, wie leicht ich mich damals noch erschreckte (ich hatte ziemliche Angst vor Außerirdischen), obwohl ich stets versuchte, tapfer zu sein. Die Folge mit dem Golem fand ich indes gar nicht unheimlich. Ich war viel zu fasziniert davon, dass es ein jüdischer Mythos sogar zur Begutachtung von Mulder und Scully geschafft hatte. Und ich fand es ziemlich grandios, dass andere das womöglich gruselig fanden, ich aber nicht.

Da ich eher eine Nachteule bin, habe ich so manche späte Stunde mit Filmen oder Serien zugebracht, die auch vor meiner Kindheit und Jugend lagen. So war ich zu meiner Zeit als Heranwachsender leider zu jung gewesen für „Ausgerechnet Alaska“, das mir in meiner Adoleszenz so gut geholfen hätte, war es doch schließlich eine ziemlich ironische Serie über einen jungen Mann, der als einziger Jude in einem Kaff im Nirgendwo landet.

Ich hatte schlechtes Timing.

4 Antworten zu “Verschaue deine Jugend!”

  1. Juna sagt:

    Oh, das kommt mir doch sehr bekannt vor. Das „normale“ jüdische Leben in den Serien und dann später das wirkliche Erleben desselben in den USA, dass es völlig normal war, in der Mall Weihnachtsbaum und Chanukkia als Deko aufzustellen (und schneebesteubte Pelikane). Dass es kein Problem war, jüdische Glückwunschkarten normal neben christlichen, Kwaanza und was weiß ich noch, im Supermarkt zu finden. Ein normales jüdisches Leben, dass wohl aber hier nie so war und wohl auch nicht kommen wird….und auch in den USA nicht ohne Schatten ist. In jedem Fall aber war es normaler.

    Danke Dir für die Erinnerung daran.

  2. parkör sagt:

    wow. danke für diesen einblick. auch als hetero sehr berührend zu lesen. und sehr ermutigend. danke:)

  3. […] Ich bin nicht allein. Ich bin nicht allein! – Wer schon länger liest, was ich über Serien schreibe, kennt folgenden Satz von mir bereits: Serien üben einen großen Einfluss auf uns aus! Und das meine ich ganz wertfrei, es ist mir allerdings sehr wichtig, dass wir uns dessen immer wieder bewusst sind. Wie Serien wirken können, hat Levi bei „Kleiner Drei“ aufgeschrieben – er fühlte sich durch „Dawson’s Creek“, „Will und Grace“ und „Friends“ weniger allein. Ein wirklich schöner Text über Außenseiter-Sein und Identitätsbildung: „Verschaue deine Jugend“ […]

  4. […] zusammen mit einer guten Freundin von mir (die – und hier schließt sich ein Kreis – bereits hier Erwähnung gefunden hat) sowie mit gutem koscheren Weißwein und allerlei Süßigkeiten. […]