Lyrische Interventionen (4)

Foto , CC BY-SA 3.0 , by Dontpanic

Dies ist der vierte Beitrag unserer Reihe „Gedichte lesen“, in der über Lyrik nachgedacht wird. Heute kommt er von Birte.

Birte lebt in der Nähe von Hamburg, beschäftigt sich mit Queerfeminismus, Human-Animal Studies sowie Kinderbüchern und hätte gern ein Geweih. Birte twittert als @nichtschubsen über dies und noch weniger.

Gedichte sind eine Zumutung. Daniel schrieb schon, dass der Umgang mit Gedichten in der Schule uns fürs Gedichtelesen vermutlich verdirbt. Das ist so eine spezielle Unart, Fremdes einzufangen, zu sezieren und zu analysieren und wenn es dann endlich tot ist, hat man es auch verstanden oder zumindest irgendwie unter Kontrolle gebracht, gestüm gemacht. Es kommt dann heraus, dass die Person, die das geschrieben hat, sich unfassbar viele Gedanken gemacht haben muss, wo doch jede Zeile und jeder Absatz so bedeutungsgeladen ist. An jedem Wort muss sie in einem übermenschlichen Kraftakt jahrelang gefeilt haben. Es wirkt unglaublich anstrengend und dann auch wieder banal. Die paar Zeilen. Sie hätte doch auch einfach hinschreiben können, was sie meint. Was sie wirklich meint. Kann sie das überhaupt gemeint haben?

What the wtf?

Wenn etwas Sprache ist, erwarten wir Verständlichkeit oder dass es überhaupt etwas zu verstehen gibt und dass darin unsere Aufgabe liegt. Wir gehen auch von einer gewissen Verlässlichkeit der Bedeutungen aus und davon, dass wir so ungefähr das gleiche meinen, wenn wir die gleichen Wörter benutzen. Und dass es um Verständigung geht und dass die auch funktioniert. Alles klar.

Gedichte sind eine Zumutung. Weil sie sich an keine dieser Regeln unserer Sprachspiele halten müssen. Sie spielen ein ganz anderes Spiel und zwar ein je eigenes und sie sagen niemandem die Regeln. Sie erfinden sie während des Spiels. Und entweder sitzt du die ganze Zeit auf der Auswechselbank oder du kriegst irgendwann den perfekten Pass zugespielt. Also so empfinde ich es. Ich erkläre mir das so: Jedes Gedicht ist als Kunstwerk ein exklusiver Raum, ein sicherer Raum für den*die Schreiber*in. Er*Sie ist darin geborgen und der Ausschluss nur Selbstschutz, nicht böser Wille. Im Gegenteil kommt der Raum auch gleichzeitig mit einer Einladung. Wobei ich mir da zuerst einen weißen Raum vorgestellt habe, ohne Türen, und jetzt doch eher an ein Wurfzelt denke.

Spielräume

Gedichte sind Wurfzelte. Wenn ich das Gedicht lese, werfe ich das Wurfzelt und entweder, es entsteht ein Raum, den ich betreten kann, oder ein scheinbar nutzloser Haufen Stoff und Glasfaserstangen liegt vor mir auf dem Boden. Währenddessen werfen sich andere Leute perfekte Pässe im Zelt zu (da war ja noch die Sportmetapher). Ihr Spiel kann nicht gestört werden, weil ich nicht gewaltsam durch köpfernes Verstehen eindringen kann – das heißt nicht, dass ich mich nicht nach längerer Beschäftigung in ein Gedicht einlesen kann, aber einmal drinnen möchte ich doch lieber mitspielen, statt mich zu beschweren, dass die Tür (also ich) klemmte. Ästhetik trumps Hermeneutik. Ich möchte mitspielen, weil ich da jemanden oder etwas wiederzuerkennen meine. Das bedeutet nicht völlige Aneignung, sondern Begegnung. Ingeborg, du hier? Hast du Paul mitgebracht? Nach einer Weile merke ich auch, dass Räume, die ich nicht betreten kann, dennoch bewohnt sind und dass das okay ist. Befremdung ist in Ordnung. Ich kann auch mal nur zu Besuch sein oder draußen bleiben. Aber es gibt Räume für mich und da sind andere, die schon auf mich warten und das ist beruhigend. Das klingt nun vielleicht alles sehr harmonisch, aber:

Gedichte sind eine Zumutung. Weil ein Rest Unverfügbarkeit bleibt und sie eben gerade nicht in rationalen Erklärungen aufgehen. Weil die Verlässlichkeit der Bedeutungen aufgehoben wird – Vorsicht, alles ist möglich! Heidegger (ja, leider der) schreibt, dass wir nicht Geräusche an sich hören, sondern die Dinge, die Geräusche verursachen, beim Hören bereits von uns mitgedacht werden (1). Wir können schwer „von den Dingen weghören“. Vielleicht kommt uns das beim Lesen von Gedichten einerseits zugute, weil wir da jemanden, einen Klangkörper mitdenken, mit dem wir resonieren. Aber beim Lesen der Worte lesen wir auch gleich die gewohnten Bedeutungen mit und geraten ins Räsonieren. Gedichte deuten bisweilen von diesen weg, versuchen neue Assoziationen anzurühren. Überhaupt ist das Rühren wichtig. Es stört den Gedanken- und Lesefluss – und das ist dringend notwendig. Für mich sind Gedichte die Kunstform, in der die Relativität des eigenen Weltbildes am deutlichsten wird. Relativität hier in einem doppelten Sinne, einmal als nicht Absolutes, einmal als Beziehungsmöglichkeit.

Unten am Lesefluss

Gedichte sind eine Zumutung. Es ist der Clash von Sprache als Medium der Verständigung und Sprache als Medium der Geborgenheit. Auch dieser Widerspruch stört. Aber die Welt braucht mehr Dinge, die nicht in diese Welt passen, damit die Bequemen, für die alles passend gemacht ist (scheinbar von Natur aus, aber sie waren es selbst), es mal ein bisschen unbequem haben. Und damit Räume für die Unpassenden entstehen. Das versuchen wir zum Beispiel auch durch gendergerechte Sprache, die ebenfalls gern mit „Versteht doch keiner!“ oder „Das stört doch den Lesefluss!“ abgelehnt wird. Ja, bitte, lasst uns den Lesefluss stören! Lasst uns ungestüme Biberxs*innen_außen_oben*unten_links sein, die Dämme bauen, in denen sich die gnädig Mitmeinenden mit ihrer Stromliniensprache verheddern. Und auf die Dämme dann noch Wurfzelte. Lasst uns eine Zumutung sein!

Vor einigen Monaten wurde in Blogs und auf Twitter ein Vorschlag für gendergerechte Schreibweise mit Häme überzogen, die Endung auf -x, bzw. -xs im Plural sowie die Verwendung von Sternchen und Unterstrich zur Markierung problematischer Begriffe (2). Unlesbar! Grotesk! Es geht doch um Inhalte! Ja, aber wo sollen die Inhalte denn rein, wenn kein Raum für sie da ist? In den Köpfen sind sie nicht oder sie wollen da raus. Denn es gibt sie tatsächlich, die Inhalte jenseits des „generischen Maskulinums“. Das ist natürlich beunruhigend für jene, die meinen, damit alles im Griff zu haben, schön glatt, keine Stromschnellen, alles klar am Lesefluss. Für mich waren dieses kleine x, die Lüc_ken und Sterne* eine Befreiung, ein Wurfzelt, und ich habe den Text, an dem sich die ganze Aufregung entzündete, mit Genuss gelesen. Das hatte etwas Lyrisches, weil es irgendwie entlastet war von der Verbindlichkeit der Bedeutungen. Studierx, ich habe eine Ahnung, was das ist, nämlich eine unbestimmte Ahnung von etwas. Ja, das könnte ich sein. Da meißelt jemand an der Sprache rum, da gibt es Risse – „that’s how the light gets in“ (3).

Hol den Vorschlaghammer!

Das ist noch nicht perfekt, aber es entstehen kleine Räume durch lyrische Interventionen. Da passiert etwas Aufregendes! Aber warum die Aufregung? Weil das angeblich nicht mehr funktional ist. Aber ganz offensichtlich ist gender-ungerechte Sprache selbst dysfunktional, weil sie zur Beschreibung der Realität vieler Menschen nicht taugt. Weil sie uns keinen Raum gibt, sondern nur mitmeint. „Man weiß doch, was/wer (mit-)gemeint ist!“ Diese angebliche Bewusstheit, dass es da noch andere gibt, würde ich aber bezweifeln, sonst wäre doch der Schock nicht so groß, wenn wir plötzlich sichtbar werden. Das Wissen hingegen um die Identität von anderen, also die Gewissheit, mit der Zuschreibungen gemacht werden, scheint mir Teil des Problems zu sein. In conclusio: „Man weiß“ einen Scheiß.

Und deshalb bauen wir jetzt hier einfach unsere Dämme und stellen unsere Zelte auf. Wer das nicht verkraftet, sollte sich dringend von ein paar Gedichten befremden, be-rühren und queeren lassen. Es gibt Räume, die sind nicht für mich oder alle da. Das ist für zu viele, nämlich Privilegierte, ein völlig ungewohnter und für noch mehr, nämlich Benachteiligte, ein leider sehr gewohnter Gedanke. Aber alle haben das Recht auf eigene, sichere Räume, solange wir nicht alle in einen Raum passen oder da gar nicht rein wollen, weil er eine verdammte Zelle ist.

(1) In seinem Aufsatz „Der Ursprung des Kunstwerks“.

(2) Den Text mit Verwendung der x-Schreibweise gibt es hier: http://pastebin.com/vYsPWMJQ
Den Sprachleitfaden dazu gibt es hier:
http://feministisch-sprachhandeln.org/wp-content/uploads/2014/03/onlineversion_sprachleitfaden_h u-berlin_2014_ag-feministisch-sprachhandeln.pdf

(3) Zitat aus Leonard Cohens „Anthem“: there’s a crack in everything / that’s how the light gets in

2 Antworten zu “Lyrische Interventionen (4)”

  1. Anna sagt:

    Ich habe selten einen so schönen Blogpost über Gedichte, Unwägbarkeiten und was das alles „soll“ gelesen. Großes Kompliment!! <3