„An jedem einzelnen Tag.“ – Buch und Petition zu Stalking.
Online-Petitionen haben als Form des Aktivismus zwischenzeitlich etwas in ihrem Ruf gelitten. Wer viel in sozialen Netzen unterwegs ist, sah mitunter – gefühlt – alle paar Tage einen neuen Aufruf zur Unterschrift an sich vorbeirauschen. Dabei verliert man schnell aus dem Auge, dass Petitionen, unabhängig von ihrem schlussendlichen politischen Nutzen (und ich würde den nicht generell absprechen) immer auch ein Indikator dafür sein können, dass hier eine Problem vorliegt, das viele Menschen kennen und teilen. Und es ist nicht trivial, wenn eine Petition in nicht mal einem Monat auf eine Unterschriftenzahl von 42.000 kommt, wie es bei der Petition von Mary Scherpe zum Stalking-Paragrafen der Fall ist.
So eine Zahl kommt nicht einfach so zustande – schon gar nicht bei einem Thema, das aktuell nicht in einer breiten Öffentlichkeit besprochen wird, etwa durch einen besonders prominenten Fall. In Blogs und sozialen Medien sieht das schon etwas anders aus, insbesondere wenn man sich mit Menschen unterhält, die sich viel in diesen bewegen. „Ach, du auch…?“ ist beim Gespräch über Stalking mittlerweile ein Satz, der in meinem Bekanntenkreis erschreckenderweise schon mehr als einmal gefallen ist. Und wer nicht schon selbst betroffen war, kennt meist jemanden.
Verteidigung durch Öffentlichkeit:
vom tumblr zum Buch
Mary Scherpe („Stil in Berlin“) hat bereits vor einem Jahr öffentlich gemacht, dass sie einen Stalker hat. In einem tumblr-Blog veröffentlichte sie, ohne große Erklärungen, all seine Kommentare in ihrem Blog, die absurden Postsendungen mit Katalogen und Warenproben, Textnachrichten und Tweets von Accounts, die sie imitieren und verspotten. Wie es dazu kam und warum dieser tumblr die letzte (und letztendlich auch effektivste) Idee war, die ihr zur Verteidigung gegen den Stalker einfiel, hat sie nun als Buch aufgeschrieben: „An jedem einzelnen Tag“ erschien im September 2014.
Sehr offen und persönlich beschreibt sie darin, wie das Stalking anfing, mit Fake-Accounts und Tweets, wie sie sich anfangs wunderte, es absurd fand, um dann mit zunehmender Intensität zu realisieren: hier will mir jemand ernsthaft zusetzen. Auf Tweets folgen Textnachrichten und nächtliche anonyme Anrufe, zahllose Blog-Kommentare und merkwürdige Postsendungen. Scherpe hat eine starke Vermutung, um wen es sich bei dem Stalker handelt, doch stichhaltige Beweise fehlen ihr – dazu ist der Stalker, den sie „Z.“ nennt, zu geschickt. Den oft gegebenen Rat „einfach ignorieren“ zu befolgen, erweist sich schnell als Ding der Unmöglichkeit, zu permanent sind die Belästigungen. „Z.“ reagiert auf alles, was Scherpe online tut, verfolgt jeden ihrer Schritte, ob Foto, Video oder Text. Auf alles folgen hämische, beleidigende oder auch gänzlich absurde Kommentare erfundener Personen. Damit richtet sich „Z.“ direkt gegen Scherpes berufliche Existenz, gegen ihr Leben online, er will sie aus dem Netz drängen. Eine erste Anzeige scheitert, ein für Stalking empfohlener Anwalt ist ratlos. Erst der Schritt zur Veröffentlichung auf tumblr bewirkt eine Veränderung – aber wirklich gestoppt hat sie „Z.“ damit noch lange nicht.
Was das Buch trotz des bedrückenden Themas sehr lesenswert macht, ist die intensive Art, mit der Scherpe ihre eigene Erfahrung reflektiert und Revue passieren lässt. Von anfänglicher Genervtheit zu wachsendem Unglauben, Wut, Ohnmacht und konkreten Ängsten und Einschränkungen teilt sie alles und nimmt dabei auch sich selbst nicht in Schutz. Das zieht beim Lesen stark in die Erzählung hinein und lässt einigermaßen atemlos zurück. Scherpe hat sich intensiv mit dem Problem des Stalking und der aktuellen Rechtslage dazu befasst, teilt auch die Geschichten anderer Betroffener und zieht Parallelen zum Hass, dem viele Frauen online ausgesetzt sind. Auch wenn ihr Fall auf einer persönlicheren Ebene stattfindet, so geht es wie bei umfangreichen Hasskampagnen etwa gegen Anita Sarkeesian auch bei ihr darum, sie aus dem Internet zu verdrängen, sie zum Aufgeben ihres Berufs, ihrer Online-Präsenz, ihrer Stimme im Netz zu bewegen. Mit zum Teil geradezu sadistisch anmutender Beharrlichkeit.
Unzureichende Gesetze ändern
Umso frustrierender zu sehen, wie wenig Hilfe Scherpe erhält – ein Mitglied des Chaos Computer Clubs etwa weist sie darauf hin, dass ja nun niemand bei Facebook sein müsste (in anderen Worten: selbst Schuld) – obwohl genau dies eben Teil ihres Berufsalltags ist (und nichts davon ihre Schuld ist). Und auch die Rechtslage lässt Betroffene von Stalking in Deutschland ziemlich im Stich: da es ihnen obliegt, nicht nur das Stalking, sondern einen erheblichen Schaden nachzuweisen, den der_die Stalker_in ihnen zugefügt hat. Eine Verurteilung kann also, drastisch gesagt, erst dann erfolgen, wenn die Betroffenen bereits existentiell und/oder psychisch geschädigt wurden und das Stalking „Erfolg“ hatte.
Diese Gesetzeslage muss sich ändern, und dafür hat Mary Scherpe mit der Buchveröffentlichung eingangs erwähnte Petition gestartet. Sie soll sich an den Rechtsausschuss des Bundestages wenden und eine Änderung des Stalking-Paragrafen erwirken (natürlich könnt ihr noch unterschreiben). Und hoffentlich findet das Thema (Online-)Stalking auch mit ihrem Buch eine noch breitere Öffentlichkeit – ein verbreitetes Problem ist es wohl bereits.
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