Oh mein Oskar! Oh mein Pastior!

Foto , CC-by-sa 3.0/de , by 0ulip0

Selten hat mich ein_e Dichter_in mit seinem Werk so beeinflusst, beeindruckt und begleitet wie Oskar Pastior. Nur zu gerne möchte ich diese Faszination mit euch teilen. Ein Portrait.

Auf manche Autor_innen kommt man ja über Umwege, vor allem, wenn man Literaturwissenschaft studiert. Mir macht es großen Spaß die Verbindungen von Autor_innen untereinander herauszufinden und sie dann im Werk nachzulesen. Wer war mit wem befreundet? Wer war von wem beeinflusst? Und kann man das irgendwie in den Texten sehen? Als Herta Müller 2009 den Literaturnobelpreis bekam, war sie für mich eine Unbekannte. Aber ich war neugierig: eine Rumäniendeutsche, aha, von ‚dieser‘ Literatur hast du keine Ahnung, dachte ich mir, und besorgte mir schließlich ihren damals aktuellsten Roman „Atemschaukel“. Ich war ja schließlich ein interessierter Student der Literaturwissenschaft und die aktuelle Nobelpreisträgerin – auch noch deutschsprachig – nicht zu kennen, empfand ich als peinlich. Ich las die „Atemschaukel“ und war beeindruckt – so etwas Gutes hatte ich nicht erwartet. Herta Müller beschreibt in ihrem Roman die fiktionale Autobiographie Leopold Aubergs aus Hermannstadt in Rumänien, der mit 17 in ein ukrainisches Arbeitslager deportiert wurde. Erst nach der Lektüre fand ich heraus, dass die Figur Leopold Auberg mitsamt seiner Biographie zu großen Teilen auf dem Leben und den Erlebnissen eines anderen rumäniendeutschen Dichters beruhen: Oskar Pastior. Herta Müller und Oskar Pastior waren eng miteinander befreundet und die „Atemschaukel“ war zunächst als gemeinsames Romanprojekt geplant und begonnen worden – musste durch Pastiors verfrühten Tod jedoch von Müller allein beendet werden.

Oskar Pastior wurde am 20. Oktober 1927 in Hermannstadt (Sibiu) in Siebenbürgen (Rumänien) geboren. Im Januar 1945 wurde er wie 80000 andere Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben in die Sowjetunion (Ukraine) deportiert, wo er fünf Jahre lang im Arbeitslager verbrachte. Über diese Zeit sagte Pastior, dass ihm im Lager die Sprache zerbrach – und dass er das Lager nie wirklich verlassen hat, obwohl er 1949 nach Hermannstadt zurückkehrte. Nach diversen Arbeiten (z. B. als Kistennagler – laut eigener Aussage konnte niemand besser und schneller Auberginenkisten zusammennageln als er) und dem durch Abendkurse nachgeholten Abitur, begann er 1955 in Bukarest sein Studium der Germanistik und Rumänistik, das er 1960 mit einer Arbeit über Thomas Manns „Zauberberg“ abschloss. Danach arbeitete Pastior beim Rundfunk und veröffentlichte in Rumänien seine ersten Gedichtbände „Offne Worte“ (1964) und „Gedichte“ (1966). 1969, schließlich, nimmt Pastior eine Einladung nach Österreich wahr und statt zurückzukehren ins Ceaușescu-Rumänien, ging es über München nach Berlin, wo er bis zu seinem Tod lebte. Durch seine Flucht fiel Pastior natürlich in Ungnade beim rumänischen Regime, wurde wegen Republikflucht zu 2 Jahren Gefängnis verurteilt und sein sich gerade in Vorbereitung befindender Gedichtband „Namenaufgeben“ wurde restlos eingestampft. Aber, kommentiert der Titel des zweiten Bandes seiner Werkausgabe: „Jetzt kann man schreiben was man will.“

Und tatsächlich: Oskar schreibt, was Pastior will. Er wird nicht nur zu einem bedeutendsten Vertreter der experimentellen Literatur, sondern der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur überhaupt. Eher: Lyrik. Denn, wie Pastior im Lesebuch „Jalousien aufgemacht“ bemerkt: „Erstens bin ich gegen diese Gattungstrennungen …, behaupte, frech und munter: alles, was ich schreibe, ist Lyrik, damit das Kind einen Namen hat.“ So erscheinen bis zu seinem Tod dutzende Gedichtbände, Übersetzungen (u. a. von Tristan Tzara, Urmuz, Gertrude Stein, Georges Perec), poetologischere Texte, unzählige Hörspiele und teilweise sogar Texte, die man fast versucht ist als Prosa zu bezeichnen, wären sie nicht von Pastior und damit – ja, auch – Lyrik. 1993/94 darf Pastior eine der berühmten Frankfurter Poetik-Vorlesungen halten und erklärt uns darin „Das Unding an sich“. Schließlich wird ihm 2006 der wichtigste deutsche Literaturpreis, der Büchnerpreis, zuerkannt. Bevor er ihn jedoch entgegennehmen kann, stirbt Pastior am 4. Oktober 2006; seine Dankesrede „Kopf mich zunder kopf mich draht“, im Nachlass gefunden, wird bei der Preisverleihung verlesen und am 23. Oktober 2006 in der Süddeutschen Zeitung abgedruckt.

Um die Faszination des Werks von Pastior nachzuvollziehen, muss man natürlich selbst die Nase in die Texte stecken, da führt hier auch aus urheberrechtlichen Gründen leider kein Weg vorbei – hier gibt es aber auf die Schnelle einen kleinen Vorgeschmack, der natürlich nicht repräsentativ ist. Pastiors Werk ist geprägt vom Sprachspiel, der Wortkunst – ja der Sprachmagie. Er drückt die Worte, bis sie knacken, aufsplittern – und dadurch Unvorhergesehenes preisgeben. Lese ich Pastior, bin ich verblüfft, was die oft und gerne als ‚hässlich‘ bezeichnete deutsche Sprache so drauf hat. Nicht, dass Pastior besonders ‚schön‘ schreiben würde, das natürlich auch, aber es geht viel eher darum, dass er die Sprache an die Grenze treibt – und darüber hinaus. Oder wie es Michael Lentz beschreibt: „Man nehme einen Band Pastior und schlage ihn an beliebiger Stelle auf. Ohne zu zögern, beginne man laut zu lesen, wohin das Auge führt. Das Staunen wird kein Ende nehmen. Was man zu begreifen meint, entzieht sich dem wörtlichen Nachfassen.“ Weil ihm seine Sprache im Lager zerbrach, versucht er sie als sein unlösbares Puzzle immer wieder neu zusammenzusetzen: Das ist mal lustig, mal tieftraurig, mal anstrengend, mal leicht zu lesen; hier streift es klassische Formen, dort den Dadaismus und die Nonsensedichtung. Das mag mal unlesbar erscheinen, ist aber nie ordinär, niemals langweilig. Einsam steht er da, der Pastior, mit seinen Texten in der deutschen Lyrik des 20. Jahrhunderts. Schaut man sich seine Zeitgenoss_innen an – z. B. Paul Celan, Ernst Jandl oder Günter Grass sogar – dann versteht man, dass sich Pastior mit seinen Texten völlig außerhalb der Pole auf seinen eigenen vom Sichersten ins Tausendste verschlungenen Pfaden bewegte.

Die Besonderheit seines Werkes kann man vielleicht auch an Pastiors Mitgliedschaft in der vornehmlich französischen Autorengruppe Oulipo sehen, über die ich bei der Spreeblick-Aktion „Open Spreeblick“ mal einen Artikel schrieb [Achtung, Exkurs!]: Oulipo ist ein Akronym aus Ouvroir de littérature potentielle und heißt wörtlich übersetzt sowas wie „Werkstatt für potentielle Literatur“. Die Gruppe hat es sich als Ziel gesetzt so genannte Formzwänge zu entwickeln, die als Gebrauchsanweisungen für die Entstehung von Literatur fungieren sollen. Ein einfaches Beispiel wäre Georges Perecs Roman „La Disparition“, den er schrieb, ohne ein einziges Mal den Buchstaben e zu verwenden – hier schreibt der Formzwang quasi selbst den Text. Außerdem steht Oulipo der Mathematik (und auch der Informatik) sehr nahe und versucht mathematische Herangehensweisen für die Literatur fruchtbar zu machen. Pastior war Oulipos einziges deutschsprachiges Mitglied (und ist es noch immer, schließlich erlischt die Mitgliedschaft in der Gruppe nicht mit dem Tod, man ist danach bei den Gruppensitzungen nur wegen Ablebens entschuldigt). Harry Mathews – ebenfalls Oulipote – beschreibt in einem Aufsatz in Pastiors text-und-kritik-Band, dass Pastior und die Gruppe sehr lange brauchten, um überhaupt voneinander Notiz zu nehmen – und das obwohl Pastior eigentlich schon immer im Sinne der Gruppe gearbeitet hatte, „und wenn es Oulipo nicht gegeben hätte, wäre Oskar Pastior durch seinen Scharfsinn und seine Originalität, durch die Mannigfaltigkeit seines Werkes und die exemplarische Natur seiner Bemühungen ohne Schwierigkeiten in der Lage gewesen, ganz allein an seine Stelle zu treten.“ [Exkurs Ende]

Oft entwickelte Pastior eigene Formen und Formzwänge für eigene Gedichtbände. So schreibt er mit „Kopfnuß Januskopf“ einen Band voller Palindrome – Texte also, die sich vorwärts wie rückwärts lesen lassen (und in diesem Falle oft so raffiniert, dass man das noch nicht einmal merkt); schreibt in „Urologe küsst Nabelstrang“ Anagrammgedichte; lässt in „Eine kleine Kunstmaschine“ Reimwörter oulipotisch in Sestinen permutieren, bis einem schwindelig wird; fertigt in „33 Gedichte“ Übersetzungen von Petrarca an, ohne Italienisch zu können; treibt es mit Baudelaire in „o du roher iasmin“ fast noch bunter; bis er in „Der krimgotische Fächer“ unsere aller Mehrsprachigkeit zusammenwirft und eine Pseudoform des Krimgotischen präsentiert, die uns fremd und vertrauter kaum sein kann oder beschreibt – meine persönlichen Favoriten – in den „Gedichtgedichten“ Definitionen von Gedichten, die selbst gar nicht existieren, aber das ist gar nicht schlimm, begegnen wir in ihnen nämlich trotzdem solchen Gestalten wie der wesentlichen Katze im ‚Lauftextgedicht‘ oder der Ornipse im ‚Lustigen Vogelgedicht‘. Und das ist nur ein Ausschnitt.

Es gibt aber noch eine andere Seite des Oskar Pastior. Die bereits genannten noch in Rumänien veröffentlichten Gedichte erinnern teilweise (nicht immer, nie ganz) an auf Kurs gekämmte Propagandagedichte, die in seiner Werkausgabe (leider gekürzt) wieder lesbar gemacht wurden. So schreibt der Herausgeber Ernest Wichner über diese Gedichte und warum er ihren Umfang kürzte: „Mir reichte die Mitteilung, daß es diese Texte von Oskar Pastior gibt, ich würde sie in einer zu Lebzeiten des Dichters veranstalteten Werkausgabe, fehlten sie, nicht vermissen.“ Denn er könne verstehen, dass ein Dichter solche unter den Umständen der Propaganda und Zensur geschriebenen Gedichte nicht mehr veröffentlicht sehen will (philologisch und literaturwissenschaftlich natürlich ein Jammer). Es ist aber ebendiese Zeitspanne, die nach Pastiors Tod zu einem Skandal führte, denn, so stellte sich heraus, Pastior war IM, Informeller Mitarbeiter des rumänischen Geheimdienstes Securitate und damit ein Spitzel. Der mit ihm befreundete Schriftsteller Dieter Schlesak zeichnet ein düsteres Bild in der FAZ; Oskar Pastior hätte unter dem Namen „Otto Stein“ Berichte über ihn verfasst und hätte durch seine Arbeit für die Securitate auch den Selbstmord des Dichters Georg Hoprich mit zu verantworten – ein sehr schwerer Vorwurf.

Die Oskar-Pastior-Stiftung, die eigentlich den Oskar-Pastior-Preis vergeben soll, widmete der Aufklärung von Pastiors Securitate-Vergangenheit ein Forschungskolloquium, dessen Beiträge mittlerweile gesammelt in einem Sonderband der Zeitschrift „text + kritik“ unter dem Namen „Versuchte Rekonstruktion“ erschienen – denn unter diesem Titel fand sich eine handschriftliche Notiz Pastiors über seine Erinnerungen an den ‚Ekelkomplex‘ Securitate. In diesem Band werden nun minuziös die Hintergründe und Akten beleuchtet: Der selbst bespitzelte Pastior wurde 1961 von der Securitate entführt und verhört, er gab zu staatsfeindliche Gedichte (über seine Zeit im Arbeitslager) geschrieben und anderen Menschen zugänglich gemacht zu haben und willigte – wohl aus Angst sonst verhaftet zu werden – ein zum Informanten der Securitate zu werden. Die Autor_innen des Bandes – vor allem Ernest Wichner – betonen allerdings, dass die Informationen, die Pastior der Securitate mitgeteilt hat, für diese völlig nutzlos gewesen sein müssen. So nutzlos, dass aus ihnen keinerlei Nachteil für die Bespitzelten entstanden sein kann, Pastior aber trotzdem durch seine Arbeit geschützt war. Die wenigen von Pastior geschriebenen Berichte lesen sich auch eher harmlos, doch das mag sicher in Angesicht eines skrupelloses Geheimdienstes, der aus nichts alles machen kann, nicht viel bedeuten. Eine wie auch immer geartete Beteiligung oder Mitschuld am Selbstmord von Georg Hoprich könne aber in jedem Falle ausgeschlossen werden. Man sollte dazu noch erwähnen, dass 1958 und 1959 bereits fünf deutschssprachige Schriftsteller_innen aus Siebenbürgen zu insgesamt 95 Jahren Haft verurteilt und Pastiors nicht-regierungskonforme „Russlandgedichte“ bei seiner ebenfalls bespitzelten Kollegin Grete Löw gefunden wurden. Außerdem war Pastior homosexuell. Etwas, das die Securitate zwar anscheinend nie herausfand, das ihn aber auch die Freiheit hätte kosten können. Nach seiner Flucht in die BRD vertraute er sich dem westddeutschen Geheimdienst und der CIA an, um ‚reinen Tisch‘ zu machen und auch, um der Securitate größtmöglichen Schaden zuzufügen.

Trotzdem kann man seine Entscheidung überhaupt für die Securitate gearbeitet zu haben, moralisch verwerflich finden – selbst wenn dadurch niemand anderes zu Schaden gekommen ist. Herta Müller beispielsweise hatte diese Zusammenarbeit abgelehnt und bekam deswegen auch große Schwierigkeiten. Es bleibt letztendlich eine persönliche Frage, wie und ob man eine (moralisch) fragwürdige Schriftstellerpersönlichkeit von seinem Werk trennt – und wie man damit umgeht. Vor ähnliche Probleme stellen uns z. B. auch solche Personen wie Günter Grass, der Mitglied bei der Waffen-SS war; der Theoretiker Paul de Man, der antisemitische Zeitschriftenartikel schrieb oder der Philosoph Martin Heidegger, der mit den Nazis kollaborierte. Im Falle von Pastior macht seine Securitate ihn nicht zu einer Persona non grata für mich, da er scheinbar keinen Schaden angerichtet hat. Zudem erlaube ich mir kein Urteil darüber, ob ich in seiner Situation nicht genauso gehandelt hätte – aus purer Angst. Und letztendlich natürlich auch, weil seine Gedichte mich so beeindrucken – und glücklich machen. Aber das bleibt, wie gesagt, jedem_jeder selbst überlassen.

Ihr solltet ihm trotzdem eine Chance geben euch zu beeindrucken – geht also und lest mehr Gedichte! Lest mehr Pastior! Ich empfehle zum Einstieg besagtes Lesebuch „Jalousien aufgemacht“ oder die von Michael Lentz zusammengestellte Anthologie „durch – und zurück“ – es lohnt sich! Dann werdet ihr auch meine Faszination verstehen.

5 Antworten zu “Oh mein Oskar! Oh mein Pastior!”

  1. pennarsson sagt:

    ein wirklich schöner artikel, den ich trotz (und dann auch wieder: wegen) seiner länge sehr gerne gelesen habe. vielen dank und beste grüße aus Dresden.

  2. Disparu sagt:

    Ja, schließe mich an, sehr vielen Dank für den schönen und ausführlichen Artikel. Deine Begeisterung für den Autor ist in jeder Zeile spürbar und reißt mit. Werde mir auch mal einen Pastior gönnen………:)

  3. sarah sagt:

    schließe mich an: ein sehr schöner artikel, und ich habe lust bekommen ein bisschen pastior zu lesen.

    viele grüße, sarah – wenn du dich an greifswald erinnerst

  4. Sarah Thy sagt:

    Oskar Pastior und auch Herta Müller haben mich ebenfalls schwer beeindruckt.. ihr Werk verdient es auf jeden Fall gelesen zu werden! Danke für den tollen Artikel! :)