„Aber vor allem muß man die Menschen lieben.“ – Gisèle Freund: eine Annäherung

Foto , CC BY-NC-ND 2.0 , by aleph78

Dieser Text ist eine Annäherung an eine Person, ihr Leben und an die Frage, was davon bleibt.

Dieses eine Leben begann 1908 in Schöneberg, damals noch “Schöneberg bei Berlin”, und es endete 2000 in Paris. 91 Lebensjahre und ein paar Monate. Die Person ist die Fotografin und Fotohistorikerin Gisèle Freund, eine der berühmtesten Fotografinnen des 20. Jahrhunderts.

Zahlen und Daten

Aufgewachsen in einer wohlhabenden jüdischen Familie, erhielt sie zum Abitur eine Leica-Kamera und begann schon während ihres darauf folgenden Soziologie-Studiums zu fotografieren, zunächst, um Geld zu verdienen. Als im April 1933 das Berufsbeamtengesetz erlassen wurde, das jüdische Professoren in den Zwangsruhestand versetzte, flüchtete sie nach Paris und promovierte dort. Ihre Promotion trug den Titel La Photographie en France au dix-neuvième siecle (übersetzt Die Fotografie in Frankreich im 19. Jahrhundert, später in Deutschland erschienen unter dem Titel Photographie und bürgerliche Gesellschaft. Eine kunstsoziologische Studie). Sie “war der erste Versuch, das Aufkommen der Porträtfotografie materialistisch zu erklären” und damit “ein Meilenstein in der Erforschung der modernen Bildkultur” (Quelle). In dieser Arbeit kritisierte sie besonders die Scheinobjektivität der Fotografie und beeinflusste so nachhaltig die kritische Betrachtung dieses Mediums. Sie sagte selbst: “Das Bild bleibt ein Bild. Die Wirklichkeit wird vom Bild überdeckt, und das Bild gibt eine falsche Sicht auf die Welt.” Und doch, die Fotografie wurde ihr Medium, mit dessen Hilfe sie ihre Sicht auf die Welt ausdrückte.

In Paris lernte sie die Buchhändlerin und Schriftstellerin Adrienne Monnier kennen, die ihr zur Freundin wurde, und die ihr erste Kontakte zu Schriftsteller_innen vermittelte, und so fotografierte sie 1935 den ersten Internationalen Schriftsteller-Kongress zur Verteidigung der Kultur. Zu jener Zeit war das Gros der Fotografie noch in Schwarz-Weiß, bis ab 1938 der erste Farbfilm in Frankreich erhältlich war und Gisèle Freund begann, in Paris und London Literaturschaffende in langen Sitzungen zu portraitieren, darunter Bertolt Brecht, Walter Benjamin, T.S. Eliot, James Joyce, Virginia Woolf, Stefan Zweig, Paul Éluard und über siebzig weitere in nur eineinhalb Jahren.

Bald darauf, kurz vor Einmarsch der deutschen Truppen in Paris 1940, floh sie zunächst knapp 600 Kilometer in den Süden Frankreichs und schließlich 1942 nach Argentinien. Von dort aus bereiste und fotografierte sie Mittel- und Südamerika, wurde Mitglied der bekannten Fotoagentur Magnum, ging nach Mexico, wo sie bald zum Freundeskreis von Frida Kahlo und Diego Rivera gehörte. 1950 gelang ihr eine Portraitreihe von Evita Perón, mit der sie international Aufmerksamkeit auf sich zog. 1952 kehrte sie schließlich nach Paris zurück und setzte ihre Arbeit mit Schriftsteller_innen fort. Berlin, die Stadt ihrer Geburt, besuchte sie nur noch wenige Male, zuletzt kurz vor Ende ihrer aktiven Zeit als Fotografin Mitte der 1960er Jahre, als sie längst berühmt war für ihre einfühlsamen Portraits und ihre wissenschaftlichen Leistungen. 1963 hatte sie ihre erste große Einzelausstellung, der bis über ihren Tod 2000 viele weitere folgten. Eine dieser Ausstellungen findet nun gerade in der Berliner Akademie der Künste statt.

Eine Annäherung an die Endlichkeit

Eine Annäherung an einen Menschen ist immer eine Annäherung an die Endlichkeit: die der anderen und unsere eigene. Es ist ein Heranpirschen an die Vergänglichkeit des Moments und die Vergänglichkeit unserer selbst.

Und dennoch (oder auch deswegen) wartet auf dem Weg der Annäherung auch die Überlegung, was eigentlich bleibt von uns, wenn wir einmal gehen. In der Frage, ob wir in Erinnerung bleiben durch unser Sein, unser Schaffen, steckt immer auch ein wenig unsere eigene Suche nach dem Wie. Sie erschafft einen Blick, der ganz gezielt sucht in einer Biographie und einem Werk – danach, was davon das physische Dasein der Person überdauert hat.

Mit diesem Blick stehe ich an einem sommerlichen Sonntag im Jahr 2014 in einer Ausstellung von Gisèle Freunds Portraits und Reportagen. Ich gehe nah an Bilder heran, untersuche Details, betrachte Perspektiven, Lichteinfall und Blicke; und trete dann wieder einige Schritte zurück, um mehrere Bilder auf einmal zu sehen im Versuch, einen Kontext herzustellen und Gemeinsamkeiten zu finden. Es ist die Idee, die Person hinter der Kamera in dem zu erkennen, was sie in einem Motiv gesehen und schließlich festgehalten hat.

Schließlich passiert es allmählich, das Wiederfinden dieser Person in den Gesichtern der Abgebildeten: es ist der Lichteinfall, oft spärlich, der nur die Konturen der Portraitierten ausleuchtet und alles andere im Halbdunkel lässt. Es ist die Art, mit der Gisèle Freund Gesichtszüge einfing und abbildete: der wache, leicht spöttische, fast kecke Blick von Virginia Woolf; Samuel Beckett, wie er der Fotografin leicht zugewandt und nachdenklich an einem Fenster steht; die nur scheinbar harmlosen Bilder von Evita Perón vor ihrer Hutsammlung, ihrem Schmuck, ihrer Garderobe und lachend bei der Arbeit für eine Wohltätigkeitsstiftung; und es sind die Blicke von Kindern in einer ihrer frühen Reportagen in der Pariser Kinderbibliothek.

All diese Arbeiten tragen ihren Blick in sich. Einen geduldigen Blick, der eine kleine Abbildung eines Moments festhielt, mit seiner Präzision jedoch Bilder mit lange währender Bedeutung erschuf. Diese Bilder sind deutlich, ohne Distanz zu verlieren; ehrlich und geradlinig, ohne bloßzustellen; beiläufig, ohne beliebig zu sein; schön, ohne zu kaschieren; und besonders in Fällen wie den Portraits von Evita Perón demaskierend, ohne vorwurfsvoll zu sein.

Ganz besonders liebte sie die Literatur und die Literaturschaffenden. Von dieser Liebe erzählt sie in ihren Arbeiten. Nach einer für ihre Bedürfnisse viel zu kurzen Portraitsitzung mit Simone de Beauvoir schrieb sie über das dabei eintstandene Bild: “Wenn das Foto gelungen ist, dann dank der Tatsache, dass ich die Details Ihrer beiden Gesichter so gut kenne. Aber glauben Sie nicht, dass es ausreicht, auf einen Knopf zu drücken, und dass die Fotografie (vor allem die des Porträts) eine technische Angelegenheit wäre.” Sie fuhr fort damit, worauf es ihr ankam bei Portraits von Schriftsteller_innen im Kontext mit deren eigenen Werken: “Wie sieht das Gesicht aus, das diesen Gedanken zum Ausdruck gebracht hat – gibt es Weisheit in diesem Gesicht – Heiterkeit im Blick. Ohne das Bild ist es schwierig, sich den Körper vorzustellen, in dem der Geist eingeschlossen ist.”

Mit dieser Denk- und Herangehensweise bildete sie, die sich selbst als Foto-Reporterin sah, vordergründig die Lebens- und Arbeitswelt der Portraitierten ab. Und so spricht gleichzeitig jedes ihrer Bilder von ihrer Liebe zu den Menschen und trägt am Ende unabhängig von den Abgebildeten ein Stück von ihr in sich.

Die kollektive Erinnerung

Ein weiteres Beispiel für die Art der Begegnungen zwischen Freund und den von ihr Portraitierten ist ihre Arbeit mit James Joyce. Der überliefert kamerascheue Autor hatte sich wie im Rahmen der Ausstellung geschildert erst nach einigem Widerstreben 1938 und 1939 in mehreren Sitzungen von ihr fotografieren lassen. Nach einer dieser Sitzungen hatte Gisèle Freunds Taxi einen Unfall, bei dem ihre Kamera zu Boden fiel. In ihren Arbeitsnotizen schilderte sie, wie sie daraufhin Joyce anrief: “Mr. Joyce, you damned my photos — you put some kind of a bad Irish spell on them and my taxi crashed. I was almost killed and your photos are ruined.” (“Mr. Joyce, Sie haben meine Fotos verflucht – Sie haben sie mit irgendeinem irischen Zauber belegt und mein Taxi hatte einen Unfall. Ich wäre beinahe gestorben und Ihre Fotos sind ruiniert.”) Die Sitzung konnte später nachgeholt werden, Joyces Begeisterung hielt sich aber wohl in Grenzen. Doch eines der bis heute bekanntesten Bilder, auf denen er zu sehen ist, entstand während einer dieser Sitzungen: James Joyce mit Brille und Lupe vor einem Bücherregal, eine Fotografie, die 1939 auch Cover des Time Magazine war.

Und am Ende sind es immer die Bilder: Bilder, die dutzendfach gedruckt wurden und sich langsam in unsere Gedächtnisse eingebrannt haben: Simone de Beauvoir im Halbdunkel mit Notizblock, am Tag der Verleihung des Prix Goncourt. Virginia Woolf im Profil mit Zigarettenspitze, neben ihr ein Stapel Bücher. Eva Perón mit offenem Haar, vor einem Spiegel sitzend. Henri Matisse mit Wollmütze und grauem Bart, sitzend, den Kopf leicht schräg gelegt.

Es sind Bilder bekannter Menschen und großer Persönlichkeiten, Abbildungen von Ausschnitten aus ihrem Leben, mit denen diese uns in Erinnerung geblieben sind. Die häufig in Farbe und meist ganz privat in deren Häusern und Wohnungen entstanden Fotografien von Schriftsteller_innen, Maler_innen und Philosoph_innen erlauben so Rückschlüsse auf deren Sein und sind bei Menschen wie Joyce und Woolf so stark in unser Bewusstsein eingedrungen, dass sie nahezu für die Portraitierten selbst stehen. Gisèle Freund hat uns durch ihre Arbeit und ihren Umgang mit diesen Menschen diese Erinnerungsmöglichkeit erst gegeben. Was sie uns ebenfalls gegeben hat, ist bisweilen noch ein ganz anderes Bild dieser Menschen – wie im Falle von Joyce, den sie einmal auch mit Familie und hüpfendem Hund im Garten fotografierte.

Was bleibt

Was von Gisèle Freund bleibt, sind ihre Fotografien und die Biografie eines bewegten Lebens. Sie war “Die Frau mit der Kamera”, wie der Titel ihrer 1970 veröffentlichten Biografie lautet (Originaltitel: “Le monde et ma caméra” (“Die Welt und meine Kamera”)). Sie bewegte sich beruflich stets zwischen Fotojournalismus, Kunst und Wissenschaft und schrieb doch selbst: „Mein Lebtag habe ich mich dagegen gewehrt, als Künstler angesehen zu werden“. Ihr Leben wurde stark geprägt von den politischen und sozialen Umbrüchen ihrer Zeit. Sie galt als emanzipiert, feministisch und links. “… [I]n schwierigen Lebenssituationen [hat sie sich] entschlossen auf den Weg gemacht und damit den weiteren Verlauf selbst bestimmt” (Quelle).

1977 schrieb sie, was heute mehr denn je gültig ist:  “Heute sind Photoapparate automatisiert, so daß man kaum ein Bild verderben kann. Aber das, was man auf dem Bild sehen wird, hängt vollkommen von dem Auge hinter der Kamera ab. Ich glaube, daß für den Beruf eines Photojournalisten eine solide allgemeine Grundbildung unbedingt nötig ist: Kenntnisse in Soziologie und Psychologie, Beherrschung von Fremdsprachen und die Fähigkeit, sich in allen Lagen zurechtzufinden. Aber vor allem muß man die Menschen lieben”. Am Ende war Fotografie für sie etwas Persönliches, etwas, mit dessen Hilfe sie ihre Gefühle für andere Menschen ausdrücken konnte. Sie sagte: “I want to show what is close to my heart, man’s joys and sorrows, his hopes and fears.” (“Ich möchte zeigen, was mir am Herzen liegt, die Freuden und Sorgen, Hoffnungen und Ängste der Menschen.”)

Gisèle Freund hat die Menschen geliebt, davon spricht jedes einzelne ihrer Bilder. Nie hat sie aufgegeben erfahren zu wollen, was sich hinter einem Gesicht verbirgt. Für sie waren Liebe und Freundschaft die beiden Dinge, für die es sich lohnt zu leben. Sie war eine der großen Frauen des 20. Jahrhunderts, deren Wirken sie überdauert hat. Und das ist schließlich das Wesen großer Kunst.

Die Ausstellung

Gisèle Freund. Fotografische Szenen und Porträts | Flyer zur Ausstellung

Akademie der Künste, noch bis zum 10. August 2014

Standort Hanseatenweg (Hanseatenweg 10, 10557 Berlin)
Eintritt 6€ (ermäßigt 4€, frei bis 18 Jahre und dienstags von 15-19 Uhr), Dienstag bis Sonntag 11-19 Uhr

Führungen: Mittwoch 18 Uhr, Sonntag 11 Uhr, 2€ zzgl. Eintrittspreis

Weiterführende Links

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Eine Antwort zu “„Aber vor allem muß man die Menschen lieben.“ – Gisèle Freund: eine Annäherung”

  1. Sunny sagt:

    Danke für diese sorgfältige Betrachtung und Beschreibung! <3