Hunger (1)

Foto , CC BY 2.0 , by William Hall

Dies ist ein Beitrag aus unserer Rubrik kleinergast, in der wir alle Gastartikel veröffentlichen. Bei diesem Text handelt es sich um Teil 1 von 2; der zweite Teil wird heute in einer Woche veröffentlicht ist hier zu finden. Die Autorin möchte anonym bleiben.

Triggerwarnung: Essstörungen, negatives Körperbild, Selbstverletzung

Anmerkung 1: Hilfe bei Essstörungen findet ihr u.a. über die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), die auch über eine anonyme Hotline schnelle Hilfe bietet, sowie über Hungrig Online e.V., die hier Krisendienste auflisten. Weitere Links für Betroffene und Angehörige findet ihr im Anschluss an den Text in einer Linkliste.

Anmerkung 2: In diesem Text werden viele Ansichten und Gedanken aus der Perspektive der Autorin während ihrer Essstörung beschrieben. Diese sind weder wissenschaftlich haltbar noch sinnvoll oder auch nur ansatzweise vernünftig, im Gegenteil, sie sind völlig irrational. Unter der Essstörung erschienen ihr diese jedoch völlig plausibel.

The beginning of the beginning

Ich kann mich noch genau an den Tag erinnern, an dem ich beschloss, abzunehmen.

Neun Jahre war ich alt, ein groß gewachsenes Kind, und “stabil”, wie meine Oma immer sagte: sportlich, mit athletischem Körperbau, aber eben anders – nicht so zierlich wie die anderen Mädchen in meiner Klasse, nicht so schlaksig wie die Jungs in meinem Alter, ein bisschen stämmig eben. Das war in meiner Erinnerung schon immer so gewesen: bis heute erinnere mich sehr genau daran, wie ich mit vier Jahren nach einem überstandenen Infekt in den Kindergarten zurückgekommen war. Die Erzieherin begrüßte mich mit den Worten: “Du hast ja abgenommen, jetzt siehst du richtig gut aus.”

Am Tag, an dem ich beschloss, abzunehmen, hatten wir Mathe-Unterricht, es ging um die Addition und Subtraktion größerer Zahlen. Für eine Aufgabe sollte jede_r aus der Klasse ihr_sein Gewicht nennen, das auf der Tafel neben dem Namen notiert wurde. Die Idee war, damit später Berechnungen durchzuführen, zum Beispiel zum Gesamtgewicht der Klasse. Reihum wurden alle aufgerufen. Ich hörte die Zahlen, die die anderen nannten: 30, 32, 36 Kilogramm. Aus meiner letzten Untersuchung beim Kinderarzt wusste ich, dass ich 45 Kilogramm wog. 33, 38, 35. Ich begann, mich zu schämen. Als ich aufgerufen wurde, sagte ich: “35”. Dass ich damals die Größte in meiner Klasse war, ein sehr gesundes Kind und mein Gewicht völlig in Ordnung war, habe ich erst sehr viel später verstanden. Ich habe mich einfach nur geschämt, weil ich anders war als die anderen.

Das war der Tag, an dem ich beschloss, abzunehmen.

Arten und Häufigkeit
von Essstörungen in Deutschland

Es gibt verschiedene Formen von Essstörungen, unter denen drei Hauptformen unterschieden werden: Magersucht (Anorexie, Anorexia nervosa), Bulimie (Bulimia nervosa) und Binge-Eating-Störung (Binge Eating Disorder). Sie alle können ineinander übergehen oder sich abwechseln (ähnlich wie bei mir entwickelt sich zum Beispiel aus einer Magersucht in 20% der Fälle eine Bulimie). Eine Unterscheidung ist auch schwierig, da es häufig Mischformen gibt und / oder bei Betroffenen nicht alle typischen Merkmale ausgeprägt sind. Was alle Essstörungen gemeinsam haben: Essen bestimmt das Leben der Betroffenen. Den Tagesablauf, die Gefühle, die Beziehungen zu anderen und Entscheidungen. Alles dreht sich um Essen, Nicht-Essen und das Dazwischen. Menschen mit Essstörungen “tragen ihre inneren Spannungen auf dem ‘Schlachtfeld Körper’ aus” (Quelle).

Ähnlich wie bei anderen psychischen und / oder psychosomatischen Erkrankungen ist es schwer zu sagen, wie viele Betroffene es in Deutschland gibt. Nur eines ist sicher: die Dunkelziffer ist hoch. Bereits 21,9% der 11- bis 17-Jährigen weisen Symptome einer Essstörung auf – bei den Mädchen 28,9%, bei den Jungen 15,2%. Knapp die Hälfte der Mädchen fühlen sich zu dick, obwohl sie normalgewichtig sind (Quelle). Im Jahr 2000 wurden in deutschen Krankenhäusern insgesamt 5.363 Fälle von Anorexie und 2.726 Fälle von Bulimie diagnostiziert (Statista). Die Universität Ulm spricht bei Frauen zwischen 15 und 35 von einer Häufigkeit für Anorexie von 0,5-1%, für Bulimie 3 bis 4% und für Esssucht von 6%. Zudem verzeichnet sie einen steigenden Anteil männlicher Betroffener (Quelle).

Kontrolle und Kontrollverlust: der Prozess

Vom Tag des Mathe-Unterrichts an achtete ich auf meine Ernährung. Ich aß möglichst viel Salat, Gemüse und Obst. Süßigkeiten lehnte ich ab mit der Begründung, kein Süßes zu mögen und aß sie dafür immer häufiger heimlich. Ich fing an mir mein eigenes Universum aus Ge- und Verboten zu bauen, in dem alles egal war, Hauptsache ich wurde dünner. Zu Beginn meiner Pubertät mit 12 kannte ich Kalorientabellen auswendig und trieb regelmäßig Sport. Mit 14 beschloss ich, dass das nicht ausreichte. Ich machte mehr Sport. Sehr viel mehr Sport. Täglich ging ich trainieren: zwei Mal die Woche Volleyball, zwei Mal Tennis, drei Mal Joggen, zusätzlich machte ich jeden Tag eine Stunde lang Fitness-Übungen. Ich fing an, mich täglich zu wiegen und mein Gewicht zu notieren. Doch es brachte nicht das, was ich erhofft hatte. Ich nahm nicht ab.

Ich fing an, mein Essen stärker zu kontrollieren. Bald aß ich nur noch ausgesuchte Lebensmittel: zum Frühstück Müsli, dann den ganzen Tag nichts und schließlich abends noch eine Portion Reis mit Gemüse. Erste “Erfolge” machten sich bemerkbar – nach und nach verlor ich ein wenig Gewicht. Doch es war mir längst nicht genug. Immer noch hatte ich diese kräftigen Oberschenkel, die ich so hasste, mein Bauch war immer noch nur dann flach, wenn ich ihn einzog, mein Gesicht immer noch rund. Mit 15 entschloss ich mich zu einer radikalen Änderung. Ich reduzierte mein Essen immer weiter. Einige Wochen lang aß ich noch morgens ein paar Löffel Müsli, abends ein paar Löffel Reis, ich begann, Lebensmittel wegzuwerfen, mir beim Essen mit meiner Familie Ausreden auszudenken (“ich habe schon gegessen”, “mir ist nicht so gut” etc.). Ich nahm ab.

Interessanterweise waren mir derweil das Gewicht, die Körper meiner Freund_innen völlig egal. Ich mochte sie, ich hatte sie gern, egal wie sie aussahen. Bei mir selbst hingegen zählte bald nichts anderes mehr als mein Körper, der immer schmaler, und mein Gewicht, das immer niedriger sein musste.

Alarmiert durch mein exzessives Sportprogramm hatten meine Eltern schon früh begonnen, sich Sorgen zu machen. Sie sprachen mit mir, ohne irgendetwas dadurch zu erreichen – außer, dass ich mich noch mehr von ihnen zurückzog, mich abschottete, ganze Tage damit verbrachte, zu trainieren und Rezeptbücher zu durchblättern, mit Essen, das ich nie anrühren würde. Als ich schließlich nur noch sehr wenig aß, brachten sie mich zum Arzt. Dessen Diagnose war eindeutig:

Anorexia nervosa – Magersucht

„Anorexie“ bedeutet wörtlich „Appetitverlust oder -verminderung“, irreführenderweise, da nicht unbedingt der Appetit, sondern in erster Linie das Essverhalten gestört ist. Gekennzeichnet wird sie durch einen starken Gewichtsverlust, hervorgerufen durch den Versuch, immer weiter Gewicht zu verlieren (mehr dazu hier). „Etwa [25 Prozent] der [Patient_innen] kann nicht geheilt werden. 10 Prozent versterben, meist nachdem sie aufgrund des Hungerns auch körperlich sehr krank geworden sind: Herzschäden mit Herzversagen, Hormonveränderungen, Osteoporose mit Rippen- oder Wirbelbrüchen in jungen Jahren können Folgen einer Magersucht sein.” (Quelle)

Ungefähr das alles sagte der Arzt. Und dann noch dies: eine stationäre Therapie sei sinnvoll, wann genau ich diese antreten könne, wisse jedoch niemand.

Kirschjoghurt: Klinik 1

Mein Gesundheitszustand war zu dieser Zeit recht stabil, mein BMI zwar an der Grenze zum Normbereich (ja, der BMI wird weiterhin als Kriterium für die Dringlichkeit der Aufnahme in eine Klinik verwendet – trotz aller Kritik). Die Wartezeit auf einen Platz in einer auf Essstörungen spezialisierten Klinik sollte daher mindestens vier Monate betragen. Ich hatte Glück: zehn Wochen später wurde ich in einer Klinik aufgenommen. Anfänglich weigerte ich mich zu essen, nach drei Tagen aß ich schließlich nach gutem Zureden einen Kirschjoghurt. Von da an aß ich mit den anderen Patient_innen gemeinsam am Tisch. Eine Ernährungsberatung oder mit Hilfe eines Plans das Essen wieder zu lernen hatte ich erbeten, um mich sicherer zu fühlen. Nach fünf Jahren mit einer Diät nach der anderen hatte ich keine Ahnung mehr, was es hieß “normal” zu essen. Diese Art von Unterstützung wurde aber von meinen Ärzt_innen und Therapeut_innen als nicht notwendig angesehen: ich solle einfach “auf meinen Körper hören”, dann würde ich schon merken, wann ich genug gegessen hätte. Ich hatte also Einzel- und Gruppentherapiegespräche und mein Zustand wirkte bald wieder stabil. Nach zwei Monaten wurde ich entlassen, ich hatte vier Kilo zugenommen, nach Eindruck der Ärzt_innen hatte ich meine Krankheit wieder im Griff und sollte nun wieder in den Alltag zurückkehren, um das in der Klinik Erlernte anzuwenden.

Essen im Kopf: Rückfall

Doch der Schein trog. Binnen der folgenden drei Monate verschlimmerte sich mein Zustand rapide. Nur wenige Wochen nach meiner Entlassung hatte ich meine Nahrungsaufnahme wieder drastisch eingeschränkt, bis ich schließlich gar nichts mehr aß. Mein Gewicht fiel, fiel, fiel. In den zwei Monaten seit meiner Entlassung nahm ich weitere 20 Kilogramm ab. Es war mittlerweile Frühherbst – und mir war nur noch kalt. Sehr kalt. Ich trug mehrere Strumpfhosen unter meinen viel zu weit gewordenen Hosen, dazu Skiunterwäsche und mehrere Pullover. Trotzdem saß ich zitternd im Schulunterricht. Die Treppen zu unserem Klassenzimmer kam ich kaum mehr hoch, ich konnte mich auf nichts konzentrieren. Heimlich schaute ich Kochsendungen im Fernsehen, las Kochbücher, schrieb Rezepte daraus ab, ich träumte von Mahlzeiten, in meinem Kopf war nichts mehr als Essen. Meine sehr langen Haare fielen bis auf wenige Strähnen aus, mir wuchsen überall am Körper kleine, feine Härchen. Ich konnte auf keinem Stuhl mehr sitzen, da meine Beckenknochen so stark hervortraten und ich überall blaue Flecke hatte. Meine Menstruationsblutung hatte ich schon lange nicht mehr.

Bisweilen kamen Tage, an denen mir dämmerte, was geschah. Dass ich keinerlei Kontrolle mehr darüber hatte, was ich tat. Doch selbst wenn ich an diesen Tagen einmal wollte: ich konnte nicht mehr essen. Eines Abends dann war ich in meinem Zimmer. Ich konnte nicht mehr, ich war körperlich und psychisch am Ende. Meine Gedanken kreisten nur noch ums Essen, in meinem Bauch war Leere. Ich wollte so gerne, dass das aufhörte, aber da war etwas in mir, das mir alles verbot und gegen das ich nicht ankam. In meiner Verzweiflung schlug ich mit den Fäusten gegen die Zimmerwände, so lange, bis mir die Fingerknöchel aufplatzten, bis mein Vater hereinkam, mich in den Arm nahm und wir schließlich reden konnten. Ich hatte gegen die Wände geschlagen, weil dieser körperliche Schmerz so stark war, dass ich den Schmerz tief in mir nicht mehr spüren musste. Ich hatte mich verletzt, weil dieser körperliche Schmerz wenigstens einer war, dessen Ursache ich erkennen und zuordnen konnte, während mein psychischer Schmerz so diffus und nicht zu greifen war. Einen Tag später kam ich in eine Klinik. Die Ironie: mein körperlicher Zustand war inzwischen so problematisch, dass ich nicht mehr auf einen Therapieplatz warten musste. Mein BMI lag inzwischen bei 14,2.

Klinik 2: “Sind Sie jetzt glücklich?”

Als ich in der Klinik ankam, wollte ich unbedingt wirklich gesund werden – aber am liebsten, ohne dabei essen zu müssen.

Nach einer Woche in der Klinik drohten mir die Ärzte: sollte ich weitere 300 Gramm abnehmen, würde mir eine Magensonde gelegt. Ich müsse endlich zunehmen und zwar sofort. Sie legten mir einen detaillierten Plan vor, der ein Bestrafungssystem vorsah: war meine Gewichtszunahme im grünen Bereich, durfte ich mein Zimmer verlassen und an den Aktivitäten der Patient_innen teilnehmen – zum Beispiel der Kunsttherapie, den Nachmittagen im Werkraum oder Lesungen. Lag meine Zunahme unterhalb des definierten Bereichs, hatte ich strengste Bettruhe zu halten. Ohne Ausnahme. Alleine diese Vorstellung erschien mir als sehr, sehr grauenvoll.

Am selben Tag noch hatte ich ein Therapiegespräch. Mein Therapeut schickte mich ins Badezimmer und forderte mich auf, in den Spiegel zu schauen. Dann fragte er mich: “Und jetzt, wo Sie so viel abgenommen haben – sind Sie jetzt glücklich?” Und da sah ich mich: die hervorstehenden Schlüsselbeine, die eingefallenen Wangen, die dünnen Haare, den leeren Blick, die Gänsehaut am ganzen Körper. Und ich hatte die Drohung der Ärzte immer noch im Hinterkopf. Am nächsten Morgen fing ich wieder an zu essen. Ab da nahm ich wieder am Essen mit der Gruppe auf der Station teil. Meine Gewichtszunahme lag schon kurz darauf sogar deutlich über dem grünen Bereich. Doch ich bezahlte einen hohen Preis dafür. Meine Ärzte lobten mich, während ich Qualen litt. Ich aß nun zwar, aber ich hätte all das Essen wahnsinnig gerne erbrochen. Und ich konnte nicht.

Also fing ich an, in meinem Krankenzimmer hin und her zu laufen. Hin und her und hin und her. Ich konnte keine Sekunde stillsitzen. Selbst wenn ich telefonierte, las oder Tagebuch schrieb, lief ich währenddessen weiter.

Der Linoleum-Fußboden in der Abteilung war gerade erst neu verlegt worden, nach einigen Wochen kam eine Krankenschwester herein und lachte, dass der Boden in meinem Zimmer so glatt sei. Sie ahnte nicht, warum – er war glatt geschliffen, da ich den ganzen Tag darauf hin und her lief. Wenn es draußen dunkel wurde, konnte man die Spuren auf dem Boden sehen, in denen ich meine Kreise zog. Der Zwang, zu laufen, quälte mich. Doch ich hatte solche Angst davor, mit Bettruhe oder ständiger Beobachtung bestraft zu werden, dass ich niemandem davon erzählte. Abends fiel ich völlig erschöpft ins Bett. Ich schlief nur kurz, denn am nächsten Tag würde ich wieder essen müssen. Also musste ich schon so früh wie möglich wieder loslaufen. Mein einziger Lichtblick in dieser Zeit war die eine Stunde Kunsttherapie jede Woche, in der ich malen durfte, eine Stunde, in der ich mich entspannen konnte. Nach vier weiteren Monaten Einzeltherapie, Gruppentherapie, Bewegungstherapie, Entspannungstherapie wurde ich entlassen. Während des viermonatigen Klinikaufenhalts hatte ich zweiundzwanzig Kilo zugenommen – viel zu viel für diese kurze Zeit, viel zu viel für meinen Körper und erst recht für meine Psyche.

Zwei Monate nach meiner Entlassung bekam ich mit viel Glück einen ambulanten Therapieplatz.

Fünf Monate nach meiner Entlassung lernte ich, zu erbrechen.

Wie kommt es zu Essstörungen?
– Hintergründe & Ursachen

Wichtig ist, dass “die Ursachen für Essstörungen … immer multifaktoriell und niemals eindimensional zu sehen [sind]” (Zitat). Ich habe nachfolgend einige Quellen zusammengestellt, die unter anderem folgendes zu den Ursachen anführen: “Fast immer wirken mehrere Faktoren zusammen, die das Risiko für [Essstörungen] erhöhen:

Geschlecht: Das Risiko, an einer Essstörung zu erkranken, ist für Mädchen oder Frauen deutlich höher.
Zwillingsstudien belegen, dass genetische Faktoren bei ihrer Entstehung eine Rolle spielen.
Komplikationen in der Schwangerschaft und bei der Geburt, gesundheitliche Probleme in der Kindheit und früh einsetzende Reifung erhöhen das Risiko für eine Erkrankung. Magersüchtige beklagten als Säugling und Kleinkind Magen- und Darm-Beschwerden.
Magersüchtige beschäftigen sich übermäßig mit Figur und Körpergewicht. Familienfaktoren scheinen sich vor allem auf die Schwere der Erkrankungen auszuwirken.
Sexueller Missbrauch und Vernachlässigung sowie psychische Krankheitsanfälligkeit und geringer Selbstwert in der Jugend erhöhen das Risiko für eine Bulimie, ebenso ein eingeschränktes Essverhalten, z. B. Vermeiden bestimmter hochkalorischer Nahrungsmittel.” (Quelle)
“Die Krankheit ist ein Versuch Autonomie zu bekommen.” (Quelle)
“Anorektiker haben oft einen extrem hohen Anspruch an sich selbst und das Gefühl, diesem Anspruch nicht gerecht werden zu können. Also werten sie sich ständig ab. Die Flucht in den selbstgewählten Hunger ist dann das einzig Positive – dabei haben sie Kontrolle über sich.” (Quelle)

Wichtig ist, zu verstehen, dass eine Essstörung ein Symptom darstellt – eine Strategie, um tiefgreifende Probleme zu lösen. Es ist quasi unmöglich, allgemein zu sagen, welche Probleme das sind, diese sind höchst individuell. Und das macht die Behandlung von Essstörungen auch sehr, sehr schwierig.

Person mit Essstörungshintergrund

Ähnlich wie oben geschildert verhält es sich bei mir. Inzwischen habe ich zu großen Teilen sortiert und begriffen, was meine Essstörungen begünstigte und dafür sorgte, dass der Gedanke, unbedingt noch dünner sein zu wollen, irgendwann mein gesamtes Leben bestimmte. Es war eine Vielzahl von Faktoren, die hierbei eine Rolle spielten: ein geringes Selbstwertgefühl, das allein daran geknüpft war, Lob für Leistung zu erhalten; ein ausgeprägtes Streben nach Harmonie und das starke Bedürfnis, gefallen zu wollen (charakterlich und optisch); hinzu kamen Traumata aus meiner Kindheit und das soziale Umfeld, in dem ich aufwuchs – um nur einige zu nennen. Mir ist sehr bewusst, dass das hier eine sehr distanziert wirkende Aufzählung ist. Aber, ganz ehrlich: ich habe das inzwischen so oft durchgekaut, mit so vielen Therapeut_innen darüber gesprochen, dass ich es kaum mehr als Teil von mir sehen kann. Hinzu kommt, dass vieles, was als Auslöser in Frage kommt, schon sehr, sehr lange her ist.

Die Medien™

Im Zusammenhang mit Essstörungen werden häufig die Medien und die Werbung genannt, die bestimmte Körperbilder und Schönheitsideale glorifizieren, proklamieren, verbreiten. Es gibt dazu zwar eine recht bekannte Studie von den Fidschi-Inseln (Details hier und hier), wie sehr medial verbreitete Bilder die Verbreitung von Essstörungen beeinflusst, ist leider dennoch weiterhin nicht abschließend geklärt: “Essstörungen sind in westlichen Industrienationen deutlich häufiger. Deshalb wird angenommen, dass das dortige Schönheitsideal von einem extrem schlanken Körper das Erkrankungsrisiko erhöht.” (Quelle)

Ich kann dies daher auch nur für mich zu erklären versuchen. Ich weiß, dass ich aufgrund meiner physischen und psychischen Disposition labil und stark beeinflussbar war. Ich habe auch früh angefangen, mich mit meinem eigenen Körper und diesem im Vergleich zu anderen auseinanderzusetzen. Und: ich weiß, dass ich sehr früh Bilder von Models in Zeitungen und Zeitschriften sah und wusste, dass ich so aussehen wollte wie sie. Und dass ich das um jeden Preis wollte.

Diese Bilder waren dennoch nicht der Auslöser meiner Essstörung, und irgendwann hatte sie sich ohnehin so weit verselbstständigt, dass sie von der Idee einer „Model-Figur“ ganz weg war.

Jetzt

Jetzt, viele Jahre später, weiß ich: mit Entlassung aus der zweiten stationären Behandlung fing der schlimmste und langwierigste Teil meiner Essstörung erst an. Mehr dazu in Teil zwei.

Dies war der erste Teil der Kurzserie “Hunger”. Der zweite und letzte Teil folgt heute in einer Woche. Den zweiten und letzten Teil findet ihr hier.

Linkliste

Triggerwarnung für alle verlinkten Inhalte: negatives Körperbild, Essstörungen

Für Betroffene
Krisendienste
Anlaufstellen – eine Übersicht
Mailingliste für Betroffene
Liste virtueller Selbsthilfegruppen
Kliniken, Beratungsstellen, Selbsthilfe- und Wohngruppen bei Hungrig-Online und beim Bundesfachverband Essstörungen
Verzeichnis der Kassenärztlichen Bundesvereinigung für die Arztsuche in Deutschland (auch Psychotherapeuten)
Bulimie-Selbsthilfeprogramm “Salut”: hier oder hier
ANAD: therapeutische Wohngruppen
Informationen zu Essstörungen von der BZgA
Dick & Dünn e.V.: Berliner Beratungszentrum bei Essstörungen

Für Angehörige & Andere
Was kann ich als Angehörige_r tun?
Mailingliste für Angehörige
Magersucht aus Sicht der Mutter einer Betroffenen
Informationen für Lehr- und Mittlerkräfte

Allgemein
Ein Interview mit Laurie Penny, u.a. über Essstörungen
Interview mit der Psychoanalytikerin und Autorin („Why Fat is a Feminist Issue“, 1978) Susie Orbach: „Der Körper als Selbstzweck“
Bryony Gordon für „The Telegraph“: „Why Fat is still a Feminist Issue“ (Englisch)
Essstörungen im feministischen Kontext – ein Interview: „Essen wird als Feind wahrgenommen“

6 Antworten zu “Hunger (1)”

  1. MaBu sagt:

    offene und wahre Worte, Danke für diesen Post!

  2. Gast sagt:

    „bis ich gar nichts mehr aß“
    Gerne gebrauchte Ausdrucksweise von Anorektikerinnen, um – ja was? Besonders drastisch zu wirken? Sein Leiden explizit zur Schau zu stellen? Seine Stärke zu präsentieren?

    Physiologisch jedoch unmöglich…

    • Miel sagt:

      Bei Zweifeln darüber, wie drastisch diese Krankheit sein kann, empfehle ich gerne das Gespräch mit (ehemaligen) Betroffenen oder behandelnden Ärzt_innen. Falls du Zweifel an der Ehrlichkeit unserer Autorin hast, kann ich dir leider nur mit Teil 2 weiterhelfen, wo nochmals deutlicher wird, wie die Autorin darüber heute denkt (und dass für sie keinerlei Grund zur Beschönigung oder Prahlerei besteht). http://kleinerdrei.org/2014/02/hunger-2/

    • map sagt:

      Es macht mich traurig, dass hier jemand den Mut hat über Leiden zu sprechen und dann solche Kommentare erntet, die man nur als respektlos und wenig überlegt kategorisieren kann.

    • Auto_focus sagt:

      „Physiologisch jedoch unmöglich“ ist Unsinn. Der Körper kann etliche Tage oder sogar Wochen nur mit Wasser überleben, siehe z.B. bei Hungerstreiks (natürlich hat das gesundheitliche Folgen, aber das ist eine andere Frage).