Auf Inspirationstour mit XOXO

Foto , Fair Use , by XOXO

“XOXO” steht als Grußformel für “Hugs and Kisses” – Umarmungen und Küsse. Seit 2012 gibt es auch eine gleichnamige Konferenz in Portland/Oregon, die Ende September zum 2. Mal stattfand. Ich hatte das große Glück (wortwörtlich), in diesem Jahr daran teilnehmen zu können. Nun sind Berichte von Events, die in der Vergangenheit liegen und bei denen die meisten Leserinnen und Leser nur wenig Chancen haben werden, sie in der Zukunft zu besuchen (zumal nicht mal klar ist, ob es eine dritte Ausgabe geben wird) ja so eine Sache: Schwärmereien, was für eine tolle Zeit ich hatte, sind wohl eher mittelmäßig lesenswert. Nichtsdestotrotz gab es dort viele interessante Ideen und Menschen zu entdecken, die sich alle im Netz tummeln und die zu entdecken sich absolut lohnt – ob mit Konferenz oder ohne.

Eine Konferenz als Fest

Da ist zunächst das Konzept der Veranstaltung selbst. Die beiden Köpfe dahinter, Andy Baio und Andy McMillan, beide seit langem im Internet und in der Techszene mit ihren Ideen unterwegs, hatten offensichtlich genug der gängigen Tech-Konferenzen und Events besucht, um etwas eigenes auf die Beine stellen zu wollen. Eine Veranstaltung, die all das versammelt, wofür sie sich leidenschaftlich einsetzen. Der Weg zur ersten Ausgabe dieser Veranstaltung steht dabei schon für das Thema der XOXO selbst: sie wurde komplett per Ticketverkauf (zu einem nicht unerheblichen Preis, sei dazugesagt) über ein Kickstarter-Projekt finanziert. Der thematische Fokus ist damit umrissen: XOXO will jene wachsende Zahl an Menschen zusammen bringen, die über das Netz ihre eigenen Werke – von Comics bis Videospielen, Soft- und Hardware-Entwicklungen, Crafting, Musik, Film und Literatur – selbständig verbreiten, dort eine Reputation aufbauen und so im besten Fall in die Lage geraten, unabhängig von großen Labeln, Unternehmen und Verlagen ihre Produkte an die Fans zu bringen. “XOXO is an experimental festival celebrating independently produced art and technology” (“XOXO ist ein experimentelles Festival, dass unabhängig produzierte Kunst und Technologie feiert”) heißt es in der Selbstbeschreibung, und dass ist auch genau so gemeint, und so ist auch XOXO selbst gestaltet und organisiert. Vielleicht mag der Duktus dahinter manchen recht amerikanisch erscheinen. Aber es lässt sich nicht leugnen, dass deutsche Kreative, Entwickelnde und Netzmenschen sich im Bereich unabhängiges Produzieren (auch was die Akzeptanz und das Interesse der Konsument_innen angeht) noch eine gute Scheibe abschneiden können.

Mal nur das Wesentliche

Die Programmgestaltung von XOXO ist eher minimalistisch und klar umrissen – ein abendlicher Festivalteil mit je einem Konzert- und Filmprogramm, einem Videogame- und einem Brettspiel-Abend (das mit den Brettspielen funktionierte erstaunlich gut) sowie ein zweitägiger Konferenzteil mit Vorträgen, die einfach hintereinander weg stattfinden, keine parallelen Veranstaltungen. Eine angenehme Erfahrung zumindest für mich, da ich an thematisch ähnlichem nur große Konferenzen wie die re:publica kenne, deren Programm mittlerweile etwas überbordend geworden ist. Andererseits ist dies natürlich nur realisierbar mit einer begrenzteren Teilnehmer_innenzahl (oder einem sehr großen Raum). Die Speakerinnen und Speaker sind jedenfalls das Herzstück der XOXO, und hier sind einige meiner persönlichen Highlights, die ich dringend zur Weitererforschung empfehle.

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Cards against Humanity

Max Temkin entwarf gemeinsam mit Freunden ein Gesellschaftsspiel – einfach mit dem Gedanken, dass sie dieses selbst gerne spielen würden. Über Kickstarter finanzierten sie eine erste Edition – und mittlerweile stehen die morbiden “Cards Against Humanity” schon einige Zeit auf Platz 1 (!) der Kartenspiele auf amazon.com, gemeinsam mit zwei Erweiterungen. Mir war das Spiel bislang komplett unbekannt – es gab eine deutsche Kopie, die allerdings unlizensiert war (mit anderen Worten: geklaut) und die mittlerweile nicht mehr erhältlich ist. Dafür gibt es eine frei erhältliche deutsche Fan-Übersetzung auf der Website (zum Download und selbst drucken) sowie die Möglichkeit, einfach ein selbst geschriebenes Set zu erstellen, unter der Creative Commons Lizenz BY-NC-SA 2.0. Im wesentlichen beschrieb Temkin in seinem Talk, wie es zu “Cards Against Humanity” kam, aber streifte dabei viele Fragen rund um Communities und deren Wirkung, um freie Lizenzen und die Unabhängigkeit des Netzes. Der Talk ist bereits online.

Zeichnen im Web (und für besseren Sex)

Erika Moen ist eine queere Comiczeichnerin, die ich bereits vor der XOXO für ihre neueste Webcomic-Reihe lieben gelernt habe: eine humorvolle Kolumne über Sex(toys), “Oh Joy Sex Toy” (NSFW). Bei XOXO berichtete sie über ihren Weg hin zur freiberuflichen Zeichnerin, der durch ihre autobiographisches Webcomic “DAR!” begleitet und gleichzeitig geebnet wurde. DAR! erschien 2003-2009 zunächst frei im Netz, wurde aber inzwischen auch in zwei Bänden gedruckt veröffentlicht. Hier gibt’s den Talk zu ihrem Werdegang.

Gitarre lernen dank Python

Sind gitarrespielende Menschen unter den Leser_innen, oder solche, die es werden wollen? Dann könnte es jetzt interessant werden: Adrian Holovaty, Jazz Gitarrist und Python-Entwickler (Djangoproject), war es leid, unter seinen Youtube-Videos immer nur die schnodderige Forderung nach “Tabs”, also die Griffbeschreibung für das Gitarrenstück, zu lesen. Er entwickelte die ausgefeilte Web-App Soundslice, auf der sich Youtube-Videos einbetten und gleichzeitig die Griffe zu den gespielten Stücken in animierter Form darstellen und nachvollziehen lassen. Ein Stück musikalische Internetmagie (wenn man denn etwas von Musik versteht – ich leider weniger).

Mathemusic

Wenn ihr bis hierhin gelesen habt, hat es sich schon gelohnt, behaupte ich jetzt einfach mal – solltet ihr denn Vi Heart noch nicht kennen (so wie ich vor XOXO). Vi Hart wird als “Mathemusician” bezeichnet, was eine recht akkurate Beschreibung ist: in ihren Videos erklärt sie mit hypnotischer Überdrehtheit und unter intensiven Einsatz von Filzstiften (oder Essen oder Luftballons oder…) mathematische Phänomene ebenso wie musikalische, und knüpft daran Gedanken alltäglicher und philosophischer Art. Ihr umfangreichster Film, dessen Produktion ein Jahr dauerte, ist der Halbstünder “Twelve Tones”, der 12-Ton-Musik anhand von umgedichteten Kinderliedern erklärt und dazu anregt, Konventionen zu hinterfragen (Aus “Mary had a little lamb” wird darin “Mary had a Laserbat” – muss ich mehr sagen?).

Patreon – das bessere Flattr?

Der Musiker Jack Conte ist unter anderem Teil des Duos Pomplamoose und mit diesem bereits auf Youtube mit den “Videosongs” sehr erfolgreich gewesen. Doch nach 10 Miollionenfach geklickten Videos und guten iTunes-Verkäufen ging es wieder bergab – durch Youtube allein könnten Musiker_innen, so Conte in seinem Talk, anders als noch etwa 2010, nicht mehr wirklich Geld verdienen. Was Jack Conte außerdem gerne macht (z.B. verrückt aufwendige Musikvideos mit Robotern) kostet ihn viel Zeit und brachte ihm – bisher – wenig Geld. Also tat er sich mit einem programmierkundigen Collegefreund zusammen und schaffte sich eine Lösung: die Plattform Patreon. Dort können Fans in der Form Unterstützer ihrer Lieblinge werden, dass sie einwilligen, pro veröffentlichtem Video, Song oder auch pro Comicseite, Bild oder Artikel einen bestimmten Betrag zu zahlen. Ein wenig wie Flattr gemischt mit Crowdfunding: zielgerichtet, garantiert und in der Höhe frei wählbar. Was dazu führte, dass Jack Conte mittlerweile rund 6300 Dollar pro Video erhält – die Masse an 922 “Patrons” macht’s. Dies klappt aber nicht nur im Musikberich – die Videospielekritikerin Mattie Brice (zufälliges Beispiel aus meiner Twitter-Timeline) erhält momentan 206 Dollar pro Artikel. Angesichts schwindender Honorare im Journalismus vielleicht eine Lösung – für einige zumindest.

BreadPig

Ein mehr an klassischer Verlags- bzw. Agenturarbeit orientiertes, aber nicht minder innovatives Konzept steht hinter Breadpig, dass bei XOXO von der fabelhaften Christina Xu vorgestellt wurde. Breadpig bietet Self-Publishern im Bereich Literatur, Illustration, Comic usw. Unterstützung etwa bei der Durchführung von Crowdfunding-Kampagnen, die, sollen sie wirklich erfolgreich sein, doch relativ viel Arbeit bedeuten können. Sind sie entsprechend hoch aufgehängt, kann sich ein Outsourcing für alle lohnen. Christina Xu ist zudem Teil der “Awesome-Foundation”, die monatlich ein 1000 Dollar-Stipendium für gute Ideen vergibt, und ist Mitgründerin der ROFLCon für Internetkultur.

Videos für eine bessere Welt

Jay Smooth und Mike Rugnetta sind Videoblogger (neben anderen Dingen, dafür sind sie zumindest im Internet bekannt), und haben es beide über ihre Aktivitäten im Netz geschafft, ihre Leidenschaften zum Beruf zu machen. Jay Smooth zum Thema HipHop, Mike Rugnetta mit Analysen zu Medien-, Netz- und Fankulturen. Beide eint, dass sie – und dies war auch Thema ihrer Talks – viel darüber zu erzählen haben, was durch die Vernetzung von Menschen über das Internet für (gute) Dinge zustandekommen können, und sie nutzen die Videos und ihre Themen, um weitere gesellschaftliche Aspekte zu erklären und auseinanderzunehmen. Das ist erhellend und oft auch sehr lustig. Insbesondere Jay Smooth widmet sich dabei auch gezielter Themen wie Rassismus, Sexismus und Diversity. In seinen Worten: “I basically yell at people to be nice to each other.” (“Im Prinzip brülle ich Leute an, nett zueinander zu sein.”).

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Leider sind noch nicht alle Videos von den Talks online, so dass ich hier nur wenige verlinken kann. Ich empfehle Interessierten, ab und zu in den Kanal der XOXO reinzuschauen und sich zusätzlich zum Beispiel die sehr persönlichen, humorvollen und motivierenden Vorträge von Musiker Jonathan Coulton und Softwareentwickler Cabel Sasser (Panic) anzusehen. Bereits online und auch sehr spannend ist der Talk von Chis Anderson (ehemals WIRED) zu DIY Drones.

Einfach mal Okay verhalten

Nun fließen auch auf der XOXO, trotz aller Begeisterung, natürlich nicht nur Milch und Honig. Der Frauenanteil sowohl bei den Gästen als auch bei den Speaker_innen lag auch hier nur um ein Drittel, und der überwiegende Teil der Veranstaltung war, wie so oft, weiß. Den Veranstaltern ist dieser Mangel bewusst, sie thematisierten es auch auf der Bühne (Christina Xu hatte dies bereits zu letztjährigen Veranstaltung zur Sprache gebracht) und wollen weiter daran arbeiten. Nun, so etwas sagt sich leicht. Es wurde jedoch von Anfang an von den Veranstaltern versucht, für alle eine maximal angenehme Atmosphäre zu schaffen. Dass bei ihnen die Nulltoleranz-Einstellung gegenüber Übergriffigkeiten auch tatsächlich so gemeint ist, zeigte sich (leider) auch in der Praxis, als am Eröffnungsabend eine XOXO-Helferin von einem Konferenzteilnehmer obszön beleidigt wurde. Der Teilnehmer wurde durch die Veranstalter direkt, noch vor dem ersten Konferenztag, nach Hause geschickt. Die Helferin hatte sich aufgrund schlechter Erfahrungen auf anderen Veranstaltungen zunächst nicht einmal getraut, den Vorfall zu melden, eine Freundin wandte sich dann an die beiden Andys. Deren Verhalten sollte zwar selbstverständlich sein, aber ist es leider, wie gerade bei Tech Konferenzen immer noch oft zu beobachten, nicht unbedingt. Die Helferin, eine Filmemacherin aus Portland, hat dies auch in einem Blogpost beschrieben.

Was ich von XOXO mit nach Hause nahm

Natürlich gehört, auch mit allen Segnungen des Netzes, immer noch mehr dazu, mit einer Idee Erfolg zu haben, Fans zu finden und schlussendlich sogar davon leben zu können, als nur eine kreative Idee. Gute Startbedingungen erleichtern ohne Frage vieles (dass darunter auch privilegierte Positionen fallen, blieb nicht unerwähnt), und manchmal spielt auch einfach der Zufall eine Rolle. Doch ein plattes “Du kannst alles schaffen, wenn du nur willst!” war auf der XOXO auch nicht die Botschaft. Vielmehr, dass es manchmal verdammt gut tut, sich daran zu erinnern, dass da draußen viele Menschen sind, die tolle Dinge tun, an denen wir uns erfreuen, durch die wir uns inspirieren lassen und die wir durchaus auch mal nachahmen können. Außerdem: welche tollen, noch lange nicht erschöpften Möglichkeiten das Internet dabei immer noch bietet. Und dass es unheimlich hilfreich sein kann, mal den Blick aus dem Alltagsgewurschtel zu heben und zu gucken, wie andere Leute so ihre kreativen und anderen Probleme lösen und welche Ideen sie haben, um möglichst viel Zeit damit zu verbringen, das zu machen, was sie lieben. Last but not least: ist es nicht verkehrt, sich immer wieder mal zu fragen, was eine_n eigentlich glücklich macht.

4 Antworten zu “Auf Inspirationstour mit XOXO”

  1. Anne Wizorek sagt:

    hach! danke für diese schöne berichterstattung und sammlung. da werde ich mich mal mit genuss reinstürzen. <3

    cards against humanity habe ich letztens durch einen zufall schon in aktion erleben dürfen und hatte großen spaß damit! mir war die story dahinter gar nicht bewusst. :)

    (ich hoffe ansonsten sehr, dass ich es auch noch zur xoxo schaffe, bevor sie zu sehr mainstream wird, hehe.)

  2. Anke sagt:

    Danke für den schönen Bericht, die Mathemusik hat mich besonders beeindruckt.

  3. Sunny sagt:

    Ooh toll! <3 :)

  4. […] Hart nennt sich “Mathemuscian”, sie wurde auf Kleinerdrei bereits empfohlen in Lucies Artikel zur XOXO-Konferenz. Sie bringt uns in ihren Videos wahlweise fortgeschrittene Geometrieprobleme oder Zwölftonmusik […]