Schminktherapie

Foto , CC BY-ND 2.0 , by Britney M

Schminke tröstet mich. Warum bloß?

Ich war schon immer fasziniert von Schminke. Oft ging ich an den Spiegelschrank meiner Mutter in unserem Badezimmer und schaute mir übervorsichtig alles ganz genau an. Alles war so drapiert wie ein Schrein. Ein Schrein, der mir immer unzugänglich bleiben sollte – als Junge wurde mir deren Benutzung schließlich nicht gerade ans Herz gelegt. Ich war allerdings jedes Mal hochgradig bezaubert von all den Tiegeln, Töpfchen, Dosen, Döschen, verschiedenfarbigen Fläschchen, Pinseln, Schwämmchen und so weiter, und so fort. Meine Mutter bewahrte dort auch ihre Parfums auf und deren Geruch vermischte sich mit dem von altem Puder und bildete dieses charakteristische Aroma, das ich genoss, wenn ich auf der Toilette heimlich den Schrank öffnete.

Oft wurden meine Erkundungen entdeckt, da meine Mutter immer sofort merkte, wenn irgendetwas in ihrer Ordnung gestört war. Und da ich sowieso die Hälfte meiner Kindheit damit verbrachte durch das Haus zu schleichen und in den Sachen meiner Familie herumzuschnüffeln, wunderte es wohl auch niemanden, dass ich nun auch den Schminkschrank unter die Lupe nahm. Zumal ich auch oft mit Ponys, Barbies und Polly Pocket gespielt habe – diese Sachen sogar zu Weihnachten bekam. Auf die Frage, was denn meine Lieblingsfarbe sei, antwortete ich wie selbstverständlich: „Rosa, Lila, Gold und Silber“. Mit all dem wurde sehr locker in meiner Familie umgegangen und erst später machte ich selbst ein Tabu draus – denn in der Pubertät wurde es mir alles unglaublich peinlich. Dass ich regelmäßig in den Kleiderschrank meiner Mutter einbrach, um ihre Kleider anzuprobieren, habe ich natürlich niemandem erzählt. Auch nicht von den angegilbten weißen Pumps, die ich im Keller fand und bei denen der Zeh vorne rausguckte und wie ich immer wieder vergeblich versuchte in ihnen zu laufen (ich war sehr fasziniert von diesen Schuhen: Warum Schuhe, die eine_n größer machen? Warum so unbequeme?). Dass ich später – also heute – mal viel lockerer damit umgehen werde, hätte ich damals ja nicht wissen können.

Schminke als Tabu

Also waren die Expeditionen in den Schminkschrein meiner Mutter eine besonders gut gehütete, dafür aber besonders süße Erinnerung. Manchmal traute ich mich auch, einiges von dem auszuprobieren, was ich dort fand – ich hatte meiner Mutter schließlich oft genug dabei zugesehen, wie sie diese Sachen benutzte. Der Lippenstift war besonders interessant und wie der funktionierte, konnte ich leicht herausfinden. Ich malte mir also die Lippen über-rot mit obligatorischem Biss auf das Stück Toilettenpapier am Ende – so wie ich es bei meiner Mutter gesehen hatte – nur um die ganze Chose danach mit demselben und viel Spucke wieder wegzuwischen. Auch kein Rest zu sehen? Verdächtige Röte? Nein? Okay. Abspülen und wieder raus. Eine Minute Instant-Drag im vorpubertären Alter.

Später wurde ich dann mutiger, probierte Lidstrich, Rouge, Nagellack und Mascara aus, wenn meine Eltern mal nicht zu Hause waren. Genoss den Anblick des Verbotenen für einige Minuten im Spiegel und schmierte alles wieder weg. Später in meiner Emo-Phase dann die obligatorischen Bill-Kaulitz-Kajal-Panda-Augen. Einmal war ich beim Entfernen nicht gründlich genug und als meine Mutter wieder nach Hause kam, schaute sie mir beim Hereinkommen einmal tief in die Augen, kniff ihre eigenen zusammen, und sagte: „Mach das sofort wieder weg.“ Als Junge mit Barbies spielen: Na okay. Sich als Junge schminken? Zuviel des Guten. Später erfuhr ich, dass viele Männer ähnliche Erfahrungen gemacht haben, darüber aber niemals sprachen. Schminke und Cross-Dressing ist noch immer ein riesiges Tabu, das eine_n staunen lässt.

Heute löst sich der Knoten immer mehr. Es sitzt allerdings sehr tief, dass sich „als Mann“ schminken zwingend etwas mit Homosexualität, Drag oder Trans* zu tun hätte. Und umgekehrt: Dass sich alle Schwulen für Schminke & Schmuck interessieren, ist natürlich ein brüllendes Klischee. Aber ich interessiere mich halt zu einem gewissen Grad dafür und das ist wichtiger, als nicht irgendeinem Klischee entsprechen zu wollen – das musste ich jedoch erst einmal lernen. Ich bin ein schwuler cis-Mann, der gerne mal mit Schminke experimentiert. Get over it.

Getrennte Welten

Was die Schminke für mich so magisch machte, war, dass sie völlig außerhalb meiner Reichweite lag. Die Welt, in der ich lebte (aka unsere Gesellschaft), sah den Gebrauch dieser Gegenstände in meiner Realität nicht vor. Sie sollten also völlig nutzlos für mich sein, waren dadurch für mich aber nur noch reizvoller. Trotzdem brauchte ich lange, um mich diesem Thema wieder anzunähern. Auf einigen Partys übte ich und fühlte mich in Sakko, Hemd und Krawatte furchtbar subtil, wenn ich Glitzernagellack an den Zehennägeln hatte (was, naja, gar nicht mal so subtil ist). Heute habe ich sogar ein Schminktäschchen – es hat Sternchen und ich fand es in der Küche meines Wohnheims in Paris – und als erstes steckte ich den Chanel-Kompaktpuder hinein, den ich von einer guten Freundin geschenkt bekam und den ich seither wie einen Augapfel hütete. Danach kicherte ich erst einmal verschämt.

Wenn ich traurig bin, gehe ich manchmal Schminke kaufen, die ich selten wirklich benutze. Außer den irritierten Blicken in der Drogerie, die einen an richtigen Tagen pushen können, ist es vor allem wieder das Gefühl vor dem Spiegel stehen zu können, das Täschchen auszupacken und wieder für einen Augenblick in die Haut des Jungen zurückzukehren, der ich mal war. Es ist diese uneingeschränkte, ausgestellte Pflege der eigenen Eitelkeit, die in meinen Jungenaugen bei Frauen oft und zu einem gewissen Grad sozial akzeptiert war und die mir verwehrt blieb (dass das Ganze auch mit Schönheitszwängen und dem Patriarchat zu tun hat, war mir natürlich als Junge nicht bewusst). Und es ist dieselbe Kraft, die Geschlechterrollen ins Wanken bringt, wenn ich mal auf Partys im Kleid rumlaufe. Ich brauche dafür noch ziemlichen Mut – und fühle dadurch eine so große Freiheit. Es sind winzige Momente, wo man die Risse der eigenen Geschlechtsidentität spüren kann und wie biegsam sie sind – und wieviel Spaß dieses ‚Unbehagen der Geschlechter‘ macht. Ernsthaft: Jeder Mann sollte sich einmal schminken und in deutlich als solche gelesenen Frauenkleidern herumlaufen – und dass das ähnlich befreiend für Frauen in Männerkleidung sein muss, kann ich zwar nicht beurteilen, mir aber sehr gut vorstellen. Los, geht und schreibt es auf eure Bucket List! Sofort!

Selbstverständlich ist nicht alles an Schminke gut, vor allem, wenn Frauen oben genannten Schönheitszwängen unterworfen sind und die ganze Kosmetikindustrie diese Normen noch befeuert bzw. überhaupt erst aufstellt. Aber in den Händen von Männern kann Schminke auch eine andere Energie freisetzen, die die Zwänge der Geschlechter aufweichen kann. In diesem Sinne: Erzähl mir was von Männlichkeit, Kerl, und ich zücke den Lippenstift. Denn das wollen wir doch mal sehen.

8 Antworten zu “Schminktherapie”

  1. Steffi Gtl sagt:

    Kein langer Kommentar sondern nur kurz zwei Links die (hoffentlich) gefallen: Ein Blog eines bekannten Visagisten, der zufällig heute ein Bild eines geschminkten Mannes (der ausnahmsweise sogar geschminkt aussehen darf) veröffentlichte: http://www.beautyisboring.com/2013/10/mad-thirsty-jesse-somera.html

    Auch Charlotte Tilbury (ebenfalls Visagistin) hat ein kurzes Tutorial zu Männer-Makeup gemacht, wobei der Fokus hier doch klar auf dem „Unsichtbarmachen“ liegt und das Ganze also doch noch konform mit gängigen Geschlechternormen geht. Trotzdem vielleicht interessant!

  2. Stini sagt:

    Die Ironie des Schicksals ist wohl, dass ich als Frau manchmal überhaupt gar keine Lust habe mich zu schminken, mich aber schminken muss um doofen Fragen a la „geht es dir heute nicht gut“ auszuweichen. Völlig ungeschminkt rumzulaufen scheint also bei Frauen genauso verpönt zu sein, wie bei Männern sich zu schminken. Schräge Welt.
    Ach ja: warum sind denn dann eigentlich Panda-Augen und schwarzer Nagellack bei gewissen Männern „erlaubt“ und warum benutzen die kein Pink?

    • Florian sagt:

      Kommen die „geht es Dir nicht gut?“ Fragen daher, dass Frauen allgemein immer geschminkt rumlaufen, oder daher dass Du meistens geschminkt rumläufst, und damit Dein ungeschminktes Äußeres ungewohnt ist für diejenigen, die Dich üblicherweise nur geschmickt kennen?
      Mit anderen Worten, denkst Du, dass Du auch dann „geht es Dir nicht gut“ Fragen bekämst, wenn Du immer ungeschminkt rumlaufen würdest, und die Leute Dich so kennen würden?

      Zu Panda-Augen und schwarzem Nagellack, m.E. ist Männern nur in gewissen Subkulturen „erlaubt“, und trägt konsequenterweise auch dazu bei, dass diese Subkulturen vom Mainstream durchaus argwöhnisch betrachtet werden.

    • Stini sagt:

      Vielleicht hätte ich erwähnen sollen, dass ich selbst wenn ich mich schminke, dies (wenn ich nicht gerade im Nachtleben unterwegs bin) nur ganz dezent tue. Tatsächlich kommen die Nachfragen meistens von anderen Frauen, die Komplimente aber von beiden Seiten.

      @38662cdbdec08b53736a0e169f4edf32:disqus deine Frage kann ich gar nicht so direkt beantworten, denn ob ich geschminkt rumlaufe oder nicht, ist bei mir stimmungsabhängig, es gibt also keinen Menschen der mich ausschließlich ungeschminkt kennt. Wenn ich so darüber nachdenke, umgekehrt gibt es aber auch niemanden der mich nur ungeschminkt kennt. Glaube ich zumindest.

      Ach ja, ungeschminkt habe ich bis jetzt deutlich weniger / gar keine (? … ich bin nicht sicher) Komplimente bekommen.

    • Anke sagt:

      Ich gehöre zu der Sorte Frau, die sich selten schminkt. Wenn ich wirklich in Schmink-Laune bin, dann schminke ich mich einmal im Jahr zu einer besonderen Veranstaltung.

      Ich bin noch nie angesprochen worden wegen fehlender Schminke, auch nicht „hintenherum“. Ich glaube einfach, dass die Freunde, Kollegen etc. mich einfach gar nicht anders kennen und mein ungeschminktes Äußeres als selbstverständlich ansehen.

      Schade eigentlich, ich warte noch auf den Tag wo ein Mann mich auf so etwas anspricht und ich die Rückfrage stellen kann „und wieso bist du nicht geschminkt?“ ;-)

  3. Thomas sagt:

    Tausend <3 dafür, Daniel.
    Auch wenn meine Erfahrungen mit dem Hacken von Gendercodes deutlich später im Leben kamen (ab 35), ähneln sie doch Deinen. Es ist eine Selbstermächtigung, die im Übrigen – und auch da kann ich Dich nur bestätigen – mit der eigenen sexuellen Identität wenig zu tun hat, aber mir ungeheuren Auftrieb geben kann. Ich bin fast in Ohnmacht gefallen vor Verzückung, als ich zum ersten Mal gesehen habe, was Kajal und Wimperntusche mit meinen Augen anstellen … viele Kerle* würden sich selbst und die Welt mit anderen – also vor allem schöneren – Augen sehen, wenn sie das mal ausprobierten.

  4. Hugo Blartenpfonk sagt:

    Das ist der große Vorteil in der schwarzen Szene: Niemand wundert sich, wenn ein XY-Chromosomen-Goth geschminkt rumläuft. :D