„Die gläserne Decke gibt es im Netz genau wie in der analogen Welt“ – Interview mit Anne Roth

Foto , CC BY-SA 2.0 , by Bernd Brägelmann

Mit 50 Prozent hat die Medien- und Netzaktivistin Anne Roth nicht nur ein neues Blog gegründet, sondern auch eine neue Initiative gestartet, um das immer noch stark unausgeglichene Geschlechterverhältnis bei Konferenzen, Podien, Talkshows und anderen öffentlichen Veranstaltungen sichtbar zu machen. Das Prinzip ist einfach: Pro Veranstaltung werden die jeweiligen Rednerinnen und Redner gezählt und dann als Prozent-Anteil veröffentlicht. Doch auch wenn sie nicht immer direkt als Beispiel für 100 Percent Men oder 100 Prozent Mann dienen könnten, sind die Ergebnisse mehr als traurig und machen ein strukturelles Problem in nackten Zahlen deutlich.

Wie das Projekt „50 Prozent“ zustande kam, wo Anne Roth die Gründe für das in extremer Schieflage befindliche Geschlechterverhältnis sieht und was sie sich von Veranstalter*innen wünscht, das erzählt sie in ihrem Interview mit kleinerdrei.

kleinerdrei: Wie hat das „Frauenzählen“ angefangen und warum ist es nun im 50-Prozent-Blog gemündet?

Anne Roth: Ich zähle schon ziemlich lange, nebenbei, ohne System eigentlich. Ein Motiv ist schlicht, dass ich meine eigene Wahrnehmung überprüfe. Irgendwann, wahrscheinlich während meines Studiums, habe ich mal in einem Buch über die Unterschiede bei der Erziehung von Mädchen und Jungen und wie sich das in der Schule fortsetzt gelesen, dass Lehrer und Lehrerinnen häufig den Eindruck hatten, dass sie Jungen und Mädchen gleichmäßig viel dran nehmen. Als das aber nachgezählt wurde, stellte sich heraus, dass Jungen viel öfter dran waren. Wenn sie tatsächlich gleichviel zu Wort kamen, war die Wahrnehmung, dass die Mädchen viel mehr reden als die Jungen. Seitdem zähle ich.

Im Netz bietet es sich an, diese Wahrnehmung zu teilen und mit dem Wachsen des Online-Feminismus wuchs auch der Ärger darüber, dass – vor allem bei Digital-Themen – Frauen unglaublich unterrepräsentiert sind. Daraus entstand die Idee, eine sogenannte Speakerinnen-Plattform aufzubauen. Die klassische Reaktion auf ein getweetetes Zählergebnis ist „Ich habe aber keine Frauen gefunden“. Um nicht ständig das Gegenteil beweisen zu müssen, sollte es eine Liste oder Datenbank mit Frauen geben, die über ihre jeweiligen Themen gern und gut reden können. Da sollten dann auch Zählergebnisse und mehr dabei sein.

Zuerst gab es die Liste bei Netzfeminismus.org, dann ein paar Treffen zu einer richtigen Datenbank. Das ist aber wieder eingeschlafen und dann dachte ich, dass ich eben einfach erstmal mit dem Blog anfange, damit wenigstens irgendwie dokumentiert wird, wie es in der Realität aussieht.

kleinerdrei: Du zählst nicht nur selbst, sondern rufst auch direkt zum mitzählen auf. Was erhoffst du dir von #50prozent und was können die Mitzählenden dabei konkret tun (wenn es sich um Negativbeispiele handelt)?

Anne Roth: Ich weiß nicht so genau, was ich erhoffe. Natürlich, dass es selbstverständlicher wird, dass genauso viele Frauen wie Männer auf den Podien sitzen letztendlich. „50 Prozent“ soll also erstmal dazu beitragen, Augen zu öffnen. Zahlen sagen in dem Fall einfach mehr als das schnell als Genörgel wahrgenommene ständige Thematisieren des Problems, und die Zahlen sprechen ja wirklich für sich. Gerade bei Netz-Themen sind sie oft total unterirdisch.

Alle, die auch ab und zu zählen, können ihre Ergebnisse per Mail oder Tweet schicken und ich versuche, mit dem Posten hinterher zu kommen. Lieber wäre mir eine bessere technische Lösung, aber die suche ich erst noch, siehe auch: „Richtig zählen – aber wie?“

kleinerdrei: Wo siehst du die stärksten Faktoren dafür, dass an ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis bei den meisten Veranstaltungen gerade nicht zu denken ist? Es ist ja kein Phänomen, das sich auf Tech Events beschränkt?

Anne Roth: Das ist die klassische Quoten-Debatte: Frauen wollen nur auf die Bühne, wenn sie sich sehr sicher sind – und wer ist das schon? Männer haben damit weit weniger ein Problem, sondern halten sich für qualifiziert, sobald sie das entsprechende Fremdwort aussprechen können. (Das sind natürlich zugespitzte Verallgemeinerungen, es gibt bei allem Ausnahmen, aber ohne Verallgemeinerungen kommen wir nicht weiter, wenn wir Strukturen beschreiben).

Die Art, wie Podien besetzt werden, spielt auch eine Rolle: wer schon einen Namen hat, wird immer wieder eingeladen und schlägt sonst noch die vor, die auch schon dabei waren. Überhaupt kein neues Phänomen, als Seilschaften zig mal beschrieben. Eins der ersten feministischen Netzwerke im Netz hieß ja auch schon ironisch Old Boys Network, also das Netzwerk der alten Männer. Inzwischen nicht mehr ganz so alt, aber die eingezogene gläserne Decke gibt es im Netz genau wie in der analogen Welt.

kleinerdrei: Du erwähnst u.a. die JSConfEU als positives Bespiel – was mich persönlich sehr freut, da ich hier auch beratend bei deren Vorgehensweise unterstützt habe. Das Beispiel zeigt, dass es nicht nur darum geht, Voreingenommenheiten der Veranstalter*innen bei der Redner*innen-Auswahl auszugleichen, sondern Frauen überhaupt verstärkt dazu zu bringen, einen Vortrag einzureichen bzw. zu halten. Wie können Frauen deiner Meinung nach am besten zu diesem Selbstbewusstsein für ihre eigene Expertinnenmeinung gelangen?

Anne Roth: Ich bin mir gar nicht so sicher, ob das Selbstbewusstsein das Problem ist. Klar klafft offenbar eine Lücke zwischen der Selbstwahrnehmung der eigenen Wichtigkeit von Frauen und Männern. Es spielt aber auch die Frage eine Rolle „Was habe ich davon – muss ich den Stress unbedingt haben?“

Es ist schwer, diese Frage zu beantworten, ohne entweder banal zu werden oder einen Stapel Statistiken unter dem Arm. Aber es scheint doch so zu sein, dass Frauen eher nur dann auf einer Bühne reden wollen, wenn sie wirklich etwas zu sagen haben, also etwas Neues, etwas Interessantes, und das fertig und rund und durchdacht. Männer haben tendenziell weniger Schwierigkeiten damit, ewig das Gleiche zu erzählen oder von den Ideen anderer zu leben. Mir ist dabei die hier Frauen zugeschriebene Verhaltensweise sympathischer und das hat nichts mit mangelndem Selbstbewusstsein zu tun.

Im Grunde ähnelt das auch den Unterschieden im Verständnis von Wissenschaft: Wenn ich etwas erforsche und vorher schon weiß, was ich rauskriegen will, ist das einfacher zu erreichen, aber eigentlich nicht wissenschaftlich, weil dabei keine neue Erkenntnis produziert wird. Wenn ich ein Panel besetze und vorher schon genau weiß, was da gesagt werden soll und dann die Leute suche, die genau das sagen, werde ich eher Männer finden.

Wenn ich eine Frage stelle und wirklich neugierig bin auf das Ergebnis, habe ich sicher sehr viel mehr Arbeit, aber letztendlich viel mehr davon. Die JSConfEU ist diesen „wissenschaftlichen“ Weg gegangen: sie hat interessante Fragen gestellt und war neugierig auf die Antworten. Sie hat kluge und interessante Referentinnen gesucht und dann herausgefunden, was die zu sagen haben. Es muss natürlich einigermaßen zum Thema der Veranstaltung passen, aber ich nehme an, dass auf diese Weise das Publikum sehr viel mehr davon hat, weil es wirklich neue Sachen hört.

kleinerdrei: Nun bezog sich die Initiative der JSConfEU erst mal auf Rednerinnen und nicht auf Teilnehmerinnen. Durch welche Schritte der Veranstalter*innen könnte z.B. auch das Publikum einer Konferenz vielfältiger werden?

Anne Roth: Durch ein vielfältigeres Programm? Bessere Kinderbetreuung hilft sicher auch, wobei das ja nur Eltern mit relativ kleinen Kindern betrifft. Als meine Kinder noch kleiner waren, hat es auf jeden Fall eine Rolle gespielt, ob es Kinderbetreuung gab und ob die den Namen verdient hat. Ich erinnere mich mit Grauen an zahllose Gespräche mit schuldbewussten Konferenz-Orgas, die das „auch irgendwie wichtig“ fanden und dann wollten, dass ich mich mir die Kinderbetreuung mit den anderen Müttern teilte, weil für alles andere das Geld fehlte. Davon hatte ich gar nichts, da war ich mit Kindern zuhause besser aufgehoben.

Ansonsten landen wir zumindest bei Tech-/Netz-Konferenzen sicher auch schnell beim großen Thema Technik & Gender. Das wird ja eher schlechter als besser und zu den Ursachen davon gibt es inzwischen wahrscheinlich eine halbe Bibliothek voller Bücher. Barbie-Paläste und „Germany’s Next Top Model“ machen das nicht besser.

Unter einer neuen großen sozialen Bewegung wird das nicht gehen – der #Aufschrei war ja schon ein schöner Anfang.

kleinerdrei: Wie bewertest du Initiativen wie z.B. jüngst von der Social Media Week, sich vorab offiziell einem ausgeglichenen Geschlechterverhältnis zu verpflichten? Würdest du dir diese Herangehensweise auch öfter von deutschen Veranstalterinnen und Veranstalter*innen wünschen?

Anne Roth: Auf jeden Fall! Ich finde das ziemlich mutig, muss ich sagen, das ist sicher nicht einfach gewesen und wird im übrigen wahrscheinlich nach sich ziehen, dass wir alle irgendwie da mitmachen müssen.

Ich ahne, dass das meistgenannte Argument dagegen sein wird, dass es zu teuer ist: es dauert ja viel länger, so viele Frauen zu finden. Klar wäre das Programm interessanter, aber das ist ja gar nicht unbedingt das entscheidende Kriterium. Oft geht es darum, das bekannte, große Namen dabei sind, und da beißt sich die Katze dann in den Schwanz.

Ich höre sehr oft, dass alle angefragten Frauen abgesagt hätten, oder – das I-Tüpfelchen – ihren Chef schicken wollten. Es wäre interessant, wenn das mal jemand untersuchen würde: ob das bei Frauen tatsächlich öfter vorkommt und wenn ja, warum.

Ist es wirklich nötig und sinnvoll, so viele Konferenzen zu haben? Die Frage stellt eigentlich niemand. Ich behaupte, dass wir als Gesellschaft mehr davon hätten, wenn Geld anders verwendet würde als durch die Finanzierung dermaßen vieler redundanter Veranstaltungen. Wem nützt das eigentlich?

kleinerdrei: Geschlecht ist ja nur ein Faktor für mehr Vielfalt auf Podien und Veranstaltungen: Glaubst du, dass eine 50/50-Initiative hier generell Türen öffnen kann, um die komplette Vielfalt von Redner*innen sowie Teilnehmer*innen zu erreichen?

Anne Roth: Gute Frage. Ich weiß es nicht. Nein, eigentlich glaube ich eher nicht. Die Annahme, dass die Welt insgesamt gerettet wird, wenn mein persönlicher Hauptwiderspruch gelöst ist, ist ja vielfach widerlegt worden. Ich wünschte mir natürlich, dass das der Anfang wäre, um dem homogenen Teilnehmerbild des weißen akademischen etc. Mann in den besten Jahren insgesamt den Garaus zu machen, aber ich denke, dass das eine Illusion ist.

Ich frage mich natürlich, wie eine adäquate Antwort auf ihn überhaupt aussehen kann, aber das lässt sich sicher so am Zeichentisch nicht beanworten, wenn es irgendwas unterhalb der Utopie sein soll. Veränderung braucht immer auch Bewegung, weswegen ein erster, oder zweiter Schritt ist, dass wir ™ die verschiedenen gesellschaftlichen Widersprüche mitdenken bei dem, was wir jeweils tun und versuchen, sie soweit wie möglich miteinzubeziehen.

Und zurück zu 50 Prozent: ich weiß nicht, was das noch wird. Es ist das, was ich nebenbei gerade so hinkriege, aber es reicht natürlich nicht. Ach ja – und mit „Frauen“, das steht so auch im Blog, meine ich alle, die sich selbst als Frau sehen – ein relativ pragmatischer Versuch, beim Zählen zu berücksichtigen, dass die Welt nicht nur aus Nullen und Einsen besteht.

kleinerdrei: Bleibt nur noch zu fragen: Abgesehen vom Zählen, wie kann man dich und das Projekt am besten unterstützen?

Anne Roth: Erstmal wirklich mit Zählen von möglichst unterschiedlichen Events. Allerdings (erstmal) keine Gremien, Bücher oder Redaktionen. Das sprengt gerade den Rahmen. Mail an mich oder einfach einen Tweet mit dem Hashtag #50prozent. Wenn ich was nicht aufnehme, dann liegt das daran, dass ich es manchmal einfach nicht schaffe und nicht, weil ich manches wichtiger fände als anderes!

Genauso wichtig ist es, die Zählereien herumzureichen. Ein Public-Awareness-Projekt (meinetwegen auch Public Shaming) hängt davon ab, dass es möglichst public ist – wenn niemand hinguckt, ist nichts gewonnen.

Was dringend als nächstes nötig wäre, wäre die technische Umsetzung eines Formulars samt Datenbank, weil die Daten sonst ja überhaupt nicht genutzt werden können, das habe ich auch in „Richtig zählen – aber wie?“ beschrieben.

Und irgendwann dann auch die Datenbank für Frauen*, die Vorträge halten wollen, damit wir uns nicht immer den Mund fusselig reden müssen, wenn die Rückfrage kommt, ob wir denn wüssten, wer für das Thema XY die geeignete Expertin sei. Dafür fehlt es u.a. an Webdesign, wieder ein bisschen Geld für die Infrastruktur und letztlich überall auch an Redaktion.

Das alles will ich überhaupt nicht allein machen: Wer tatsächlich aktiv mitmachen will, kann sich gern bei mir melden.

Vielen Dank an Anne für das Interview. Und wenn ihr nun mitmachen oder das Projekt in seiner Weiterentwicklung unterstützen möchtet: Ihr wisst, was zu tun ist!

3 Antworten zu “„Die gläserne Decke gibt es im Netz genau wie in der analogen Welt“ – Interview mit Anne Roth”

  1. […] Anne Roth in Interview bei Kleinerdrei über Geschlechterverhältnisse, Diskussionsformen und ihr Projekt „50 Prozent“: […]

  2. […] <3 gibt es ein Interview mit Anne Roth, das viele wahrscheinlich schon kennen. Es geht darum, über schlichte Zahlen (1,2,3, viele) das […]

  3. […] musste dabei an das Kleiner Drei Interview mit Anne Roth denken, das der Frage nachging, warum es so schwer ist, 50% Frauen auf die Bühne zu […]