The End is Nigh

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Twitter ist in aller Munde: Die (sogenannte) digitale Avantgarde ziehe sich zurück, heisst es. Twitter sei wie die DDR, wird behauptet. Und überhaupt ist alles schlimm, macht dumm und drüben bei App.Net ist alles besser. In gut zwei Monaten steht mein sechster Twittergeburtstag an. Zeit sich zu fragen: „Ist das noch wichtig, oder kann das weg?“.

Twitter? Was meinste denn?

Mein grösstes Problem mit der omnipräsenten Twitterkritik ist, dass mir nicht klar wird, wer oder was eigentlich nun kritisiert wird. Ist es Twitter als Firma und Betreiberin einer API, die in den letzten Monaten immer weiter eingeschränkt und „monetarisierungskonformer“ gemacht wird? Sprechen wir von dem Nachrichtenkanal als solchem, der sich im wesentlichen durch asymmetrische Beziehungsgeflechte und einer limitierten Zahl von Zeichen pro Nachricht auszeichnet? Oder sprechen wir von „den“ Twitternden, als „Kulturgesellschaft“ und deren Umgangsformen? Oder vermischt sich das alles irgendwie?

Technische Kritik

Ja, Twitter als Firma wird zunehmend unsympathisch. Seit Ende 2010 wird deren Suche nach einem ertragreichen „Business Modell“ zunehmend störend, aus Benutzersicht. Die Veränderungen an API (Schnittstelle zur Anwendungsprogrammierung) und die Vorschriften, wie denn nun Tweets darzustellen seien, verhindern ganz klar Innovation auf Entwickler- und Zufriedenheit auf Benutzerseite. Eine Applikation, die etwa die Twitter-Timeline vermischt mit den Feeds anderer Social Networks darstellt, ist so nicht mehr möglich.

Alternative Konzepte wie app.net, status.net oder Tent finde ich zwar grundsätzlich interessant. Von einer Twitter-ähnlichen Verbreitung und Nutzung sind sie aber allesamt weit entfernt, strukturell kranken sie an User-Experience oder Netzwerk-Konzept.

Föderierte Konzepte, bei denen sich doch wieder alle auf dem gleichen Server anmelden; Open-Source, der seit Jahren vor sich hinsiecht, weil keiner so recht Lust hat, mitzumachen. Und app.net, die nach Bezahlidee und einem beeindruckend florierendem Client-Ökosystem nun einfallslos um Freemium-Accounts mit Followerbegrenzung erweitert haben und – torpediert von einer internen Gewinnausschüttung – die App-Entwickler dazu zwingt, Clients gratis anzubieten.

Die Botschaft hör’ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. Solange hier ideelle Vorteile wie eine offene API mit Nachteilen in der Benutzung erkauft werden müssen, fehlt die echte Twitterkonkurrenz. Oder um es anders und pragmatischer zu formulieren: Twitter ist noch nicht „evil“ genug dafür, dass für Durchschnittsnutzer*innen echte Nachteile entstehen. Selbst ein neuer Client ist schnell gefunden, wenn der alte nicht mehr funktioniert, weil die API verändert wurde.

Das Empörungsmedium

Vielleicht ist es also die Art der Kommunikation selbst, die Twitter derzeit das Genick zu brechen scheint. In 140 Zeichen ist keine differenzierte Kritik möglich. Kürze bedingt knappe, unfreundliche Sätze. Der Verstärkereffekt der Netzwerkstruktur eignet sich nur für selbstgerechte Empörung. Und überhaupt wird ja sowieso nur dauernd die nächste Sau durch Kleinbloggersheim getrieben!

Erstmal: Seit wann ist Empörung eigentlich etwas per se Schlechtes? Empörung ist nicht nur Shitstorm und Mistgabeln. Empörung ist auch Solidarität und Sichtbarmachen. #aufschrei ist Empörung und empörend. Und das zu Recht. Lasst uns aufhören Empörung mit selbstgerechtem Clicktivism gleichzusetzen. Das hat das Netz nicht verdient und es ist eine sehr eingeschränkte Sicht auf die Dinge.

Ausserdem dürfen wir nicht vergessen: es passen in 140 Zeichen 47 Kleinerdreis, und das mit Leerzeichen dazwischen. In meinen Jahren auf Twitter habe ich dort auch andere Leute kennengelernt: Leute, die es schaffen, immer die Contenance zu bewahren, auch im Affekt nicht unfreundlich oder harsch zu sein und generell immer eine panda-esque Gelassenheit an den Tag legen. Ich wäre das auch gerne, weiß aber, dass ich es höchstens manchmal bin. Und so geht das den Meisten von uns. Das ist aber keine Qualität, die auf Twitter neu ist. Ich sage nur Mailingliste, FIDO, Mail, Telefon, Fax. (Ja, ich habe auch schon böse Faxe bekommen.) Und ich bin mir sicher, selbst die Telegrafie musste die eine oder andere unwirsche Nachricht verschicken. Auch die SMS war ja in letzter Zeit wieder als Medium mit eingeschränkt freundlichem Umgangston in den Schlagzeilen.

Bedingt Twitter also generell einen (manchmal) rüden Umgangston? Vielleicht. Aber nicht mehr als jedes andere impulsiv nutzbare Medium ohne Augenkontakt. Einen Unterschied macht hier eher die schiere Masse an Tweets und Nutzer*innen, die Diskussionen sofort aufgreifen, wiederholen und kommentieren.

Soziales Netzwerken

Bleiben also die Twitternden als potentielles Problem. Der erste Gedanke dazu ist ein altes Twitter-Klischee: Wenn du deine Timeline nicht magst, bist du selber schuld. Du hast sie ja zusammengestellt. Ein bisschen was Wahres ist da schon dran. Auf der anderen Seite sind mir nicht immer alle meine Follower wohlgesonnen. Sie sind manchmal anderer Meinung. Manchmal sind sie auch scheisse drauf. Das kommt vor. Wohlgemerkt, es geht mir nicht um solche, die absichtlich verletzen und Zeit verschwenden. Die hatte ich ja schon ausreichend mit Aufmerksamkeit bedacht, vor kurzem.

Die meisten mit Twittererfahrung wissen: Kontroverse Diskussionen führen wir dort besser nicht, wenn wir uns nicht ärgern wollen. Trotzdem machen wir es. Aber auch auf Facebook oder per Mail, wo das genauso gilt. Kernkompetenz muss da sein, irgendwann die Notbremse zu ziehen. Und gegebenenfalls zusammen etwas zu trinken, um die Wogen zu glätten. 

Solange wir nicht in Geisterstadt-Social-Networks kommunizieren wollen oder auf Einweg-Kommunikation umstellen, werden wir auch mal damit zurecht kommen müssen, wenn unsere vernetzten Launen kollidieren. Wir müssen Mechanismen finden wie wir mit dem direkten, unpersönlichen Draht zu Anderen am besten umgehen. Und wie wir uns solidarisieren, aber auch deeskalieren können. All das erscheint mir aber eher Netzwerk-spezifisch, als Twitter-spezifisch.

Dass sich auf Twitter nur ein Menschentypus mit homogenen Umgangsformen sammelt, ist sowieso eher eine schlecht aufrechtzuerhaltende These. Rein quantitativ ist die vom Abgesang rezipierte Twitter-Szene sowieso eigentlich eher Randerscheinung der Plattform. Dazu reicht ein Blick auf die globalen Trends. Dort herrschen Millionen von Beliebers, Monsters, Twihards und Co. Und das ist vielleicht auch gut so. Es lässt uns selbsternannte „Netzkinder“ nicht die Perspektive verlieren, vor lauter Beschäftigung mit unseren kleinen Wahrnehmungs-Bläschen und -Tunneln.

Unterm Strich bleibt festzuhalten: Menschen sind überall. Und manchmal sind sie doof oder schlecht drauf. Mit oder ohne Twitter.

Twitterliebe

In den Diskussionen der letzten Wochen ist mir trotz allem Frust und aller Sehnsucht nach Besserem eines klar geworden: Ich mag Twitter. Immer noch. Weil da viele Menschen sind. Und weil ich dort viele tolle Menschen finde. Das ist für mich in der Tat eine neue Qualität. Trolle oder Unfreundlichkeit im Affekt sind das hingegen nicht.

Natürlich bekomme ich via Twitter auch den ungefilterten Hass zu sehen. Egal, ob ich das will oder nicht (wenn ich es will noch viel mehr, natürlich). Das Ammenmärchen der totalen Filtersouveränität sollten wir uns trotzdem nicht erzählen, wenn jeder Troll dich jederzeit „mentionen“ kann und neue Accounts mal eben schnell geklickt sind. Die Antwort – zumindest für mich – kann aber nicht sein, den öffentlichen Raum aufzugeben, um sich auf der Flucht vor dem ewigen September, einer Hipsterkarawane gleich, immer wieder aufs neue ins Netzwerk-du-jour zu flüchten.

Ich werde deshalb nicht aufhören, scheisse zu finden, was scheisse ist. Aber ich mache mir keine Illusionen dass es woanders per se besser ist. In diesem Sinne:

twitter

7 Antworten zu “The End is Nigh”

  1. Ja, ich habe auch schon böse Faxe bekommen.

    Das ist witzig. Ich hoffe, es war nicht nachhaltig schlimm. Und, ansonsten: runder, umfassender Text. Danke dafür! <3

  2. Anne Wizorek sagt:

    „Seit wann ist Empörung eigentlich etwas per se Schlechtes? Empörung ist nicht nur Shitstorm und Mistgabeln. Empörung ist auch Solidarität und Sichtbarmachen. #aufschrei ist Empörung und empörend. Und das zu Recht. Lasst uns aufhören Empörung mit selbstgerechtem Clicktivism gleichzusetzen. Das hat das Netz nicht verdient und es ist eine sehr eingeschränkte Sicht auf die Dinge.“

    Danke für den ganzen Text, aber besonders dafür. <3 x 47

  3. Winston sagt:

    Ich mag sowohl Euren Blog als auch die Twitter-Idee sehr und stimme Dir in vielem zu, die Technik-Kritik finde ich aber leider schwach. Warum fällt es denn so schwer, mal deutlich auszusprechen, dass zentralisierte „Social Networks“ Mist sind? Stattdessen der lapidare Hinweis, in föderierten Systemen würden ja eh alle den selben Server nutzen. Aha, wie man deutlich an GoogleMail sieht?

    Ich stelle mir gerade vor, wir hätten uns vor 15 Jahren damit abgefunden, dass hotmail-Nutzer nur an hotmail-Adressen schreiben können, und gmx-mails nur zu gmx geschickt werden können. Und alle hätten diskutiert, welcher Anbieter denn nun eigentlich der beste ist und zum Monopolisten auserkoren werden sollte.

    Let’s face it: einen „Markt der sozialen Netzwerke“ gibt es nicht, wir haben keine Wahl. Und so lange die Systeme geschlossen bleiben, löst höchstens mal ein Monopolist den nächsten ab. Vorschlag: statt Lobgesänge auf einzelne Inselanbieter oder Monopolisten anzustimmen, betonen wir alle künftig immer wieder, dass eine freie, vernetzte Welt auch freie, vernetzte Lösungen statt Lock-In und Zentralismus braucht. Wie wär’s? Und irgendwann ziehen wir dann alle gleichzeitig zu einem status.net-Server unserer Wahl um, Twitter sieht kurz darauf ein, dass das eigentlich ganz cool ist und öffnet seine API. Das fände ich schön.

    • map sagt:

      Föderierte Systeme funktionieren schlichtweg nicht, wenn ich über meinen Nerd-Tellerrand hinausblicke. Wenn mein Onkel fragt wie das mit Email geht, dann kann ich ihm nicht sagen „Ja, da installierst du dir erstmal dovecot und qmail“. Aus meiner Perspektive versagt die technisch-kompetente Schicht des Netz seit Jahrzehnten vermittelbare Konzepte zu erarbeiten. Von UI und UX gar nicht zu reden. Nicht umsonst kommunizert ein Grossteil meiner Verwandtschaft mittlerweile per Facebook. Weil das einfach ist.

      Von Technik allein wir die Welt nicht besser. Sie muss auch benutzbar sein. Tent ist das nicht. Status.net auch nicht. Es gibt ein klares Missverhältnis zwischen denen die für offene Lösungen evangelisieren und denen die an deren praktischer Nutzbarkeit arbeiten. Solange das so ist, ist das im wesentlichen Gerede. Seit Jahren warten alle auf föderierte Status.net DMs. Und wenn dann mal ein Google Summer of Code Projekt dafür ausgeschrieben ist, macht es keiner.

      (tl;dr: die echte welt ist komplizierter.)