Blame me!

Foto , by Christine Koschmieder

Dies ist ein Beitrag aus unserer Rubrik kleinergast, in der wir alle Gastartikel veröffentlichen. Dieses Mal kommt er von Christine.

Christine Koschmieder betreibt Propaganda. Als Literaturagentin. Als Autorin. Als Übersetzerin. Als Mutter. Damit auch ein paar andere Stimmen zu Wort kommen. Eine davon – Laurie Penny – am 15. Juni im UT Connewitz, Leipzig.

@fraukoschmieder

[Triggerwarnung: Essstörung, sexualisierte Gewalt, Selbstverletzung, psychische Erkrankung]

Wenn das „Blame me“-Programm uns zu Duracell-Häschen macht. Wenn wir ein Leben verteidigen, in dem wir an unserer Selbstausschaltung mitwirken. Dann ist es Zeit für ein Update.

(1) part of it

Daisy leidet unter einer Zwangsneurose: sie kann nicht in Gesellschaft essen. Daisy ernährt sich fast ausschließlich von Brathähnchen, deren Gerippe sie unter dem Bett hortet. Ihre Wohnküche (Eat-In Kitchen) nennt sie unbeirrbar ihr Wohnhühnchen (Eat-In Chicken). Daddy darf die Miete zahlen und Daisy sexuell missbrauchen, Daisy darf sich als geheilt bezeichnen und die Unterarme zerschneiden. Dieses Leben ist Daisy so viel wert, dass sie dafür die Zerstörung ihres Körpers und ihrer Seele in Kauf nimmt. Daisy hat sich eingerichtet in ihrem ‚Wohnhühnchen‘.

So sieht mein Wohnhühnchen aus

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Wache auf. Schlechtes Gewissen: Wecker zu lange ignoriert. Nicht laufen gewesen. Milch alle. Den Ferienlagerzettel fürs Kind vergessen, die Fenster sind schmutzig, ich spreche immer noch kein Bosnisch, war immer noch nicht mit den Kindern in Auschwitz.

Das schlechte Gewissen schnappt sich Kaffeetasse und Zeitung und richtet sich ein. Der Ausguss ist immer noch verstopft. In der Ukraine wird weiterhin geschossen, der Islamische Staat schlägt weiterhin Köpfe ab, in Deutschland marschiert weiterhin Legida. Sogar die Blumen sind verwelkt.

Meine Tochter streichelt ihr Smartphone. Es ist klüger und hat bessere Funktionen als ich: WhatsApp ist unterhaltsamer, Snapchat hält keine Vorträge über Cybermobbing. Ich hole Luft. Mache den Kühlschrank auf. Und sofort wieder zu. Mein Joghurt hat mehr Geschmack als ich. Mein Käse mehr Charakter. Mein Herd ist intelligenter, mein Kakaopulver fairer, mein Obst weitgereister.

Fahre den Rechner hoch. Mein Profilfoto ist wacher, mein Facebook-Account hat mehr Freunde als ich, MeinFernbus die besseren Verbindungen. Jede App kann mehr als ich. Ich bin das anfälligste, wartungsbedürftigste, schlechteste Produkt von allen. Und kann den größten Makel, den schlimmsten Bug nicht beheben: mein Bewusstsein.

Dabei sind es nicht mein Joghurt, mein Käse und mein Herd, die mich unter Druck setzen. Es reicht nicht, mein Smartphone aus dem Fenster zu schmeißen, die Kinder zur Adoption freizugeben und eine Selbstorganisations-App zu installieren. Der Fehler im System bin ich selbst, ist mein Bewusstsein. Der Fehler liegt im Bild, das ich von mir stricke. Die Frau-Koschmieder-Legende. Beklebt mit irreführenden Etiketten, zu besichtigen auf allen Social-Media-Kanälen. Nur nie im Original.

Und selbst an Tagen, an denen die Frau-Koschmieder-Legende ihrem Facebook-Profil nicht einmal annähernd ähnelt, hält sie an der Legende fest. Strickt weiter neue Maschen ans falsche Gewebe. Die das Original verhüllen. Das Original, das Elastigirl-artig versucht, drei Kinder, eine Literaturagentur, einen Garten, einen Twitter-Account und Mangold zum Gedeihen zu bringen, immer mit Stil und Humor, ist klar. Spätestens hier wird´s unglaubwürdig. Das Original, das gegen Leistungswahn und Selbstoptimierung agitiert, aber sich die Fetzen von den Lippen zieht, weil sie ihren eigenen Ansprüchen nicht genügt. Das mit Geschirr, Lebensmitteln oder Türen um sich schmeißt , wenn ihr alles zu viel wird. Spätestens hier wird´s endlich glaubwürdig. Das Original, das im falschen Märchen mitspielt. Das #partofit ist.

Glück to Go, S, L oder XXL

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Wir bespielen Facebook, Twitter und Tumblr, schreiben Garten-, Do-it-Yourself- und Cupcake-Blogs. Dagegen spricht nichts. Wenn es der Pflanz-, Bastel- oder Backleidenschaft entspringt. Aber was, wenn das exzessive (Mit)Teilen nur dazu dient, die Wertschätzung, die anderswo fehlt, über Follower und Likes zu holen? Wenn wir Cupcakes produzieren, um ein Leben vorzutäuschen, in dem wir bekommen, was uns das echte Leben schuldig bleibt? Zugegeben, das ist eine so anmaßende wie unbewiesene Behauptung, und sie verletzt all jene, denen das Feedback und die Wertschätzung, die sie über ihre Social-Media-Kanäle erfahren, viel bedeuten. Glück bedeuten. Aber über Glück will ich gar nicht sprechen, das Glück hat mächtigere Fürsprecher: die Lebensmittel-, die Gesundheits-, die Unterhaltungsindustrie, sie alle bieten das passende Produkt, das uns dem Glück näher bringt, maßgeschneidert und individuell konfigurierbar: S-, L- oder XXL-Tarife, stimmungsabhängige Uhrenarmbänder, Fruchtsaftgetränke, die optional `Passion´, ´Happyness´ oder `Balance´ versprechen. Nein, nach dem Glücksstöckchen springe ich nicht. Ich will über Freiheit sprechen. Die Freiheit, sich dieses Glück zu wählen und es anzustreben.

Offiziell und formal sind wir frei. In der Gestaltung unserer Rollen, in der Wahl unserer Partnerschaften, in der Entscheidung, ob wir unser Leben mit Kindern oder ohne verbringen wollen. Wir werden nicht müde zu betonen, dass uns doch nichts, niemand und schon gar kein geschlechtsbedingtes Rollenbild daran hindert. Als schämten wir uns dafür, wenn es uns nicht gelingt, und müssten die mögliche Freiheit in Ermangelung der tatsächlichen Freiheit behaupten. Wie Daisy im eingangs erwähnten Film Durchgeknallt, die ein Leben verteidigt, in dem sie an ihrer eigenen Zerstörung mitwirkt. Weil das immer noch erträglicher zu sein scheint, als daran zu scheitern, in dieser großartigen, alle Möglichkeiten bietenden Welt ein freies, glückliches und selbstbestimmtes Leben zu führen. Wir schämen uns.

`Aber versuchen wir denn nicht alle, so gut wir können, das zu sein, wofür wir uns halten?´, fragt ein Freund. Klar, wir bemühen uns wie bekloppt. Im zweiten Teil der Frage liegt der Hase im Pfeffer: wofür wir uns halten. Die Frau-Koschmieder-Legende zum Beispiel hält sich für reflektiert, autonom und selbstbestimmt. Damit wir uns nicht eingestehen müssen, dass wir uns von Joghurt, Käse, Apps & Co. diktieren lassen, wofür wir uns halten, läuft im Hintergrund das Blame me-Programm. Ein Programm, das macht, dass wir uns in unserem eigenen Leben und unserer eigenen Identität unzulänglich fühlen. Installiert, den Fehler immer bei uns selbst zu suchen, wenn es uns nicht gelingt, das zu sein, was wir gerne wären. Wie Duracell-Häschen an unserer Selbstperfektionierung zu arbeiten. Das Blame me-Programm spielt der Produktwelt in die Hände. Sie kann sich zurücklehnen und weiter perfekter sein als wir.

Chromosomen wissen nichts
über die Zubereitung von Käsetoasts

Das ist nicht neu. Simone de Beauvoir beschreibt schon 1949 die Versuchung, einem Bild gerecht zu werden, das kein selbstgeschaffenes ist. „Noch kennt die Frau sich nicht als Eigenexistenz, sondern als das, was sie in den Augen des Mannes ist.“ `Vom Männerblick abhängig? Bullshit!´, will es schreien, `Ich schaffe doch das Bild selbst, dem ich entsprechen will´. Wow, Fortschritt. Statt einem männlich geprägten Blick unterwerfen wir uns dem Anspruch der Produktwelt. Versuchen, einer Vorlage gerecht zu werden, deren Unerreichbarkeit nichts mit unserer Unzulänglichkeit zu tun hat, sondern mit der Unzulänglichkeit der Vorlage. Was wir wissen. Was uns krank macht. Was uns erschöpft. Was Kräfte lähmt, die sich der Veränderung dieser Vorlage widmen könnten. Einer Vorlage , die aus biologischen Gegebenheiten bestimmte Eigenschaften und Aufgaben abzuleiten trachtet. `Natürliche´ Eigenschaften. (Der Natur möchte ich gerne mal ein Bier ausgeben. Und ihr zuhören, wie sie sich darüber auskotzt, vor wie viele Karren sie täglich zur Wahrung von Partikularinteressen, Monopolansprüchen und Profitmaximierung gespannt wird.) Aber Chromosomen kennen keine Werte. Chromosomen sagen nicht: du bist prädestinierter, Käsetoasts zu bereiten. Biologische Gegebenheiten erhalten den Wert, den wir ihnen geben. Um andere Rollen können wir nur selber ringen. Aber natürlich sind auch Programme lernende Wesen. Das System hat dazu gelernt. Bei der Installation ein automatisches Opt-In ergänzt. Wir haben zugestimmt. Unsere Produktivkraft unentgeltlich der Instandhaltung und Fortschreibung der alten Märchen zur Verfügung zu stellen. Selber schuld. Blame me.

(2) Blame me

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Blame me. Weil ich mich ständig dabei erwische, meiner Tochter Dinge zu vermitteln, deren Botschaft letztendlich ist, dass ihre Bedürfnisse weniger wert sind als die von Dritten. Ihr Bedürfnis, so herumzulaufen, wie sie sich gefällt. Biete niemandem Anlass, sich von dir sexuell provoziert zu fühlen. (Was zum Teufel soll das sein, eine sexuelle Provokation? Ein Kleidungsstück ist ein Stück Stoff, im Zweifelsfall eines, das Vorstellungen und Begierden weckt. Vorstellungen und Begierden wecken auch Dinge in der Konditoreiauslage. Ich fühle mich deswegen nicht legitimiert, sie mir gegen den Willen ihres Eigentümers anzueignen. Wieso vermittle ich also meiner Tochter, es sei ihre Verantwortung, andere nicht zu Tätern werden zu lassen?)

Blame me. Weil ich meinen Kindern ein so dualistisches Geschlechterverständnis vermittle, dass sie nicht verstehen, warum Menschen, die sich von keiner der konventionellen Geschlechtszuordnungen repräsentiert fühlen, nach anderen Bezeichnungen für sich suchen. Warum Facebook inzwischen 60 Möglichkeiten zur Beschreibung der sexuellen Identität anbietet.

Blame me. Weil ich einen Roman darüber geschrieben habe, wie Menschen sich so manipulieren lassen, fremde Interessen für die eigenen zu halten. Und in dieselbe Falle tappe, wenn ich vermeintlich amüsiert darüber hinweggehe, wenn sich Verlagsvertreter ausschließlich dafür zu interessieren scheinen, dass die Autorin drei Kinder von drei Männern hat.

Blame me. Weil ich eine Autorin beschwichtige, deren Roman nur sehr zögerlich rezensiert wird. Der Roman handelt von einer Frau, die bestehende Macht- und Herrschaftsverhältnisse mit Intriganz und Machtbewusstsein zu ändern versucht, dabei aber weder gut aussieht noch heroisch leidet. `Weibliche Hauptfigur, das lesen Männer nicht so gerne´, erklärt man der Autorin. Wenn man ihnen die Tür zur Öffentlichkeit nicht aufmacht, bleiben Romanfiguren in ihren Romanen eingesperrt. Zum Schweigen verdammt. Blame me, weil ich abwiegle. Statt Rezensentinnen wie Ina Hartwig, Wiebke Porombka, Felicitas von Lovenberg, Maren Keller, Daniela Strigl, Karla Paul, Doris Akrap oder Angela Leinen aufzufordern, das nächste Mal, wenn Clemens Meyer, Sven Regener, Edo Popovic oder Karl Ove Knausgård über pubertierende Jungs, Herrn Lehmann oder sich selbst schreiben, abzuwinken. Mit der Ansage: `Männliche Hauptfigur, das lesen Frauen nicht so gerne´.

Blame me. Weil ich Teil eines Getriebes bin, das absurde Maßstäbe, Klischees und Bullshit reproduziert, wie die absurde Vermutung, das Interesse an Literatur sei abhängig davon, ob derjenige, der sie geschrieben hat, einen Penis oder eine Vagina hat.

Sorry, Ihre Suche nach ‘Update’
hat leider keinen Treffer ergeben

‘Entspann Dich.’ Wohlmeinende Freundinnen schenken mir ein Brigitte-Abo. Dabei entspannt es mich kein bisschen, wenn all die vermeintlichen Durchschnittsfrauen zwischen den Seiten entspannter sind als ich, während sie die Welt verändern oder mit Humor zu nehmen lernen, Cupcakes glasieren, Beziehungsprobleme lösen und dabei dank emotionaler Detoxkuren nicht aus dem Gleichgewicht geraten. Nein, das entspannt mich nicht. Im Gegenteil. Ich schaffe es ja schon nicht, auch nur ein einziges Schlachtschwein zu befreien, kein eingeschweißtes Gemüse mehr zu kaufen oder meinen Kindern andere Rollenbilder zu vermitteln, wie soll ich da auch noch mit Naturfarben feministische Parolen auf Ostereier malen?

Ich habe versucht, mich selber verantwortlich zu machen. Für meine Unfähigkeit, Frauenzeitschriften, Joghurtgeschmäcker, Selbstoptimierungs-Apps und Menschen, die Bücher als ‘Frauenromane’ verkaufen, zu ignorieren.

Blame me. Weil ich Angst habe, dass Männer, die ich schätze, die 4.000 Worte in diesem Text auf einen vermeintlichen Clash of Chromosomes reduzieren und sich genötigt fühlen, wahlweise ihre Geschlechtsteile zu verteidigen oder meine anzugreifen. Statt sich einzugestehen, dass ausgrenzende, reduzierende, dualistische Begriffspaare und Erzählungen allen schaden, die andere Geschichten zu erzählen haben, und nur denen nutzen, die davon profitieren, dass sie so einseitig erzählt werden.

Blame me. Weil sich weder im App-Store, noch in der Brigitte das passende Update für mein Leben findet. Weil ich nicht bereit bin, das Horten von Hähnchengerippen und aufgeschnittene Unterarme als Preis für das Glück zu akzeptieren. Weil ich mich nicht entspannen kann.

Ich habe tatsächlich gedacht, mit über vierzig irgendwie aus dem Schneider zu sein. Ich könnte die Verantwortung auf all die wütenden jungen Frauen abschieben, auf Laurie Penny, Sarah Diehl, die Alpha-Mädchen, die Mädchenmannschaft, das Missy Magazin, Kleinerdrei.org und all die anderen. Könnte mich zurücklehnen, die Wut den Jungen schenken und fortan eine Closet-Feministin sein und Frauenzeitschriften lesen.

Solange ich mit Privilegien um mich schießen kann,
bleibt das Bewusstsein im Schrank

Eine ganze Armada guter Gründe scheint das Verharren in bestimmten Verhältnissen zu rechtfertigen, verbarrikadiert die Schranktür, hinter der das feministische Bewusstsein hängt. Angefangen bei der subjektiv empfundenen Unzulänglichkeit (`Die lassen mich bestimmt nicht mitspielen´) über vermeintlich stichhaltige Gründe ( `Mir steht doch niemand im Weg, mich benachteiligt doch niemand´) bis hin zu den hinterhältigen Privilegien: Solange ich kein angemessenes Opfer bin, sondern weiß, gebildet, im Sozialstaat lebend und krankenversichert, solange habe ich höchstens Anspruch auf Wohlstandsneurosen, einen einklagbaren Kindergartenplatz und ein Zeitschriftenabo. Also lasse ich den Schrank zu (warum sollte ich auch Menschen vor den Kopf stoßen, die mir doch nichts getan haben?) und schäme mich in der verbleibenden Zeit für meine Privilegien. Zack. Neutralisiert. Der Begriff der Selbstermächtigung hat ein gefährliches Gegenstück : die Selbstausschaltung. Und falls das Verharren in der privilegierten Untätigkeit ungemütlich wird, hält der Notfallschrank ja auch noch die Blame you-Pille bereit. Die eigene privilegierte Untätigkeit wird erträglicher, lange es andere gibt, die noch privilegierter untätig sind, noch mehr falsches Bewusstsein durchs falsche Leben tragen. Also lassen wir die Privilegien von der Leine und hetzen sie einander auf den Hals. Junge Mütter reduzieren wir auf ihre Bugaboo-Kinderwägen und ihr bevorzugtes Heißgetränk. Werfen der Generation vor uns wahlweise veralteten Latzhosenfeminismus, Gleichheitswahn oder ihre Ablehnung von Pornographie und Prostitution vor, reduzieren den Onlinefeminismus vernetzter Alphamädchen auf Hipness, Hashtags und Haltung und ziehen Menschen wie Lann Hornscheidt, die neue Räume für von der bisherigen Dualität abweichenden Geschlechtsidentitäten zu gestalten versuchen, ins Lächerliche.

Wer hebt schon gerne ein gerupftes Hühnchen
auf den Sockel?

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Was für ein Spektakel, Menschen dabei zuzugucken, wie sie sich gegenseitig zerfleischen, mit Vorwürfen belegen und das jeweilige Privileg um die Ohren hauen. Das falsche Bewusstsein. Den falschen Feminismus. Die falsche Vorstellung vom Frausein. Simone de Beauvoir beschreibt das `mythische Denken´, das Dogma vom `Ewigweiblichen´, das zur Keule wird, sich gegen all jene richtet, die es wagen, davon abzuweichen, ihm nicht entsprechen zu wollen. Und zur Bestätigung gerne diejenigen aus dem Hut zaubert, die doch gar kein Problem mit ihrer Weiblichkeit, ihrem Geschlecht haben. Die zufrieden sind. Denen sich noch nichts in den Weg gestellt hat. Die glauben, es mit Motivation, Durchhaltevermögen, Disziplin, Leistung und Humor schaffen zu können. Die ich hier Trophy Women nennen will (in Anlehnung an die Trophy Wives, `Trophäenweibchen´): Frauen, die gerne hervorgezaubert und auf dem Silbertablett präsentiert werden, um zu beweisen, dass die Geschichte mit den beeinträchtigenden, benachteiligenden Rollenzuschreibungen Bullshit ist. Dass der Laden doch läuft. Zumal die Surrogate – `gesunder Egoismus´, Durchsetzungsvermögen, individuelle Verantwortung – doch so viel mehr Zustimmung verheißen.

Und wer wäre nicht gerne so ein Vorzeigeexemplar, ein Best-Practice-Modell? Wer gesteht sich schon gerne ein, dass Erfolg und Position nicht allein auf besserer Selbstorganisation oder individueller Leistung basieren? Dass da möglicherweise System dahinter steckt, wenn wir unsere Wohnhühnchen immer schöner gestalten, aber dabei immer mehr Federn lassen. Dass möglicherweise nicht die falsch sind, die es nicht zur Trophy Woman gebracht haben, sondern etwas an einer Welt, die Trophy Women produzieren muss. Dass die Trophy Women am Oberdeck als Blickfang gebraucht werden, um den Laden am Laufen zu halten, um von den gerupften Hühnern abzulenken, deren Anblick in ihm nicht vorgesehen ist. Dann wird es Zeit, nicht mehr uns zu entblößen, sondern die Strukturen. (Auch wenn die sich nicht halb so verführerisch räkeln wie die Trophy Women im Feuilleton). Dann wird es Zeit, das System dahingehend zu analysieren, welche Mittel wir haben, das Skript umzuschreiben und die Rollen neu zu besetzen. Denn das Spiel könnte anders verlaufen, wenn mehr MitspielerInnen ihre Rollen im Verlauf des Spiels umschrieben. Nicht anders ist die Radikalität zu erklären, mit der versucht wird, Menschen wie Anita Saarkesian zum Schweigen zu bringen, die ein Update der herrschenden Rollenbilder der Online-Spielewelt fordert. Sie ist dem Kern gefährlich nahe gekommen: Der Geburt einer Kultur im Spiel.

(3) Update

Bei mir ist die alte Version 42 Jahre lang ganz gut gelaufen. Aber jetzt ist ein Update fällig. Weil die Lüge an allen Ecken und Enden sichtbar wird. Ich will nicht länger an einer Erzählung mitwirken, die macht, dass Menschen sich Produkten und Apps unterlegen fühlen. Ich will nicht mehr als Körperdouble für die Lüge einspringen, mit der meine Kinder jeden Morgen am Frühstückstisch sitzen.

Jeden Tag sehe ich die Klebespuren an meinem Küchenfenster. Meine Tochter hat dort mit Paketband ein Herz für mich an die Scheibe geklebt. Wenn ich Klebespuren sehe, wo jemand ein Herz für mich hinterlassen hat, wird mir klar, dass ein Update ansteht. Dass da draußen noch etwas anderes wartet. Dass ich mich nicht für den Rest meines Lebens erschöpft zum Yoga schleppe, um auf andere Erschöpfte zu treffen, danach über unsere Erschöpfung zu sprechen und sie in ein, zwei, drei Glas Rotwein zu ertränken. Weil ich die wachen Fünfundzwanzigjährigen am Nebentisch sehe. Die mit den gierigen Augen und den großen Plänen. Weil ich ihre Blicke auf Frauen fallen sehe, die aussehen wie die Frauen, auf die vor 15 Jahren meine Blicke gefallen sind. Auf die Frauen, die wir geworden sind. Nur, anders als die Frauen, auf die meine Blicke gefallen sind, möchte ich jetzt aufbegehren: Euch gefällt nicht, was Ihr seht? Dann fragt, statt uns zu bemitleiden oder zu verachten (wie ich das in meiner jugendlichen Arroganz getan habe). Hört euch unsere Geschichten an und erkennt die Muster, erkennt, dass die Löcher immer an ähnlichen Stellen im Netz lauern. Hört Euch unsere Geschichten an. Und die Eurer Väter. Das wird schwerer, weil die nicht so gut im Verlierergeschichten-Erzählen sind und meistens nicht gelernt haben, über Scheitern und Versagen zu sprechen. Dann fragt sie stattdessen nach ihren Träumen und ob sie diese heute leben, und falls nicht, woran das ihrer Meinung nach liegt. Und lasst Euch nicht mit der normativen Kraft des Faktischen oder der Realität oder gar  ‚Aber dann kamst ja du und dann dein Bruder‘ abspeisen. Und erzählt uns, wo Ihr hinwollt und wie Ihr da hinzukommen gedenkt, und wir werden versuchen, nicht zynisch zu lachen, sondern zu überlegen, was wir verändern, was wir aus dem Weg räumen und was wir verbrennen müssen, damit Ihr in 15 Jahren andere Blicke erntet. Denn wir müssen dieselben alten Märchen ja nicht weiter erzählen.

Umsteigen, bitte. Ihre Fahrt endet hier

Wenn die Wirklichkeit sich anhand der eingefahrenen Modelle nicht hinreichend beschreiben, verstehen und gestalten lässt, wenn ich mich jahrelang am Ideal der Eigenverantwortung, der individuellen Leistung, der vermeintlichen Wahlmöglichkeit abgekämpft habe und merke, dass mich dieses Fortbewegungsmittel nicht dahin bringt, wo ich hin möchte, höre ich irgendwann auf, das Scheppern und die Pannen und die Schäden zu ignorieren und gucke mich nach einem anderen Fortbewegungsmittel um. Natürlich erzeugt das Abwehr. Zum einen seitens derer, die den Markt für ihr Fortbewegungsmittel schrumpfen sehen. Zum anderen seitens derer, die jeden Morgen ihre alte Karre besteigen, sich ihre Macken schönreden, aber letztendlich spüren, dass sie anders besser fahren könnten. Als ich vor Jahren auf Carsharing umgestiegen bin, haben mir viele Freunde erklärt, warum dieses Modell für sie nicht in Frage kommt. Warum sie den permanenten Zugriff auf ihren eigenen PKW benötigen. Warum das, so gut sie es finden, für sie nicht machbar ist. Dabei wollte ich gar niemanden missionieren. Ich habe nur von meiner Erfahrung berichtet. Aber wenn eine Praxis, die sich von der unterscheidet, mit der wir jahrelang vermeintlich gut gefahren sind, eine Vorstellung davon vermittelt, dass wir damit vielleicht gar nicht so gut gefahren sind, erzeugt das Abwehr. Das liegt nicht an der Person, die das Gefährt gewechselt hat. Sondern an der Ahnung, dass ein genauerer Blick auf das eigene Gefährt dessen Unzulänglichkeit ans Licht bringen könnte. Wer mit seinem Modell zufrieden ist, muss sich von meinem nicht angegriffen fühlen. Es sei denn, die Wahrheit über das eigene Modell sieht anders aus als die Geschichten, die darüber erzählt werden. Es sei denn, das eigene Modell hinterlässt Frustration, Wut, Enttäuschung.

Die Verhaltenstherapie sieht den Menschen als lernendes Wesen. Die meisten Probleme führt sie darauf zurück, dass Menschen etwas entweder nicht gelernt haben oder etwas Ungünstiges gelernt haben. Oder etwas, das in der Vergangenheit nützlich war, aber heute – unter veränderten Bedingungen – nicht mehr angemessen ist. Ich empfinde es als nicht mehr angemessen, eine Self-Disrupting Machine zu sein. Ich finde es nicht angemessen, meinen Kindern zu vermitteln, wie man sich selbst  ausschaltet. Ich möchte herausfinden, wie sich Dinge, die wir wider besseres Wissen tun und an anderen beobachten, so erzählen lassen, dass ein Werkzeug daraus wird, keine Schuldzuweisung. Wie sich Erzählungen schaffen lassen, die Handlungsfähigkeit schaffen, nicht Lähmung.

Ein Update ist keine Guillotine.
Ein Update macht Profite und Begünstigte sichtbar.

Denn Feminismus ist ein Positionswechsel, ist die Erkenntnis, dass es eben nicht unserer individuellen Verantwortung obliegt, wie gut es uns mit unserem Leben, in unserer Beziehung, mit unserem Körper, unserem Sex geht. Dass es weder der eine, noch die zehn oder gar die Männer sind, denen das vorzuwerfen ist oder die dafür verantwortlich wären. Es gibt sie nicht. Die Männer. Den Feind. Genauso wenig wie ein geschlechtsspezifisches `Wir´. Es gibt `uns´ nicht. Uns Frauen. Mit der jungen Frau, die einen Job aus Verantwortungsgefühl gegenüber ihren Kindern nicht antritt, eint mich wenig. Ich kann ihre Entscheidung weder teilen noch verstehen. Mit der Alleinerziehenden in einer Favela in Bogota eint mich wenig, sie kann mein privilegiertes Hadern nicht verstehen. Mit der jungen Frau, die das Gefühl hat, im falschen Körper zu stecken, eint mich wenig. Mit der Sexarbeiterin, die um ihre Rechte kämpfen muss, eint mich wenig. Es gibt kein `wir´ und kein `die´. Aber es gibt Menschen, die vom Monopol bestimmter Bilder und Geschichten profitieren. Und Menschen, die von der Dominanz, von der Monopolisierung bestimmter Bilder und Geschichten benachteiligt werden. Es gibt Strukturen, die das, was wir für Wahlmöglichkeiten halten, prägen und bestimmen. Ein System, dem es förderlich ist, wenn wir so handeln, denken und entscheiden, wie wir es tun. Wenn wir möglichst keine Geschichten austauschen, sondern uns hinter der Individualität unserer Erfahrungen verschanzen. Keine Geschichten austauschen, weil wir uns zu schuldig, zu privilegiert, zu unqualifiziert fühlen. Weil wir wissen, dass sich immer noch eine Statistik finden lässt, die den Gender Pay Gap widerlegt, immer noch eine Lügnerin findet, die eine Vergewaltigung vorschützt, um den Ruf eines Mannes zu schädigen, immer noch eine Studie findet, die Mutterinstinkt nachweist. Menschen, deren Geschichten einer opportunen Lesart zuwider laufen, lässt sich immer nachweisen, wahlweise frustriert, ungefickt, hässlich, spaßbefreit oder eine Tugendfurie zu sein. Es ist ziemlich leicht, Menschen Eigenschaften nachzuweisen, die taugen, ihre Glaubwürdigkeit zu diskreditieren. Und trotzdem haben Geschichten Macht. Weil sie Menschen, „die in Wahrheit nicht so unwissend sind, wie sie gern tun“, zeigen, „dass die Geschichten über die Welt, mit denen sie aufwuchsen, nicht die einzigen sind“ (Laurie Penny in “Unsagbare Dinge”). Diese gar nicht so Unwissenden können dann immer noch ihre Statistiken auffahren. Aber die Wirkmacht von Flaschengeistern und Zaubernüssen und Wunschfeen hat sich noch nie dadurch eindämmen lassen, dass der Nachweis von Flaschengeistern, Zaubernüsse und Wunschfeen statistisch noch nicht erfolgt ist.

Spoilerwarnung:
Sugardaddy, Trophy Woman & Duracell-Häschen
im Update nicht mehr spielbar

BlameMe5

Feminismus ist keine App für die Amazon-Wunschliste, kein Plug-In. Sondern eine Bereitschaft. Eine Entscheidung. Nicht mehr dezent mitzuwippen, wenn auf der Tanzfläche die falsche Musik gespielt wird. Sondern die eigene Musik einzulegen und die Tanzfläche zu betreten. Klar zieht es Unmut auf sich, den anderen die Musik abzudrehen. Klar drehen sich alle irritiert um, die gerne dazu getanzt haben, Männer wie Frauen. Klar sieht das erstmal komisch aus, sich nach Jahren der Unbeweglichkeit im feministischen Ausdruckstanz zu versuchen. Ein Update auf die Tanzfläche zu steppen. `Was für ´ne durchgeknallte Trulla.´

Durchgeknallt heißt der eingangs erwähnte Film in der deutschen Fassung; im Original Girl, interrupted. `Interrupted´ kennt aber auch noch eine andere Übersetzung. Ausgeschaltet. Also male ich ein fettes #update neben die verbliebenen Herzspuren an meinem Küchenfenster. Damit ich nicht vergesse, meiner Tochter und meinen Söhnen zu vermitteln, dass durchgeknallt nicht die passende Übersetzung für `interrupted´ sein muss. Dass es erforderlich ist, sich einzuschalten, wo `interrupted´ für `ausgeschaltet´ steht. Für ausgeschaltete Jungs und Mädchen, Männer und Frauen, für alle, die sich von der dominierenden Geschichtsschreibung nicht erzählt fühlen. Deren Vorstellungen darin nicht vorkommen. Die keine harten Jungs, Sugardaddys, Dirndlfüller, Trophy Women, Duracell-Häschen und selber schuld sein möchten. Dass Geschichten sich auch anders tanzen lassen.

Are you ready, boots?

5 Antworten zu “Blame me!”

  1. Thorsten Haupts sagt:

    Ich lästere nie über Leidensgeschichten und werde der Autorin auch dumme Sprüche a´la „Das Leben ist …“ ersparen. Trotzdem konnte ich mir einen resignierten Seufzer nicht verkneifen. Denn ich kenne die Geschichte. Nicht genau die, natürlich, trotzdem: Das hatten wir alles schon mal. In den siebzigern, frühen achtzigern. die geplatzten Träume, die eingesperrten Gefühle, das fehlende Miteinander, das angeblich falsche Funktionierenmüssen. Tausendfach beschrieben und veröffentlicht. Dann gings´s zum gemeinsamen Kuscheln. In die WG mit sozialistischen Selbstverletzungs-Ritualen. In den indischen Ashram zur Unterwerfung unter und Ausbeutung durch einen indischen Meister. In die Landkommune zum gegenseitigen physischen und seelischen Missbrauch. Was dabei rauskam waren wenige, die ihr persönliches seelisches Gleichgewicht fanden. Viele, die rechtzeitig und ernüchtert den Ausstieg aus dem Ausstieg suchten. Und vielleicht noch mehr, die die Suche nach einer Welt der authentischen Gefühle, des empfindsamen Umgangs miteinander und neuer Beziehungs- und Kommunikationsformen endgültig in den geistigen und seelischen Bankrott trieb. Es scheint grosso modo, die Gesellschaft, die wir haben, ist noch mit das Beste, was Menschen zustandebringen. Popper hatte vollkommen recht – der Versuch, den Himmel auf Erden zu errichten, hat noch immer direkt in die Hölle geführt.
    Viel Glück beim Musikabdrehen. Versuchen Sie´s bitte nicht bei mir in der Nähe. Ich halte mich an Wahrscheinlichkeiten und unterbinde Versuche, mir den nächsten Menschenversuch anzudrehen, ziemlich grob.
    Gruss,
    Thorsten Haupts

  2. Lia sagt:

    Wow. Was ein Text. Danke!

    • Danke zurück für´s Feedback. Denn dass dieser Text ganz schön viele `Federn lassen´ mit sich gebracht hat, dürfte klar sein. Bleibt die Frage, wie weiter, wie #update-Stories ins
      normative Narrativ einschleusen, wie subversive Strategien vorantreiben…

  3. Kai Lilith Adami sagt:

    Dieser Text kommt genau zur richtigen Zeit. Ein Danke aus der tiefsten Sohle! Auch ich gehe noch mal aus der Deckung mit meinen bald 37 Jahren. Ich weiß nicht, wie neu Geschichte(n) schreiben. Nur, dass ich mitten im Updateprozess stecke. Und dass ich nicht länger lügen kann und will.
    Damit sich meine Blicke verändern und die Blicke, die die jungen FeministInnen jetzt und später ernten. Weil es genug ist. Und an der Zeit. Danke.