Station 20 unten

, by https://www.flickr.com/photos/105823405@N06/

Dies ist ein Beitrag aus unserer Rubrik kleinergast, in der wir alle Gastartikel veröffentlichen. Dieses Mal kommt er von Frida Golz. Frida Golz heißt eigentlich anders und schreibt unter Pseudonym, weil ein Psychiatrieaufenthalt immer noch Nachteile im Beruf mit sich bringen kann. Sie hat gerade ihr Abitur nachgeholt, fängt bald ein Studium in Sozialwissenschaften an und kann sagen, dass sie nach einer sehr langen Zeit im Grau der Depression endlich im bunten Leben mit seinen Aufs und Abs angekommen ist.

Content Note: Erwähnung von selbstverletzenden Verhalten, Depression, Schizophrenie, Alkoholismus

An den Weg ins Krankenhaus kann ich mich gar nicht erinnern. Ich weiß noch, dass K. ein Taxi gerufen hat und mit mir hingefahren ist. Ich hatte ihn gebeten, mich „irgendwohin“ zu bringen. Was genau ich damit eigentlich gemeint hatte, wusste ich selbst nicht. Er zum Glück schon. Auch als wir angekommen sind, begreife ich gar nicht so ganz, wo ich bin. Irgendwann geht K. Das ist o.k., denn die Psychologin ist jetzt da.

Ich erinnere mich nicht daran, wie sie mich von der Notaufnahme zur Station 20 bringt. Station 20 unten, die mir heute so vertraut ist. 
Nachdem mir eine mütterlich wirkende Pflegerin Beruhigungstropfen gegeben hat, sitze ich im Tagesraum. Bin erschlagen, unendlich müde. Mein Kopf sinkt auf die Tischplatte. Von der Pflegerin werde ich aufgefordert in mein Bett zu gehen. Mein Bett? Welches Bett?

„Ich muss auf Mama warten“, sage ich. Die Tropfen fangen an zu wirken und meine schon vorher wirren Gedanken werden noch unlogischer. Dann lasse ich mir doch mein Bett zeigen. 
Ich bin sofort weg, wache erst davon auf, dass eine andere Pflegerin rein kommt. Sie sagt mir, dass meine Mutter da ist.

Die Tropfen vernebeln immer noch meinen Geist und später kann ich mich nur noch undeutlich an diesen Besuch erinnern.

Der nächste Tag, Frühstück im Tagesraum. Ein Mann kommt rein: „Du legst dich jetzt ein bisschen hin.“ Er spricht, als hätte er diesen Satz auswendig gelernt.
 Später erfahre ich, dass er T. heißt und dass er diesen und andere Sätze permanent wie unter Zwang sagt.

Ich fange langsam an zu begreifen. Ich bin in einer Psychiatrie. Station 20 unten.
 Halb offene, halb geschlossene Station. Mir wird gesagt, ich darf raus, weil ich nicht suizidal bin und keine Gefahr für mich oder andere darstelle. Ich setze mich alleine in eine Ecke, hoffe, von niemandem angesprochen zu werden und schlinge hastig mein Frühstück runter.

Medikamente ohne Absprache

Eine Freundin kommt mich am nächsten Tag besuchen. Wir wollen spazieren gehen und die Pflegerin schaut in meinen Unterlagen nach, ob ich auch wirklich raus darf. Man kommt nur über einen Türsummer rein und raus.
 Ein Mitpatient läuft uns hinterher. Ob wir ihm Zigaretten mitbringen könnten. Er darf nicht raus. Ich bin schockiert. Will weg, nicht auf Station 20 und nicht im Krankenhaus bleiben. Als ich wiederkomme, bitte ich die Psychologin um ein Gespräch.

Sie schlägt mir vor, noch das Wochenende abzuwarten und am Montag entschließe ich mich tatsächlich, erst mal zu bleiben. 
Ich muss einsehen, dass ich krank bin, dass ich die Depression ohne Hilfe nicht in den Griff bekomme. Und ich muss mir das Recht geben, gesund zu werden, soweit möglich, bevor ich mich um meine berufliche Zukunft, um überhaupt irgendeine Zukunft kümmern kann. Depressive Verstimmung nennt es die Oberärztin. Als sie das sagt, frage ich mich, ob eine Verstimmung über neun Jahre anhalten kann.

Gemeinsam mit der Psychologin beschließe ich, eine Einzelfallhilfe zu beantragen. Diese soll mir, wenn ich aus der Psychiatrie raus komme, dabei helfen, meinen Alltag zu regeln. Alleine schaffe ich das im Moment nicht. Und auch eine neue ambulante Therapie möchte ich danach anfangen.
 Meine letzte Therapie hatte ich vor ein paar Monate zuvor abgebrochen.

Während der nächsten Sitzung mit der Psychologin fällt ihr auf, dass meine Hände zittern, ich soll gleich zur Ärztin gehen. Die ist der Meinung, ich sei auf einem Alkoholentzug. Ich hatte ihr erzählt, dass ich oft zu viel trinke. Und manchmal auch allein zu Hause. 
Ich weiß aber, dass Zittern bei mir normal ist und mit zu viel Kaffee, zu viel rauchen und zu wenig Essen zu tun hat.

Wenig später fange ich an zu begreifen, dass ich ein Alkoholproblem habe, auch wenn ich keinen körperlichen Entzug durchmache. Ich sehe der Ärztin an, dass sie mir nicht glaubt. Für sie steht fest, dass mein Zittern von einem Entzug kommt. Menschen mit Alkoholproblem oder ähnlichem wird hier selten geglaubt.

Abends treffe ich mich mit meinem Freund in der Nähe des Krankenhauses. Um 20 Uhr muss ich zurück sein. Auf Station 20 unten.

Als ich zurück bin, kommt eine Pflegerin zu mir, will mir ein Medikament geben, Tavor, wie sie sagt. Abgesprochen war das mit mir nicht. Ich weiß, dass Tavor sehr schnell abhängig macht und verweigere die Einnahme. Die Pflegerin reagiert ungehalten. Am nächsten Morgen erklärt mir die Ärztin, dass ich das Mittel gegen die angeblichen Entzugserscheinungen nehmen soll, „um ruhiger zu werden“.

Aus meiner Sicht werden Medikamente in aller Form auf Station 20 sehr schnell verabreicht. Und die meisten Leute schlucken, ohne eigentlich zu wissen, was. Ohne überhaupt in der Lage zu sein, zu hinterfragen.
 Ich nehme ein Antidepressivum. Nichts anderes. Nichts zum Schlafen und zur Beruhigung nur dann, wenn es nicht anders geht. Ich möchte mich nicht mit Medikamenten benebeln. Das stößt auf Unverständnis. Bei den Ärzten, aber auch bei den Mitpatienten.

Wer nimmt mehr?

Es herrscht bei einigen ein regelrechter Wettstreit: Wer nimmt die meisten und stärksten Medikamente, wer bekommt die höhere Dosis.
 Oft fällt der Satz: „Gerade habe ich meine Bedarfsmedikation genommen; ich hatte solchen Schneidedruck.“ Das ist der Drang, sich selbst zu verletzen.

Ich finde es furchtbar, wenn Leute mit ihren Narben und Problemen angeben. Aber ich glaube, oft haben sie einfach nichts anderes in ihrem Leben, womit sie prahlen könnten. 
Und ich merke, dass ich selbst dazu neige. Ich habe auch nichts anderes.
 Ich ziehe mich wieder mehr zurück von den Mitpatienten.

Als ich von einem weiteren Treffen mit meinem Freund zurück komme, begegne ich S., einer Mitpatientin. Sie erzählt mir von sich. Als sie sagt, Eminem verfolge sie und wolle sie töten, denke ich, sie macht einen Scherz. Doch schnell muss ich feststellen, dass sie es ernst meint. Dass sie tatsächlich daran glaubt. In ihrer Phantasie hat Kurt Cobain sich wegen ihr umgebracht und in allen möglichen Songtexten hört sie ihren Namen. Elvis Presley soll ihre Geschichte aufgeschrieben haben. S. ist 21 Jahre alt. Ich bin geschockt und weiß nicht, wie ich mit der Situation umgehen soll.

Kurz darauf bekomme ich eine neue Zimmernachbarin. Sie nervt mich mit ihrer Nervosität. Permanent bewegt sie den Oberkörper vor und zurück. Vor und zurück. Irgendwann erzählt sie mir, dass sie im Methadon-Programm ist. Sie beginnt mir leidzutun.
 Aber ich merke auch, dass ich aufpassen muss, mich nicht zu sehr auf die Geschichten der anderen einzulassen. Dass ich bei mir bleibe.

Montagmorgen. Visite, seit etwa zwei Wochen bin ich schon hier . Endlich denke ich daran, zu fragen, wie es jetzt weiter geht. Der Reha- Plan, genauer Rehabilitations-, und Behandlungsplan, für die Einzelfallhilfe ist gestellt.
 Die Ärztin schaut mich erstaunt an und sagt mir, dass ich doch schon längst auf der Warteliste für die Tagesklinik stehe. Tagesklinik? Ich verstehe nicht ganz, was sie meint. Davon war bisher nie die Rede. In ein bis zwei Wochen soll ich dahin und niemand hat das mit mir abgesprochen.

Nach der Visite bitte ich die Psychologin um ein Gespräch. Und auch sie ist überrascht, auch mit ihr hatte man nicht darüber gesprochen. Befremdlich, dass sich die Ärzte scheinbar nicht mit ihr absprechen. Das scheint aber nicht ungewöhnlich zu sein in Psychiatrien.

Aber die Psychologin erklärt mir, was eine Tagesklinik ist, dass man täglich von 8 bis 16 Uhr dort ist und verschiedene Therapie- Angebote wahrnehmen kann. Das klingt eigentlich ganz gut. Auch, wenn man es mit mir hätte absprechen müssen, denn ich bin immer noch ein mündiger Mensch.

Ein Alltag zwischen Stimmen

Frau B., eine Mitpatientin, kommt in den Raucherraum. Sie nennt sich selbst “das B.chen”. Schon eine ganze Weile da. Etwas schrullig, aber meistens sehr liebenswürdig. Ich glaube, sie ist Alkoholikerin. Sie ruft jemanden an: „Jahaa, das B.chen hier. Bitte um Verbindung!“
. Kurz nachdem sie reingekommen ist, geht die Tür zum Raucherraum wieder auf. Wir hören eine Stimme.  „Hallo.“ Pause. „Du legst dich jetzt ein bisschen hin.“

22 Uhr. Ich gehe ins Bett und eine Pflegerin kommt ins Zimmer. „Frau G., Sie haben ihre Abendmedikation vergessen.“
 Ich sage ihr, dass sie mich verwechseln muss.
 Wieder klärt mich die Ärztin am nächsten morgen auf. Sie hat mir ein Schlafmittel aufgeschrieben, weil ich oft erst so spät einschlafe. Erneut ohne es mit mir abzusprechen. Wenn ich nicht nachhake, bespricht niemand mit mir, welche Medikamente mir aus welchem Grund auf einmal verschrieben werden.

Normalerweise habe ich keine Probleme mit dem Einschlafen, im Gegenteil. In meiner Depression schlafe ich oft viel zu viel und viel zu lange. Aber in meinem Zimmer hier ist das etwas anderes.  Wir sind inzwischen zu Dritt. Die Eine Mitpatientin in meinem Zimmer schnarcht und manchmal beißt sie im Schlaf in einen Apfel, der immer parat neben ihrem Bett liegt. Die Andere hat Schlafprobleme und geht ständig ein und aus. Die Ärztin schaut befremdet, als ich ihr sage, dass ich kein Schlafmittel nehmen möchte.

Eine neue Patientin geistert herum. Station 20 oben, die komplett Geschlossene, hat keine freien Betten mehr. Das sagt zumindest der Stations-Tratsch. Die Neue trägt lediglich ein Krankenhausnachthemd, ist barfuß. Ich begegne ihr im Raucherzimmer. Sie summt mit hoher Stimme eine Melodie und schaut verzückt ihre Finger an. Sie ist mir unheimlich. Später läuft sie mit einem Teddy im Arm herum. Ihre Augen sind verweint.

Ein Dreiergespräch mit meiner Mutter und der Psychologin. Es geht um mein Alkoholproblem. Die Psychologin erklärt uns, dass es sich bei mir schon um Alkoholismus handelt. Sie schlägt mir vor, eine Alkoholiker- Gruppe zu besuchen und dem Alkohol gänzlich zu entsagen. Ich bin geschockt. Vor allem darüber, dass mich die Vorstellung von einem Leben ohne Alkohol überhaupt so erschreckt. Aber ich versuche, mich mit dem Gedanken anzufreunden. Und verspreche auch, mir eine Gruppe zu suchen.

Ich will mir im Tagesraum einen Kaffee nehmen. Frau B. kommt: „Mach Platz, ich will da ran!“ Sie ist nicht immer liebenswürdig.

Wer ist Patient_in und wer Personal?

Eine Pflegerin sitzt im Raucherraum. Ich sehe sie zum ersten Mal. Sie fängt direkt an, mit mir zu quatschen. Und sie duzt mich. Das restliche Pflegepersonal besteht ausdrücklich auf das „Sie“, auch wenn wir sie mit Vornamen anreden.
 Die Pflegerin erzählt mir, wie sehr sie die Arbeit nervt und dass sie endlich nach Hause will. Sie hätte kein Bock mehr auf diese Patientin, die sie waschen müsse und die dabei steif wie ein Brett sei. Kurz frage ich mich, ob sie nicht doch eine Mitpatientin ist, aber sie hat einen Schlüssel für das Zimmer des Pflegeteams.

Vier Leute sitzen im Raucherraum. Frau B. schwingt wie immer die Füße vor und zurück und schabt so ständig auf dem Boden. Meine neue Zimmernachbarin wiegt ihren Oberkörper hin und her. Ein alter Mann schläft ein und kippt fast vom Stuhl und die Frau vor mir starrt irgendwohin, in eine andere Welt.

19 Uhr, es gibt Abendbrot. Stunden später, 4 Uhr früh, bin ich noch immer wach und der Tabak ist alle. Das ist ein Problem, denn ich kann nicht mal eben raus zum Späti, Tabak kaufen. Ich  darf erst ab 8 Uhr rausgehen. Und das Gelände erst ab 16 Uhr verlassen.

Ich bin schlaflos, obwohl ich mich von der Ärztin habe überreden lassen und zwei Abende Dipiperon, ein Schlafmittel, genommen habe. Statt müde zu werden, bekomme ich an beiden Tagen Kopfschmerzen und fühle mich erschlagen. Ich höre auf, das Mittel zu nehmen und bin gespannt, was die Ärztin dazu sagt.

Ein neuer Tag. Pflegerin K. hat die Abendschicht. Sie kommt in den Tagesraum, wo wir überlegen, welchen Film wir heute schauen. Sie bittet darum, Big Brother einzuschalten. Furchtbare Sendung. Ich fliehe in den Raucherraum. Später gucken wir uns DSDS an und singen die Lieder laut mit. Es wird ein sehr lustiger Abend. Es tut gut, mal wieder richtig zu lachen.

Inzwischen habe ich mich entschieden, mindestens ein Jahr lang keinen Alkohol zu trinken. Das klingt nicht ganz so schlimm wie „nie wieder“. Solange ich hier bin, fällt mir die Vorstellung nicht schwer. Aber als ich gestern mit M. bei mir zu Hause verabredet war und sie mich fragte, ob sie Bier mitbringen solle, da fiel es mir nicht leicht, von meinem Entschluss zu erzählen und nein zu sagen. Aber ich habe es geschafft.

Langeweile in der Psychiatrie

Heute gehe ich mal wieder zur Ergotherapie. Der drogenabhängige N. schmirgelt am Speckstein rum und schiebt anschließend das Pulver zusammen wie bei einer Line. Er lacht laut und freut sich. Keiner beachtet ihn. 
Danach geht’s direkt zur Musiktherapie. Wir hören uns drei Lieder an. Nach jedem Lied müssen wir erzählen, was wir dabei empfunden haben. Es fällt mir schwer, mich auf Kommando, in einem Stuhlkreis, auf einem unbequemen Stuhl sitzend, auf Musik einzulassen. Ich muss in Stimmung dafür sein. Frage mich, warum ich da schon wieder hingegangen bin. Keine Ahnung. Langeweile. Es gibt nicht viele Beschäftigungsmöglichkeiten in der Psychiatrie.

L. ist wieder zurück auf Station. Sie hatte sich vor einer Woche selbst entlassen. Ist dann drei Tage in der Stadt herum geirrt ohne etwas von ihrer Umwelt mitzubekommen. Man sieht ihr diese drei Tage an.

Ich bin inzwischen seit 3,5 Wochen hier. An manche inzwischen entlassene Patienten kann ich mich schon nicht mehr erinnern. Manchmal merke ich erst nach ein paar Tagen, dass jemand nicht mehr da ist. Oder erst dann, wenn er wieder zurückkommt. So wie bei T. Erst als er wieder vor mir stand, fiel mir auf, dass ich ihn über eine Woche nicht gesehen hatte. Er hatte einen Alkohol-Rückfall.

Meine Zimmernachbarin R. ist einen Tag vor mir auf die Station gekommen. Inzwischen mag ich sie gerne. Auch wenn sie manchmal sehr schwierig ist. Sie macht ständig die Leute um sich herum schlecht. Sie hilft anderen, nur um zu zeigen, wie toll sie ist. Sie versucht S. zu erklären, dass Elvis Presley kein Lied über sie gesungen hat.

Aber R. und ich haben oft Spaß zusammen. Man entwickelt hier sehr schnell einen Galgenhumor.

Samstagmittag. Ich habe noch auf Station Mittag gegessen und will jetzt ein paar Stunden bei mir zu Hause verbringen. Am Wochenende ist bis 22 Uhr Ausgang. Die Pflegerin schaut mich an und meint, sie müsse erst mal schauen, ob ich überhaupt raus dürfe. Sie kann mich nicht leiden. Ich sie auch nicht. Die zweite Pflegerin lächelt und betätigt den Türsummer: „Bis heute Abend.“

Alleine zu Hause zu sein fällt mir noch schwer.

Ein paar Tage später komme ich von der Entspannungstherapie zurück. Vor unserer Station steht ein Polizeiauto. Zwei Polizisten und die Ärztin steigen aus. Die Polizisten ziehen einen Mann aus dem Auto. Ein Neuer? Nein. Es ist ein Mitpatient, W., der es zum zweiten Mal geschafft hat zu türmen. Und der beide Male zu Hause aufgegriffen wurde. Hätte ihm eine Flucht gar nicht zugetraut. Er bekommt Haldol, ein Medikament, das ihn so sehr sediert, dass er manchmal fast gegen Wände läuft.

Meine Mutter gibt mir einen Zeitungsartikel. Die Diagnose Borderline – Persönlichkeitsstörung soll es nicht mehr geben. Sie ist zu ungenau. Ich frage mich: Was haben denn dann nun die ganzen Borderliner?

Der Wechsel in die Tagesklinik scheint sich doch noch hinauszuzögern. Es gibt nicht genügend Plätze. Ich hoffe, es dauert nicht allzu lange.

Der ganz normale Wahnsinn

„Das ist ja entzückend!“ „Ich kann nicht Mutter sein, ich bin erst neun!“ „Du gehst mir aufn Sack!“ Meine Mitpatienten rufen diese Sätze quer durch die Station. Heute herrscht hier bei allen eine sehr aufgekratzte Stimmung. Ich weiß nicht, warum. Die Frau, die sagt, sie sei neun, ist etwa 50 Jahre alt. Und T. wiederholt ohne Unterbrechung den Satz „Das ist ja entzückend“ und „Reizend“. Er wirkt gestresst. Gar nicht entzückt.

Die vermeintlich 9jährige Frau wird aggressiv, weil jemand sie nach Kindern gefragt hat. W. sagt, ihm geht das alles „auf den Sack“. 
Ich gehe in mein Zimmer.

Heute war mal wieder Oberarzt-Visite. Ich bekomme jetzt abends auf mein Drängen hin Baldrian. Ich frage mich, warum nicht generell erstmal versucht wird mit natürlichen Mitteln zu helfen, bevor man zu den harten Medikamenten greift?

W. hat schon länger keinen Fluchtversuch mehr unternommen und seine Medikamente werden etwas reduziert. Man kann sich inzwischen ganz gut mit ihm unterhalten und er wirkt nicht mehr ganz so langsam.
 Dafür dringt aber auch seine Schizophrenie immer mehr durch. Er humpelt plötzlich ein wenig und erzählt mir, dass er aus einem Fenster im ersten Stock springen musste, weil ein Schatten ihn verfolgte. Außerdem würde sein Herz nicht mehr schlagen, seitdem er einmal gestorben ist und doch noch eine Chance bekommen hatte. Ich mag ihn.

Nach vier Wochen in der Psychiatrie höre ich auf zu schreiben. Ich habe mich an meine neue Umgebung gewöhnt.
 Sechs Wochen, nachdem ich auf Station 20 angekommen bin, werde ich endlich in die Tagesklinik entlassen.

Was bleibt

Dieser Text ist, in einer Rohform, direkt während des Psychiatrieaufenthalts entstanden. Das Schreiben hat mir geholfen, meine Erlebnisse zu verarbeiten.

Inzwischen ist dieser Psychiatrieaufenthalt sieben Jahre her. Danach war ich noch einige Male in der Tagesklinik und in einer Klinik für Psychosomatik in München. Ich habe insgesamt sechs Jahre lang sechs verschiedene Antidepressiva bekommen. Ein Jahr nach nach der Psychiatrie habe ich mich dann entschieden, es ohne Antidepressivum zu probieren- was mir nach so vielen Jahren zunächst Angst machte. Aber heute geht es mir, ohne Medikamente, mit kleineren Tiefs zwischendurch, gut. Ich weiß nicht, was die Zukunft bringt, aber fürs Erste habe ich die Depression überwunden. Die Zeit in der der Psychiatrie hat mir geholfen. Ich konnte das erste Mal verstehen, dass ich eine Krankheit habe und dass ich nicht “unnormal” bin, dass so eine Krankheit Zeit braucht und dass ich mir diese Zeit nehmen darf.

Dass es mir geholfen hat, liegt meiner Wahrnehmung nach aber nicht an der Psychiatrie selbst, sondern an der Auszeit aus meinem Alltag in der Depression.

Die Entmündigung der Menschen, die fehlenden Absprachen, das Ruhigstellen mit Medikamenten, die wenigen Beschäftigungsmöglichkeiten- das alles hat mich sehr schockiert und wütend gemacht. Ich fühlte mich stigmatisiert, entmündigt und in eine Schublade gesteckt. Um Menschen mit psychischen Erkrankungen wirklich zu helfen, muss meiner Meinung nach das Psychiatriewesen reformiert werden. Und dazu müssen unsere Stimmen gehört werden.

3 Antworten zu “Station 20 unten”

  1. Mona sagt:

    Danke für diesen Artikel. Ich kenne so viele Menschen mit psychischen Erkrankungen, dass ich mich frage, warum man eigentlich so wenig davon hört.

    Um dazu beizutragen, dass zu ändern, habe selbst gerade einen Artikel +ber die Depression meines Mannes geschrieben: https://meinglueck.wordpress.com/2017/07/18/ueber-verzweiflung-sterbende-hoffnung-und-einen-flughafen-den-es-gar-nicht-gibt/

    Was ich an seiner Geschichte so trauig finde, ist, dass es eine Ursache gibt, die man beseitigen könnte. Aber dass die Mehrheit der Bevölkerung das nicht will. Vielleicht, weil sie Depression nicht als richtige Krankheit sehen?

  2. Karl Gutzkow sagt:

    Ich finde es sehr schade, dass du so schlechte Erfahrungen gemacht hast. Ich kenne ähnliche Berichte auch von anderen. Diese Probleme scheinen gerade große Kliniken mit Fokus auf Intervention im Akut- oder Notfall zu betreffen. Dein Beitrag ist wichtig, um auf bestehende Missstände aufmerksam zu machen.

    Ich war im letzten Jahr selbst einige Wochen in einer Psychiatrie und habe meinen Aufenthalt dort zum Glück ganz anders erlebt. Die Verantwortung für meine Therapie habe von Anfang an ich selbst getragen. Meine Ablehnung von Medikamenten wurde ohne große Diskussion akzeptiert. Pflegepersonal und Psychiaterin haben mich ernst genommen. Der Kontakt zu Menschen außerhalb der Klinik wurde gefördert, damit nach dem Aufenthalt nicht der große Schock einsetzt. Diese Faktoren haben meiner Genesung gut getan. Ich schreibe diesen Kommentar, weil die Hemmungen, sich Hilfe zu suchen ohnehin schon groß sind. Die Missstände in der Psychiatrie tragen ihren Teil dazu bei. Die Auswahl einer guten Klinik scheint umso wichtiger. Wer also die Möglichkeit dazu hat, sollte sich auf jeden Fall vorher gut beraten lassen.

  3. Julia Spe sagt:

    Ich glaube solche Einrichtungen richten bei vielen Menschen mehr Schaden als Nutzen an. Die Autorin hat das Glück, dass sie ein normales soziales Umfeld hat (Mutter, Partner, Freundinnen) und genug Intellekt besitzt nicht irgendwelche Medikament zu schlucken. Ohne diese beiden Komponenten kann man schnell in Abwärtsspirale geraten und dann verbringt man den Rest seines Lebens in solchen Einrichtungen.