xychelsea

Foto , © , by Yan Zhu

Dies ist ein Beitrag aus unserer Rubrik kleinergast, in der wir alle Gastartikel veröffentlichen. Dieses Mal kommt er von Yan Zhu. Der Text ist die deutsche Version ihres englischen Posts (den ihr hier nachlesen könnt) und den wir mit ihrer Erlaubnis veröffentlichen. Die Übersetzung kommt von Jan Lehnardt.

Yan mag Informationsfreiheit, Sachen kaputt machen, Kryptografie, theoretische Physik, freie Software, Computersicherheit, Stunt H4cking und ein Internet, das Menschen respektiert.

Blog von Yan @bcrypt

Am Tag des Termins, an dem ich meine Freundin Chelsea zum ersten Mal seit sechs Jahren sehen soll, werde ich um 16.51 Uhr vom schrillen Feueralarm in meinem Hotelzimmer geweckt. Ich springe auf, halb wach und desorientiert, drehe mich wild im Kreis und schnappe alles, was mir wichtig ist — mein Telefon und Reisepass, der kostbare Zettel, der mir erlaubt das Gefängnis Fort Leavenworth zu betreten, der Beutel mit 25-Cent-Stücken, um die Chelsea mich gebeten hat — bereit für eine als Feueralarm getarnte FBI-Razzia. Noch bevor ich meine Schuhe angezogen habe, hört der Alarm auf. Nur langsam kommt die hochgespülte Paranoia in meinem Magen wieder zum Stillstand.

Ich zwinge mich, still zu stehen und für einen Moment zu atmen und meine Umgebung wieder aufzunehmen. Ich stehe im vierten Stock eines einfachen Hotels am Rande von Fort Leavenworth, Kansas. Draußen türmt sich ein blau-grauer Himmel auf, ein weiter Horizont, ganz dicht wie aus einem Gemisch aus Kohle und Sahne beschaffen. Das Land ist flach, grün, fruchtbar, der Mittlere Westen. Von Missouri unterscheidet uns nur ein heißer, feuchter Fluß. Für Leute wie Chelsea und mich, die in Oklahoma und Missouri aufgewachsen sind, bevor wir an scharfkantige Städte am Meer gezogen sind, fühlt sich dieser Ort gleichzeitig nach Heimat und Ersticken an.

So langweilig Kansas auch ist, man muss ihm schon einen gewissen Charme zugestehen. Zum Beispiel: Ein Steakhouse gegenüber vom alten Gefängnis von Fort Leavenworth nennt sich stolz „Das kleine Steakhouse gegenüber vom großen Haus“, ohne sich der dunklen Ironie bewusst zu sein. Das Gefängnispersonal ist außerordentlich freundlich und hilfsbereit, auch wenn es mich dafür rügt, keinen Führerschein zu besitzen, auch wenn die Person an der Rezeption Chelsea während eines fünf-minütigen Telefonats ein Dutzend mal fälschlicherweise mit “er” bezeichnet. “Hab’ noch einen schönen Tag, Liebes”, sagen sie mit warmer ausgedehnter Stimme, als ich mich durch die nächste Stufe der Militärbürorkratie navigiere, um Chelsea tatsächlich irgendwann zu treffen.

Für die Neugierigen, das hier ist ungefähr der Prozess, den ich befolgen musste, um Zugang zu den Fort Leavenworth Disciplinary Barracks zu bekommen:

Dezember 2015: Chelsea fügt mich zu ihrer Liste von Telefonkontakten hinzu und begint den Bewerbungsprozess für meinen Besuch, wo sie beweisen muss, dass wir uns schon vor ihrer Gefangenschaft kannten.

März/April 2016: Ich erhalte einen Genehmigungsbrief für meinen Besuch, aber vorher muss erst noch eine Hintergrundprüfung erfolgen. Während der nächsten ein oder zwei Wochen versuche ich bei mindestens fünf verschiedenen Stellen in Fort Leavenworth herauszufinden, wie man den Hintergrundcheck hinter sich bringen kann, bevor man nach Kansas fliegt. Niemand wusste wirklich Bescheid, also gebe ich auf und buche einfach einen Flug.

Mai 2016: Nach telefonischer Bestätigung, dass ich auf der Besuchsliste von Fort Leavenworth stehe, fliege ich nach Kansas. Meine Mitreisenden und ich registrieren unser Auto im Visitor Control Center und wir bekommen Zugangspässe zum Fort. Eine_r von uns wird wegen eines nichtamerikanischen Reisepasses zurückgewiesen. Wir anderen beiden bekommen unsere Zugangspässe sofort und ohne Hintergrundprüfungen. Danach dürfen wir beide auf die Armeebasis.

Wenn alles gut geht, bin ich Chelseas erste Besucherin seit ihrer Schwester im November.

Um 18.20 Uhr am 24. Mai fahren wir zum ersten Mal nach Fort Leavenworth. Mich überraschen die Weiden und die üppigen, baumbestandenden Bürgersteige und pastellfarbenen Vorstadthäuser. Man erwartet hier kein Militärgefängnis. Ich winke ein paar Jogger_innen.

Um 18.50 Uhr finden wir endlich die United States Discipline Barracks, in denen sich Chelseas Gefängniszelle befindet. Ich gehe hinein und folge den Schildern zum Besuchsraum. An der Wand hängen Regeln, die ich mehrfach durchlese (keine knappe Kleidung, keine kurzen Hosen oder Röcke, maximal fünf Seiten Papier, Bleistifte und Kugelschreiber sind erlaubt, 25-Cent-Stücke und anderes Bargeld sind in einem Klarsichtbeutel erlaubt, keine WLAN-Geräte, keine Jacken, keine Kameras). Der Wärter ist freundlich und Unterhält sich mit mir oberflächlich aber nett, wie alle Bediensteten mit denen ich bisher in Fort Leavenworth zu tun hatte. Wie seltsam es ist darüber nachzudenken, dass alle diese freundlichen Leute, mit ihrem sirupdicken mittelwestlichen Akzent, dieselben Leute sind, die Chelsea über die nächsten dreißig Jahre gewaltsam von der Außenwelt abschotten werden.

Ich zwinge mich zu einem leichten Lächeln und erkläre den Grund für meinen Besuch in einem schlecht gekünstelten Missouri-Akzent. Der Wärter findet mich auf der Besuchsliste, aber mag mein ärmelloses Shirt nicht. Anscheinend sind ärmellose Shirts nicht erlaubt, auch wenn das nirgendwo in den Regeln steht. Scheiße. Er fragt einen anderen Beamten

Glücklicherwiese wird mir der Zutritt erlaubt (aber ein langärmliges Shirt muss ich nächstes Mal trotzdem tragen). Sie führen mich durch einen Metalldetektor, inspizieren meine fünf Seiten Papier und meinen Beutel mit sechs Bleistiften, einem Kuli und zehn US-Dollar in 25-Cent-Stücken. Erleichterung überkommt mich, wird aber sogleich von Nervosität weggespült, als ich den Raum betrete, in dem Chelsea – meine Freundin, die ich seit sechs Jahren nicht mehr gesehen habe, von der ich dachte, dass ich sie nach ihrer Verhaftung nie wieder sehen würde – eigentlich warten sollte.

Sie ist nicht da. Stattdessen stehen hier nur ein paar graue Tische und Stühle rum, von denen deprimierend wenige mit Inhaftierten und ihren traurig schauenden Besuchenden besetzt sind.

Und dann geht die Tür auf und sie tritt herein.

Wir rennen aufeinander zu.

Wir umarmen uns und meine Augen füllen sich mit Tränen.

Wenn etwas, von dem du dich selbst überzeugt hast, dass es nie passieren wird, dann doch endlich passiert, kommt dieser Moment an dem dein Gehirn in Panik gerät und krampfhaft jedes Detail aufnimmt, aus Angst, dass alles nur eine Illusion sein könnte, die sich bald in Luft auflöst. Als ich sie so anschaue, als ob ich sie nie wieder sehen würde, wird mir mit einem Kloß im Hals bewusst, dass diese Welt wohl nie ein Foto der 28-jährigen Chelsea Manning sehen wird. Das machte mich traurig, denn keines der Fotos im Internet sieht ihr ähnlich. Sie sah aus wie eine Heldin, aufgeweckter und stärker als in allen meinen Erinnerungen, von ihr ging ein Leuchten aus, das nicht zu erklären war.

Sie trug eine braune Gefängnisuniform, zu groß für ihre kleine Statur, und grinste über das ganze Gesicht. Ihre Haare sind ordentlich zu einem Kurzhaarschnitt gekämmt, nicht länger als die 5 cm, die das Gefängnis erlaubt. Trotz allem sah sie noch jünger aus, als ich sie in Erinnerung hatte, mit glühenden Wangen und großen, blauen Augen, die von eleganten Wangenknochen eingerahmt waren. Wir lächelten uns einige Sekunden breit an, während wir ungläubig und voller Freude inne hielten.

„Magst du dich hinsetzen“, sage ich. Wir suchen uns einen Tisch und lächeln uns weiter an, und dann frage ich sie, ob sie irgendwas aus den Automaten möchte. „Gerne, dann ich nehme was, was ich sonst nicht bekommen kann“, sagt sie und wählt eine Mountain Dew Limo aus. Ich bezahle mit sechs 25-Cent-Stücken aus meinem Beutel. Ich versuche ihr auch noch Sour-Cream-Chips zu kaufen, aber der Automat ist kaputt, was mich ungewohnt wütend macht. Ich nehme mir vor die Gefängnisbediensteten zu bitten den Automaten zu reparieren.

Wir setzen uns wieder hin und reden für fast zwei Stunden ohne Unterbrechung. Wir reden über das Leben im Gefängnis, wo sie 40 Stunden pro Woche in einer Schreinerei arbeitet und irgendwie noch Zeit dafür findet Fernuniversitätskurse zu belegen, Fachzeitschriften zu lesen, eine Kolumne für den Guardian zu schreiben, und mit ihren Anwält_innen an ihrer Berufung zu arbeiten. Wir reden über ihr wachsendes Interesse an Post-Quantum-Kryptografie und die Büchersammlung, die sich in ihrer Zelle auftürmt. Wir reden über das letzte Mal, dass wir uns trafen und was unsere gemeinsamen Freund_innen heute so machen. Wir sprechen über unsere schwierigen Verhältnisse zur Familie. Wir reden über meine Schuhe (die sie sehr mag) und über Musik, die sie früher als DJ auflegte. Wir reden darüber, wo sie wohnen würde, wenn sie nicht im Gefängnis wäre. Wir sprechen darüber wie sie ihre Motivation findet, jeden Tag weiterzumachen, auch wenn ihr Leben an manchen Tagen ungerecht und hoffnungslos erscheint. Mehrmals erstarre ich in sprachloser Erfurcht, vor ihrer Neugiert und Ausdauer, mit der sie dieser extrem verkorksten und deprimierenden Situation entgegensteht .

Ich erwähne das Berufungsvorhaben, um ihr Urteil von 35 auf 10 Jahre zu verkürzen und sie ist besorgt, dass es nicht genug Berichterstattung in der Presse gegeben hat. Sie hofft, dass die Welt sie nicht vergessen hat.

Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich fühle mich, wie viele Andere auch, schuldig, dass wir nicht mehr Aufmerksamkeit für den Fall erzeugt haben. Vielleicht hätte ich mehr darüber reden sollen, dass ihr Urteil total überzogen ist, oder ich hätte über die Wichtigkeit ihrer Gerichtsverhandlung als Präzedenzfall für Whistleblower_innen schreiben können, damit sie jetzt an einem besseren Ort wäre. Stattdessen bleibt mir nur übrig mich mit ihr zu treffen und zu reden und Limo in einem grauen, sterilen Raum zu trinken, während am Nachbartisch ein Kleinkind schreit und weint.

Bevor ich es merke, ist es 21.25 Uhr und der Wärter ruft uns zu, dass die Besuchszeit um ist. Chelsea, die sich selbst als extrovertiert einordnet, scheint traurig, dass ich gehen muss, auch wenn ich in 22 Stunden für meinen zweiten und letzten Besuchstag zurückkommen werde. Wir verabschieden uns mit einer Umarmung und halten uns diesmal etwas länger fest.

Draußen sehe ich wie die Familien der Insass_innen in ihre Autos steigen und nach Hause fahren. Manche wohnen in der Nähe, damit sie ihre Angehörigen jeden Tag besuchen können. Ich bin verwundert darüber wie seltsam es ist, dass Chelsea, eine Heldin von Tausenden, wenn nicht Millionen von Leuten ist, aber es niemanden gibt, der_die sie täglich besucht. Wenn sie Glück hat, besucht sie dieses Jahr noch ein_e andere_r Freund_in.

Ich will nicht, dass wir sie irgendwann vergessen.

Update vom 26.05.2016: Hier noch die obligatorische Erinnerung, dass ihr Chelsea mit Spenden an ihren Verteidigungsfond helfen könnt. Oder schreibt ihr einen Brief (sie liest jeden einzelnen) und folgt ihren Twitter– und Medium-Accounts. Außerdem hat diese Seite eine gute Anleitung, wie Chelsea geholfen werden kann.

Eine Antwort zu “xychelsea”

  1. […] es waren). Für die fantastischen Kolumnen, für die großartigen Gastbeiträge und einfach die Vielfalt an Stimmen, die sich bei kleinerdrei […]