Verliebt, verfolgt, entmenschlicht

Foto , CC BY-NC-ND 2.0 , by Marco Fieber

Dies ist ein Beitrag aus unserer Rubrik kleinergast, in der wir alle Gastartikel veröffentlichen.
Dieses Mal kommt er von Igor.

Igor ist Berliner in London. Nach Lebensabschnitten in Düsseldorf, Budapest und Sofia macht er nun einen Doppel-Master in „Politics & Security“ am University College London und der Universität Tartu. Seit 2011 ist er als freier Autor tätig und setzt sich außerdem u.a. für LGBT-Rechte ein.

@b_igmitch

Content Warning: Dieser Text enthält Darstellungen homofeindlicher Gewalt und Sprache.

Ich saß stumm am Telefon und wusste nicht, was ich sagen sollte. Es hatte mir die Sprache verschlagen. „Ok, ich ruf‘ sie an“, versprach ich nach längerem Schweigen und legte auf. Ich war verwirrt: Ein Bekannter hatte mich in London angerufen und gefragt, ob ich nicht einem russischen Paar irgendwie helfen könne, das aufgrund ihrer Homosexualität aus Russland fliehen musste. Der eine sei ein Ex-Priester der Russisch-Orthodoxen Kirche. Das war im November 2015. Ich rief sie an.

Wenige Tage darauf sitzen die beiden bei mir in der Küche und erzählen. Artjom Wiecielkowski holt tief Luft, bevor er zu reden beginnt. „Endlich atmen wir Freiheit“, sagt er, während er das Geschirr in meiner Küche wäscht. Eine Woche schliefen sie bei uns in der Wohnung. Danach konnte ich sie bei einem Londoner Kommilitonen unterbringen. „Warum Freiheit?“, frage ich sie in der Küche. „Stell dir vor, ein Stiefelabsatz würde dich permanent zu Boden drücken, sodass du kaum Luft kriegst.“ Er setzt sich hin, hält inne und setzt neu an: „Von diesem Gefühl fühlen wir uns hier das erste Mal befreit.“

Vom angesehenen Lehrer zum Opfer staatlicher Willkür

Mit „wir“ meint Artjom seinen Lebenspartner und sich. Der 35-Jährige Artjom ist homosexuell und war bis vor kurzem noch Priester der Russisch-Orthodoxen Kirche. „Das war nie ein Problem!“, versichert er mir selbstbewusst. „Alle in der Kirche wussten, dass ich schwul bin.“ Er nahm an: Solange er damit nicht an die Öffentlichkeit gehe, sei das schon in Ordnung. Bis er mit einem Mal vom angesehenen Theologie-Lehrer zum Opfer staatlicher Willkür wurde. Mehrfach zusammengeschlagen und gedemütigt mussten er und sein Partner nach London fliehen.

2003. In diesem Jahr ist Artjom 23 Jahre alt und beschließt in die Russisch-Orthodoxe Kirche einzutreten. Noch bis Juni 2015 blieb er der Kirche verpflichtet und lehrte im theologischen Seminar der Diözese Samara. Im Frühjahr dieses Jahres gab er dann seinen Austritt aus der Kirche bekannt. In der russischen Wolgastadt Samara lehrte Artjom seine Schüler das Neue Testament und die Sprachen Althebräisch und Altgriechisch. Die Zeit in der Kirche bezeichnet er rückwirkend als eine „Wahnsinnsphase“ – und meint das in mehrfacher Hinsicht.

Verliebt in den Glauben

„Wahnsinnig“ war die Zeit, weil er die Entscheidung beizutreten, inzwischen als verrückt ansehe. Nicht wegen seiner Homosexualität, nein, die war ihm immer schon bewusst. Sondern weil ihm die Idee, sich einer religiösen Ordnung zu unterwerfen, heute absurd erscheint. Damals sah er das natürlich anders – aber das möchte er auch gar nicht rational verteidigen. „Man kann sich in einen Glauben wie in einen Menschen verlieben“, erklärt er.

Und ein verliebter Mensch, so sagt er, neige zur Idealisierung. Auch dazu, über die Mängel des oder der Angebeteten hinweg zu sehen. Trotz der offenen und allseits bekannten Schwulenfeindlichkeit der Kirche, habe Artjom einen religiösen Konflikt in seiner Mitgliedschaft nie gesehen. „Wenn man alles in der Bibel bis heute wörtlich nehmen würde, hätten auch die westlichen Gesellschaften noch deutlich mehr Probleme“, sagt er stattdessen lächelnd.

Artjom hoffte, die Kirche von innen verändern zu können. Nur beweisen müsste er sich dort, dachte er, und zeigen, dass auch ein homosexueller Mann ein guter und überzeugter Christ sein könne. Er hat bis heute das Gefühl, dass er das bei einigen seiner Schüler auch nachhaltig bewirken konnte. Diejenigen, denen er ein anderes Bild von Homosexualität vermitteln konnte, hätten nun die Möglichkeit Ihre Aufgeschlossenheit an die nächste Generation weiterzugeben – und zwar als Priester. So hoffte es Artjom zumindest.

Roman traf er in der Kirche

Den Abwasch hat er erledigt und setzt sich mit einem Minztee an den Küchentisch meiner Wohngemeinschaft. Man merkt ihm den Stress der letzten Wochen deutlich an. Seine Sätze werden ab und an von einem Husten unterbrochen – was seinem Redefluss aber kaum Abbruch tut. Ich kann mir leicht vorstellen, wie er Menschen bei seinen Predigten in den Bann gezogen hat. Er gestikuliert energisch beim Sprechen und benutzt so viele sprachliche Bilder, als würde er ununterbrochen aus einem Roman vorlesen.

Auf einmal redet er von seinem Freund Roman. Wenn er von seinem 27-jährigen Lebenspartner erzählt, gerät er ins Schwärmen. Roman kommt in die Küche rein, lächelt verlegen und sagt Artjom, dass er spazieren gehe. „Wir sind sehr unterschiedlich“, sagt Artjom in dem Moment als Roman das Haus verlässt. „Roman muss ständig in Bewegung bleiben und ich könnte meinen ganzen Tag nur mit Büchern verbringen.“ Die beiden haben sich in der Russisch-Orthodoxen Kirche kennengelernt und sind inzwischen seit mehr als drei Jahren zusammen. Roman ist im Gegensatz zu Artjom immer noch gläubig. Sie lebten zusammen in Russland, wurden als Paar bedroht und flohen zusammen.

Russisches Feindbild: Homosexualität

Diese Angst, die sie nun nach London getrieben hat, hätte sich Artjom all die Jahre in der Kirche niemals vorstellen können. „Vielleicht war es Naivität oder Verblendung“, sagt er. Denn die Positionen der Russisch-Orthodoxen Kirche zur Homosexualität sind bekannt. Regelmäßig betont der nationalkonservative Patriarch Kyrill – seit 2009 Oberhaupt der Kirche – wie gefährlich Homosexualität für die russische Gesellschaft sei.

2013 erklärte Kyrill sogar öffentlich, dass die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe die „Apokalypse“ einleite. Erst im Januar 2016 verkündete das Oberhaupt in einem Interview mit dem russischen Staatssender Rossija 1, dass Gay-Pride-Paraden Terrorismus provozieren würden. Mit seiner Einstellung zu LGBT-Rechten liegt der Patriarch nicht nur im gesellschaftlichen Mainstream des Landes – sondern auch politisch auf einer Linie mit der autoritären Regierung Russlands: Im gleichen Jahr unterzeichnete der russische Präsident Wladimir Putin das berüchtigte Gesetz gegen sogenannte „Gay Propaganda“.

„Der Staat entmenschlicht dich“

Was genau „Gay Propaganda“ sein soll, ist Artjom bis heute ein Rätsel. „Angenommen, Homosexualität sei nicht angeboren und ich könnte jemanden davon überzeugen, schwul zu werden“, sagt er. „Wie sollte ich das tun? In dem ich Menschen in meinem Keller festhalte und ihnen Madonna vorspiele?“ Er lacht kurz; dann weicht ihm das Lachen aus dem Gesicht. Als er fortfährt, schwingt in seiner Stimme reale Verzweiflung mit: „Und welche Argumente könnten jemanden dazu verleiten, in diesem Land schwul zu werden? Dass jeder Dich in Russland hassen wird? Dass der Staat Dich entmenschlicht?“

Mit dem Gesetz habe die Regierung ein Mittel gefunden, erklärt Artjom, alle nationalen und internationalen Probleme des Landes auf die Europäische Union (EU) zu schieben. „Gayropa“, wie die EU immer häufiger in Russland genannt wird, würde den Russen die „Homo-Ehe“ aufzwängen, betone Putin immer wieder. In diesem gesellschaftlichen Klima Homosexualität als etwas völlig Normales zu diskutieren, sei daher kaum möglich.

In Russland schere sich niemand um sie, schrie man das Paar an

Um dem etwas entgegenzusetzen, wollte Artjom wenigstens mit seinen Schülern darüber reden: Und hielt in Samara ein Seminar zum Verhältnis der Kirche zum „Gay Propaganda“-Gesetz ab. Das wurde Artjom und Roman zum Verhängnis. Nachdem ein russischer Journalist Artjom gegen seinen Willen outete, bekamen er und sein Partner eine Vorladung zur Polizei. Die Anklage: Auf dem besagten Seminar hätten sie pornografisches Material verbreitet.

Die vermeintlichen „Materialien“ sollten sie allerdings gar nicht zu Gesicht bekommen. Sie nahmen sich sofort einen Anwalt und reichten bei der russischen Staatsanwaltschaft – und kurz darauf auch beim obersten Gericht – Beschwerde ein. Wenige Tage später wurde ihr Haus von der Polizei durchsucht, ohne dass es eine rechtliche Grundlage dafür gegeben hätte, sagt Artjom. Während Beamte in ziviler Kleidung ihre Wohnung durchkämmten, schlugen und beleidigten die Männer das Paar. Mit welchem Recht sich die „Schwuchteln“ denn beschweren würden, schrie man sie an. Und dass sich niemand in diesem Land um sie schere.

Ihre Verletzungen ließen Artjom und Roman am nächsten Tag von ihrem Hausarzt dokumentieren. Einige Tage später – es war bereits November 2015 – klingelte es erneut an ihrer Tür. Die Männer von der Hausdurchsuchung waren zurück und wollten Artjom und seinen Partner mitnehmen. Die offizielle Vorladung sei auf dem Revier; gezeigt wurde ihnen bei ihrer Abholung nichts.

Sie wollten nur noch weg aus Russland

Auf dem Revier warfen die Männer Roman in eine Zelle und führten Artjom in ein Untersuchungszimmer, um ein Geständnis zu erpressen. Als er sich daran erinnert, weicht seine blumige, literarische Ausdrucksweise einer zittrigen Stimme. „Wenn wir euch jetzt umbringen, kratzt das hier keinen“, zitiert er einen der Männer flüsternd. Darauf folgten Schläge auf den Kopf und Drohungen sie von einem Balkon zu stürzen. „Die eigene Folter zu ertragen, ist eine Sache“, sagt Artjom. „Aber die eines Menschen, den du liebst, ist noch viel schlimmer.“ Die Folter ging so lange, bis beide das Geständnis unterschrieben, pornografisches Material verbreitet zu haben.

Nach dieser Erfahrung war für Artjom und Roman klar: Sie wollten nur noch weg. Weil sie dieses Jahr ohnehin einen Urlaub in Großbritannien geplant hatten, war ihr Touristen-Visum noch gültig. Sie kauften sich ein Flugticket nach London und warteten ab. Würde man sie rauslassen? Sie kannten in London nichts und niemanden. „Doch selbst wenn wir in London auf der Straße leben müssten, wäre uns das lieber als in Russland zu sein“, sagt Artjom.

Für die Reise packten sie nur das Nötigste ein; erzählten Freundinnen und Freunden sowie ihren Familien erst in letzter Minute von der Flucht. Der eigenen Mutter erzählte Artjom zunächst sogar, dass er für einen Job für längere Zeit nach China gehen müsse. Er wollte sie nicht mitreinziehen in diese Angelegenheit. Erst als sie in London gelandet waren, schrieb er ihr, dass sie geflohen sind.

Cut. Pause. Das ist nun drei Monate her. Ich treffe Artjom im Februar 2016 an der Londoner Haltestelle „Thornton Heath“, knapp 40 Minuten Bahnfahrt von der zentralen Haltestelle „London Bridge“ entfernt. Nicht weit vom Treffpunkt hat die Regierung ein Hostel in eine Art Auffanglager für Geflüchtete umfunktioniert. Artjom und Roman sind hier mit zahlreichen anderen Menschen untergebracht. Nach dem ersten Aufenthalt in diesem Ex-Hostel werden die Menschen auf zahlreiche Gemeinden im Land verteilt.

Die eigene Mutter wirft ihm Landesverrat vor

Nach einem ersten Gespräch im Innenministerium wurde das Paar nun offiziell als „Asylum Seekers“ in Großbritannien registriert. Wir gehen spazieren; Artjom erzählt mir von seinem Alltag hier. Der besteht fast nur aus Lesen und Filme gucken: „Wir können in London zurzeit nichts machen, weder Arbeiten, noch uns für Sprach- oder Unikurse einschreiben“, sagt Artjom während wir gehen.

Das Gespräch fällt auf seine Mutter. Er musste sie vor kurzem bei Facebook blockieren – also die Einstellungen so anpassen, dass sie seine Beiträge nicht mehr sehen könne. „Sie hält mich und Roman für Russland-Verräter, weil wir das Land verlassen haben“, sagt Artjom und seufzt schwer. „Nun würden doch alle schlecht über Russland denken!“, habe die 60-Jährige ihm seit seiner Flucht immer wieder vorgeworfen. Dieses Verhältnis war mal anders. Nach seinem Coming Out hatten sie sich zunächst so gut verstanden, dass sie sogar über die Attraktivität von Männern gesprochen hätten. „Wir waren wie gute Freundinnen“, sagt Artjom und lacht dabei laut.

Seine politische Position habe sich seit dem nicht gewandelt – ihre hingegen schon. Und mit ihrer politischen Radikalisierung habe sich auch ihre Meinung zu Homosexualität geändert. Nun sagt sie ihm, in Anlehnung an das russische „Gay-Propaganda“-Gesetz: „Du bist schwul und das kann man ja nicht ändern. Aber man muss es doch nicht rumposaunen oder propagieren!“ Artjom fasst sich enttäuscht an den Kopf, während er erzählt. Der Gedanke, eine Sexualität propagieren zu können, wirkt für ihn nach wie vor absurd. „Sie ist meine Mutter, ich liebe sie und will sie nicht bloßstellen.“ Deswegen sei blockieren vielleicht das Vernünftigste gewesen. Mit seinem Vater dagegen wurde das Verhältnis besser. „Seine Unterstützung bedeutet mir sehr viel“, sagt Artjom.

„Was will man mehr?“

Die Gegend, in der sie wohnen, wirkt wie ein traditionelles britisches Arbeiterviertel. Viele One-Pound-Geschäfte reihen sich dicht an Fast Food Shops, die überwiegend frittiertes Hähnchenfleisch anbieten. Menschen in Arbeitskluft gehen in Gruppen zum Lunch in die Imbissrestaurants. Artjom erzählt, dass das Paar zurzeit auf ihre Umsiedlung nach West-Drayton warte, einen kleinen Londoner Vorort. Ein Datum hätten sie dafür aber noch nicht gesagt bekommen. Genauso wenig wüssten sie, wann sie zum „Hauptinterview“ vorgeladen würden, wo sie ihre Situation und Flucht nochmal detailliert schildern müssten. „Wir sitzen hier quasi nur auf unseren Koffern.“

Wir gehen die Straße lang und er zeigt mir das Gebäude, wo sie untergebracht sind. Der Eingang ist unauffällig, man könnte daran leicht vorbeigehen. Einige Männer – Artjom zufolge vermutlich Albaner – stehen vor dem Gebäude und rauchen. Sie verfolgen mit ihren Blicken das lebendige Treiben auf der Straße. Man ist freundlich zueinander, aber viel Kontakt gebe es unter den Geflüchteten nicht, sagt Artjom. Ich folge ihm in das Zimmer des Paares. Die Einrichtung ist spartanisch: Es stehen zwei Betten und ein Schrank im kleinen, vielleicht zehn Quadratmeter großen Raum. Mehr Möbel passt auch gar nicht rein. Von ihrem Fenster aus sieht man nichts anderes als sich endlos aneinander reihende Backstein-Wohnhäuser. Typisch für Großbritannien.

Artjom setzt sich auf sein 90 Zentimeter breites Bett. Seine Augen leuchten warm. Er wirkt unheimlich zufrieden. „Wir werden hier mit Essen und Medikamenten versorgt und können in Ruhe schlafen. Was will man mehr?“, fragt er rhetorisch. Sobald sie umziehen, wird ihnen die Miete bezahlt werden. Für Ernährung und weitere Unkosten werden ihnen dann pro Kopf wöchentlich 35 Pfund zur Verfügung stehen. Das sind umgerechnet etwa 46 Euro. Damit könnte man sich auch in meiner Heimatstadt Berlin keine großen Sprünge erlauben. In London zu leben, ist allerdings um ein Vielfaches teurer. „Ich kann mich nicht beschweren“, ist Artjom dennoch überzeugt. „Mehr zu wollen, wäre doch gierig!“, sagt er. Ich stehe stumm vor ihm und weiß wieder nicht, was ich sagen soll.

Eine Antwort zu “Verliebt, verfolgt, entmenschlicht”

  1. […] dank der absurden Gesetzgebung gegen “homosexuelle Propaganda” gesellschaftliche Verachtung, politische Verfolgung sowie Gewalt ohne rechtliche Konsequenzen fürchten müssen. Wie sie ihre Flucht vor den Früchten ihrer eigenen […]