„Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ – meine Spurensuche

Foto , CC by 2.0 , by Gerrit Jöskowiak

Als Teenager las Maike das Buch über Christiane Felscherinow. Trotzdem denkt sie auch dreißig Jahre später fast jeden Tag daran.

Vor zwei Wochen traf ich mich mit ein paar Freundinnen. Schnell landeten wir in der Vergangenheit und sprachen darüber, wie wir aufwuchsen. Ich wurde 1970 in Südwestdeutschland geboren und habe meine Kindheit und Teenagerzeit in einer „bedrohlichen“ Welt zugebracht: Kalter Krieg, RAF, Nuklearwaffen, Tschernobyl, ein Atomkraftwerk, das direkt vor der Haustüre gebaut werden sollte, saurer Regen, Waldsterben, Triebtäter, Drogen. Die Angst vor den zuletzt genannten Gefahren schürte vor allem mein Vater, der bei der Kriminalpolizei für Verbrechens-Prävention zuständig war. So besaß ich schon im Alter von neun Jahren illustrierte Informationsbroschüren, die mich vor sexuellen Übergriffen warnten, und ich hatte allerlei Anti-Rauschgift-Aufkleber und -Flyer in meinem Kinderzimmer rumliegen.

1978 erschien das Buch Wir Kinder vom Bahnhof Zoo, in dem zwei Stern-Reporter die Drogen-Absturz-Geschichte des Mädchens Christiane erzählten, mit dem sie zuvor wochenlang Interviews geführt hatten. Das Buch wurde wider Erwarten sehr erfolgreich. Ich war damals allerdings noch zu jung, um die Veröffentlichung mitzubekommen. Ich erinnere mich jedoch, dass das Buch später bei meiner Tante im Regal stand, aber nichts für mich, sondern ein „Erwachsenenbuch“ war.

Meinen ersten Blick warf ich mit 13 hinein. Eine französische Austauschschülerin war zwei Wochen bei uns zu Gast. Sie hatte bereits einen Busen, war zwei Köpfe größer als ich, verstand sich super mit meinen Eltern und deren Freunden – und hatte Moi, Christiane F., 13 ans, droguée, prostituée… dabei. Mein Französisch genügte, um den aussagekräftigen Titel zu verstehen, zum Lesen der Geschichte reichte es jedoch lange nicht.

In der Mitte des Buches befanden sich aber eine Menge Bilder. Hauptsächlich Fotos von Menschen aus Christianes Umfeld, sowie eine Doppelseite mit deprimierenden Zeichnungen, die ‚Babsi‘ angefertigt hatte. Von ihr wusste man, dass sie mittlerweile nicht mehr lebte. Als Teenager konnte ich mich stundenlang in Bildern verlieren und dabei Musik hören. Auf diese Weise versank ich dann auch in jener sonderbaren, dreckigen, gefährlichen, schaurigen Welt, in der diese Kinder vom Bahnhof Zoo offenbar lebten. Ich wollte mehr über sie erfahren.

Ich lieh mir mit Erlaubnis meiner Eltern das Buch von meiner Tante und verschlang es innerhalb weniger Stunden. Nichts von dem, was ich da las, hatte etwas mit meiner Lebenswelt zu tun. Christiane wuchs in Gropiusstadt auf – ich hingegen kannte Hochhaussiedlungen nur vom Vorbeifahren. Ich war ein wohlbehütetes, meist trauriges Mittelschichtskind mit ein paar Problemen und hatte zu jenem Zeitpunkt sogar noch ungetrennte Eltern. Ich konnte mir nicht einmal vorstellen, mich maßlos zu betrinken, geschweige denn, Heroin zu konsumieren. Anschaffen zu gehen, sprengte den Rahmen meiner Phantasie, ich wusste nicht einmal, wie es sich anfühlte zu küssen. Es war, als hätte ich ein Schauermärchen einer (Anti)-Heldin in meinem Alter gelesen – mit dem faszinierenden Unterschied, dass das Erzählte nicht erfunden war und den Protagonist_innen etwas gelang, das mir verwehrt war: dem Alltag zu entfliehen und etwas völlig Anderes zu erleben. Ich fühlte mich abgestoßen und vor allem hingezogen zugleich, ich las das Buch immer und immer wieder.

Berlin

Als der Film zum Buch auf VHS erschien, guckte ich ihn gemeinsam mit Freundinnen unter deren elterlicher Aufsicht an. Er hat mein Bild von West-Berlin geprägt, das ich heute noch nicht abschütteln kann. Ich wohne im Osten der Stadt, doch seit über einem Jahr arbeite ich im Westen. Ich halte mit der S-Bahn jeden Tag am Bahnhof Zoo, und wenn ich während der Fahrt nach draußen blicke, sehe ich die Gedächtniskirche und das in der Zeit stehengebliebene Europa-Center mit dem sich drehenden Mercedes-Stern auf dem Dach. Den Ku’damm überquere ich jeden Tag zu Fuß und gehe manches Mal dort einkaufen, weil er eben in der Nähe ist. Oft nehme ich am Bahnhof Zoo die S-Bahn zurück in den Osten und vorm Eingang stehen immer ein paar Junkies.

Seit ich im Westen arbeite, muss ich jeden Tag kurz an das Buch und an die Geschichte von Christiane Felscherinow denken.

Darüber hinaus gibt es noch eine weitere Lebenssituation, die mich heimsucht, seit ich Wir Kinder vom Bahnhof Zoo zum ersten Mal las: Im Buch wird beschrieben, dass die Mädchen auf einer Kaufhaustoilette Kundinnen bestehlen wollen. Omis hängen meist ihre Handtaschen von innen an die Klinke. Wenn die Mädchen dann konzertiert von außen alle Klinken drücken, fallen die Taschen herunter und können unter den Türen hervor gezogen werden. Ich denke seit rund drei Jahrzehnten IMMER daran, wenn ich mich auf einer öffentlichen Toilette befinde, wo es keinen Haken an der Seitenwand gibt und ich deshalb meine Tasche an der Türklinke aufhängen muss.

Higher State of Consciousness

Ich habe das Buch nach meiner jungen Teenagerzeit noch zwei Mal gelesen. Dies hing mit meinem eigenen Drogenkonsum zusammen, der den Blick auf das Erzählte veränderte, es begreifbarer machte. In den achtziger Jahren war es das Kiffen, in den neunziger Jahren waren es die Partydrogen. Obwohl meine Faszination für das Erzählte bestehen blieb, verstand ich mittlerweile, was es mit jener Welt tatsächlich auf sich hatte und wie wenig ich damit zu tun haben wollte, um in „Sicherheit“ zu bleiben. Ich hatte seinerzeit ein paarmal kurz mit Leuten gesprochen, die sich nach Parties mit Heroin runter rauchten. So etwas war nie eine Option für mich gewesen, und ich nahm damals bereits Abstand von Menschen mit einem weitaus harmloseren Drogenverhalten. Auch, um mir selbst das Gefühl zu geben, alles im Griff zu haben – mein Eskapismus fand schließlich nur an den Wochenenden statt. Und er war er lauter, bunter, schneller als der in den Siebziger Jahren. Er bekam sogar einen eigenen Umzug mitten durch Berlin.

Das letzte Mal las ich Wir Kinder vom Bahnhof Zoo erst neulich. Als ich mich vor zwei Wochen mit den Freundinnen getroffen habe und wir über das bedrohliche Lebensgefühl sowie die sonderbare Drogenaufklärungspolitik der achtziger Jahre sprachen, fiel irgendwann der Satz „Ich hab‘ das Buch hier! Moment, ich hol’s mal!“ Es kam mir viel zu dünn vor. War es wirklich nur so dünn gewesen? Noch bevor die Freundin es aufschlug, beschrieb ich ihr eines der Fotos aus der Mitte des Buches.
„Darf ich es mir mal ausleihen?“ fragte ich später, und legte es zu Hause andächtig auf den Nachttisch.

Beim Lesen wurde mir klar, dass ich endlich damit durch bin, nichts fasziniert mich mehr daran. Heute trinke ich Whiskey Sour oder träume mich nach Japan und lerne Vokabeln, wenn ich dem Alltag fliehen möchte – oder ich schlafe. Geblieben ist höchstens die Neugier, was wohl aus all den Menschen geworden ist – und die Hoffnung, dass es ihnen gut geht.
Das Internet ist voll von Leuten, die versuchen, das herauszufinden. In etlichen Foren wird spekuliert, werden Bilder geteilt, Links zu Videos gepostet und Briefe an Christiane Felscherinow geschrieben. „Du ich weiß gar nicht wieso, aber ich fühl mich irgendwie mit dir verbunden, obwohl wir uns gar nicht kennen undsoweiterundsofort.“ Ich stoße auf Felscherinows Webseite, der ich entnehme, dass sie 2013 das Buch Mein zweites Leben veröffentlicht hat, in dem sie mit Hilfe einer Journalistin ihre Geschichte weiter erzählt. Auf der Webseite waren zum Teil unterhaltsame Einträge zu finden. In einem erklärte sie beispielsweise, wieso sie keine Ahnung hat, was aus ihrem damaligen Freund Detlef geworden ist: Die beiden verband eine Kinderliebe und schließlich hat fast niemand mit 50 Jahren Kontakt zu jenen, an die man als Teenager sein Herz verlor.

Mittlerweile hat sich Felscherinow aus Angst, Menschen könnten via Internet in Massen über sie richten, aus der Öffentlichkeit zurück gezogen. Das ist nicht verwunderlich, wurde sie doch das ganze Leben lang von der Presse verfolgt, jeder Fehltritt dokumentiert und verurteilt. Ich erinnere mich an die immer wieder mal auftauchenden Meldungen, sie sei rückfällig geworden. Seit wenigen Tagen befinden sich deshalb auf ihrer einstigen Webseite zum Buch Informationen zur Christiane F-Stiftung, die sich für einen anderen Umgang mit Drogenkonsum und Sucht einsetzt.

Das zweite Leben

Wir Kinder vom Bahnhof Zoo endet hoffnungsvoll. Wenn man keine Ahnung vom Leben eines Junkies hat, malt man sich aus, wie danach für Christiane Felscherinow alles gut wird. Auch in meiner Vorstellung gab es hier lange nur schwarz und weiß. Nun habe ich ihr neues Buch gelesen und weiß, dass sie letztendlich immer irgendwelche Drogen genommen hat. Für Menschen, die ein durchschnittliches Leben führen, schwer vorstellbar – zumal alle an „das gute Ende“ glauben wollten. Mittlerweile substituiert sie mit Methadon.

Was auffällig ist: egal, wo Felscherinow hinkommt, ist sie Christiane oder Christiane F. – niemand spricht sie als Frau Felscherinow an. Nicht einmal in einem noch recht jungen Interview, bei dem sogar der Moderator feststellt, wie sonderbar das ist, und sie fragt, wie sie gerne angesprochen werden möchte. „Mit meinem ganzen Namen“ antwortet Felscherinow und kann sich nicht dagegen wehren, dass der Moderator dann doch lieber „Christiane“ bevorzugt.

Ohne zu werten

Mein zweites Leben ist kein literarisches Meisterwerk und es hat nicht mehr jene Eindringlichkeit, die Wir Kinder vom Bahnhof Zoo so auszeichnete. Direkt im Anschluss daran gelesen funktioniert es aber vermutlich am besten. Ich habe mich über einige Dinge darin gefreut: beispielsweise, dass Felscherinow sich mit Loriot bei einem Strandspaziergang unterhalten hat. Vor allem aber über ihren Sohn, den sie offenbar sehr liebt – und darüber dass sie noch lebt!

Es gibt aber auch Stellen zum Kopfschütteln und nicht alle notierten Gedanken sind bahnbrechend. Doch durch das Buch zieht sich etwas Besonderes: der ausgeprägte Gerechtigkeitssinn – auch hinsichtlich des Umgangs von Männern mit Frauen – sowie die Neugier und Empathie der Autorin: „Ich bewerte Menschen nicht aufgrund ihrer Lebensumstände. […] Ich verurteile so schnell niemanden. Und ich wünsche mir mehr als alles andere, dass man das mit mir auch nicht tut.“

4 Antworten zu “„Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ – meine Spurensuche”

  1. ronniegrob sagt:

    Interessant dazu auch dieses aktuelle Interview mit Journalist Reda el Arbi:

    — „Die Menschen haben die Tendenz, ihre Vergangenheit zu
    beschönigen. Wenn ich die extremen, spannenden und aufregenden Momente
    in den 15 Jahren Sucht zusammenzähle, komme ich vielleicht auf drei
    Wochen. Es ist hart, jeden Morgen dem Stoff nachrennen zu müssen, die
    Leute in seinem Umfeld anzulügen, weil man ein Doppelleben führt, das
    Geld für die Drogen zu jonglieren, nur damit man abends schlafen kann.
    Es ist ein langweiliges, eintöniges und sehr anstrengendes Leben. Filme
    wie «Christiane F.» und «Trainspotting» vermitteln ein verzerrtes Bild,
    indem sie den Fokus auf die erwähnten seltenen Höhepunkte legen. Man
    hört auch immer wieder den Mythos, wonach alle Genies der Geschichte
    high waren oder die kreativsten Künstler Drogen nehmen. Man vergisst,
    dass Millionen von Junkies nie einen geraden Satz geschrieben oder ein
    schönes Bild gemalt haben.“ —

    http://www.nzz.ch/zuerich/der-ueberwaeltigende-rausch-blieb-aus-1.18498537

  2. Lukas Passeck sagt:

    Toll geschrieben, vielen Dank!

  3. Mott1 sagt:

    Hallo Maike, Entschuldige bitte wegen meine Deutsche.Ich finde jetzt Ihren Brief und ich fuhle mich viel besser.Als ich jemand getroffen hatte, die etwas geschrieben hat,genau wie ich schreiben wollte (wenn ich ihre Kunst hätte.)Vielen Dank, dass Sie meine Gedanken gelesen haben.