Tod in der Diaspora

Foto , Alle Bildrechte vorbehalten , by Vanessa Vu

Dies ist ein Beitrag aus unserer Rubrik kleinergast, in der wir alle Gastartikel veröffentlichen. Dieses Mal kommt er von Vanessa.

Vanessa Vu studiert irgendwas mit Ethnizität und Konflikt in London,
der vielleicht tollsten Stadt der Welt, weil dort niemand fragt, wo sie
wirklich herkommt und weil der britische Akzent so schön ist. Im Herbst
geht’s der Liebe wegen wieder zurück nach München


Blog von Vanessa @_vanessavu

Thuy wurde nur 46. Eine Familie hatte er nicht, seine große Liebe waren Gadgets. Die Polizei fand ihn erst nach mehreren Tagen fliegenumschwärmt in seiner Wohnung. Als ich vergangenen Sommer meine Eltern in P. besuchte, standen viele große Fragen im Raum. P. ist das bayerische Dorf, in dem meine Eltern von Gastarbeitern zu Asylbewerbern wurden, weil sie nicht zurück nach Vietnam wollten.

Auch Thuy landete in P. und verbrachte dort mehr als die Hälfte seines Lebens. Seine Eltern sind arme Leute aus den Bergen Nordvietnams. Man brauchte lange, um sie ausfindig zu machen und ihnen von ihrem endgültig verlorenen Sohn zu berichten, damit sie für ihn beten können. Geld für die Bestattung hinterließ Thuy nicht, also wurde unter allen Vietnamesen im Landkreis gesammelt. Die ältesten unter ihnen gaben hundert Euro, die erst kürzlich Zugezogenen zehn.

Niemand dachte Immigration zu Ende

Aber wie viel kostet eine Bestattung in Deutschland überhaupt? Wer kommt? In schwarz, wie es hier üblich ist, in bunten Alltagskleidern, oder gar in weiß, wie es in Vietnam bei besonders Nahestehenden üblich wäre? Schreibt man Trauerkarten? Zeitungsannoncen? Wird Thuy in Deutschland begraben? Verbrannt? Irgendwie nach Vietnam gebracht? Wer veranstaltet die Zeremonie? Nach welcher Sitte? Bringt man etwas zu Beerdigungen mit?

Niemand wusste es, denn keiner der ehemaligen Gastarbeiter hatte Immigration zu Ende gedacht. Bis jetzt hatte man sich durch Arbeit und Kinder ablenken können, vielleicht auch von einer Rückkehr im Alter träumen, wenn die Rente gesichert wäre und man dann den ganzen Tag am Straßenrand Grüntee schlürfen können würde. So aber brachen all die Fragen nach dem Ende eines alleinstehenden Mannes fern von seinem Geburtsort in unser Leben ein wie ein unerwartetes Sommergewitter.

Der Tod als traumatisches Loch

Der Tod, schrieb der Religionssoziologe Robert Hertz, ist keine individuelle Krise, sondern zerstört soziale Strukturen. Das traumatische Loch, das ein Verstorbener hinterlässt, muss durch Rituale wieder “repariert” und sinnhaft gemacht werden. Doch was, wenn es keine Rituale gibt, weil sie durch die Migration verloren gegangen sind? Die meisten Vietnamesen aus P. und Umkreis kamen jung und hatten nie eine Bestattungszeremonie erlebt. Außerdem leben sie weit weg von jeder Großstadt, wo es feste kulturelle Gemeinschaften und etablierte Pagoden gibt, die bei solchen Fragen Orientierung bieten könnten.

“Viele Vietnamesen sind gar keine Buddhisten, sondern folgen einem Ahnenkult und waren nie in einer Pagode. Im Todesfall kommen sie aber auch von weit weg zu uns”, erklärt der Abt Hanh Gioi von der Vien Giac Pagode in Hannover, eine von zehn vietnamesisch-buddhistischen Pagoden Deutschlands. “Die meisten sind dann sehr froh, dass es auch so weit weg von ihrer Heimat die Möglichkeit einer vietnamesischen Andacht gibt. Sie sind auch dankbar, dass sie in ihrer Muttersprache über ihre Trauer sprechen können.”

Das Vietnam, das die Gastarbeiter in den späten achtziger Jahren verlassen hatten, war von Kriegen zerrüttet, planwirtschaftlich zerstückelt und von der Weltgemeinschaft ausgestoßen. Heute ist Vietnam laut CEPR, einem Forschungszentrum für Wirtschaftspolitik, das vielversprechendste Schwellenland der Welt und Magnet für internationale Investoren und Backpacker. Die Gastarbeiter aber strömten nicht zurück, nachdem sich die Lage in ihrem Geburtsland gebessert hatte. Sie fassten in der Gastronomie Fuß. “Asia Imbiss, Grüß Gott!”, sagen sie lächelnd, servieren indische Currygerichte oder Pekingente und können sich für ihre Kinder ein eigenes Zimmer und Markenrucksäcke leisten. Thuy briet Burger und leistete sich alle paar Monate ein neues Smartphone.

Räucherstäbchen und Klangschalen

Heute, am Tag von Thuys Andacht, sind die Asia-Restaurants und Imbisse dieses Landkreises zu. Auch die Fastfood-Kette mit dem goldenen M, das fettige Versprechen von Westlichkeit und ein beliebter Sammelpunkt der Dorfjugend, arbeitet auf Sparflamme, um ihren Kollegen zu verabschieden. Regentropfen prasseln auf die weiße Aussegnungshalle, davor steht eine Traube schwarz gekleideter Menschen. Manche rauchen. Von weitem ist nicht erkennbar, dass es eine besondere Trauergesellschaft ist, dass bald in safrangelb und hellblau gehüllte buddhistische Mönche hereinschreiten, dass sie laminierte Zettel mit Gesängen aus irgendwelchen Silben aus irgendeiner Sprache austeilen und sich der Raum bald mit dem Geruch von Räucherstäbchen und Klangschalenschlägen füllt.

Thuys tiefblaue Urne thront hinter einem schwammigen Portrait aus den neunziger Jahren. Es war das einzige Bild, das man von ihm hatte finden können und ist ein Ausschnitt aus einem Gruppenfoto, das zu Weihnachten neben einer Plastiktanne aufgenommen wurde. Thuy und die anderen lächeln darauf einer neuen Zukunft in Europa entgegen, einer Zukunft mit Sofas, Tapete und glänzenden Christbaumkugeln. Nun lächelt er unter einem silbernen Kreuz, darunter ein Blumenkranz von seinen Kollegen bei McDonald’s.

Erst ein Ende führte alle wieder zum Anfang

Während der Zeremonie werden viele Fotos gemacht, auch Videos werden gedreht. Männer in Anzügen schubsen sich durch Stuhlreihen und halten ihre dicken, schwarzen Objektive ins Geschehen. So werden wenigstens Thuys Eltern erfahren, dass ihr Sohn eine ordentliche Zeremonie bekam, wo wirklich alle Vietnamesen anwesend waren, deren Lebensweg in den vergangenen zwanzig Jahren durch P. führte.

Vermutlich ist es das erste Mal nach der Zeit im Asylheim, dass alle wieder in einem Raum versammelt sind. Schließlich haben sich die Wege zerstreut, zwar nur um einige Kilometer, aber die Gruppe fand neue Lebensmittelpunkte und Interessen. Thuy, sagen sie, war ein Eigenbrötler. Er aß gerne Eis und dachte nie an morgen. Weil er selbst nur ein kleines Burgerbrater-Gehalt hatte, blitzten seine Augen jedes Mal auf, wenn er Bekannten bei der Auswahl von Laptops und Lautsprechern helfen durfte. Ansonsten bekam man ihn nicht viel zu Gesicht, er hatte sich wie die anderen seine eigene Welt geschaffen.

Was sollen wir fühlen, denken und singen?

Immer wieder müssen die Trauergäste von den Mönchen ermahnt werden, ihre Gespräche einzustellen, so groß war die Aufregung, einander wieder zu sehen: Dick siehst du aus! Wie geht’s den Kindern? Wie läuft das Geschäft? Es gibt viel zu erzählen und so viel Leere, die gefüllt und überspielt werden muss.

Denn was sollen wir bei so einer Zeremonie fühlen, denken und singen? Obwohl Thuy sogar mal ein Jahr lang unser Untermieter war, kann ich mich nicht an ihn erinnern. An welchen Thuy erinnern sich die anderen? Den Thuy neben dem Weihnachtsbaum? Oder an den gebrechlichen, oft hustenden Thuy mit dem Händchen für Regler und Stecker? Kaum einer der Anwesenden pflegte viel Kontakt zu ihm, nur ein Mann stammt aus der Nähe von Thuys Heimatdorf und war zeitgleich mit ihm nach Deutschland gekommen. Er hat die Beerdigung organisiert, seine Frau und er sind die einzigen, die weinen. Mit rot verquollenem Gesicht knien sie vor der Urne und verneigen sich immer wieder mit ihrem Kopf bis zum Boden.

Rest in Peace, Thuy

Woran dachten wohl die Trauergäste, während sie den extra aus München angereisten Mönchen zusahen und auf ihre Aufforderung hin die Handflächen falteten und ungelenk in die Höhe streckten? Was ging in ihren Köpfen vor, während der älteste Beerdigungsgast Thuys Biografie vorlas und immer wieder ein verunsichertes „Nam Mo A Di Da Phat“ einstreute, weil es ihm der Mönch zehn Minuten vorher so sagte? Dachten Thuys Trauergäste an ihr eigenes Leben, ihr eigenes Ende? An die vielen Silben, die sie sagten und nicht verstanden? Dachten sie an Vietnam und Deutschland, an damals und heute, an Schicksal und Entscheidungen? An das Leben, das sie sich gewünscht hatten, und an das Leben, das sie nun haben? Fühlten sie sich ängstlich? Oder dachten sie ganz banal an die voranschreitende Zeit, und dass bald Mittag wäre, und sie ihre Imbisse und Restaurants rechtzeitig wieder aufmachen wollten? Vielleicht wunderten sie sich auch wie ich, wie genau diese Zeremonie zustande gekommen war: Hatte sich der Verstorbene überhaupt eine buddhistische Zeremonie gewünscht? Würden sich meine Eltern so etwas wünschen?

„Wir wissen doch nichts“, sagt mir meine Mutter, als wir ebenfalls früher aufbrechen, um unser Geschäft zu öffnen. „Aber die aus den Pagoden sind gelehrt und wissen, wie man es richtig macht. Wir sind dumm, wir können nur arbeiten.“ Ich krame den Schlüssel aus meiner Tasche und öffne die Fernverriegelung unseres Autos. Es blinkt orange auf. Rest in Peace, Thuy. Wir steigen ein. Ich mache die Scheibenwischer an und fahre los.

2 Antworten zu “Tod in der Diaspora”

  1. Jen sagt:

    Puh…heftiges Thema. Toll, dass du einen Artikel darüber geschrieben hast, Vanessa! Auch für meine Verwandten stellt sich die Frage, wie mit dem Tod in der Diaspora umgegangen werden soll. Mein Vater stammt aus dem Iran und liebt das Land bis heute heiß und innig. Auch viele seiner/unserer nahen Verwandten leben noch dort. Dennoch möchte er, glaube ich, hier in D. begraben werden, weil er letztlich doch auch hier seine Heimat gefunden hat (worüber ich froh bin, weil er dann in meiner Nähe wäre).
    Letztens ist mein Onkel, der Bruder meines Vaters, unerwartet gestorben. Es war für alle ein riesen Schock. Seine (deutsche) Frau und die Kinder haben sich bei der Organisation des Begräbnisses total vom Rest der Familie abgeschottet und alles im Alleingang organisiert. Sie haben den Onkel verbrennen lassen, obwohl das im Iran absolut unüblich ist (nach islamischer Tradition müssen die Toten beerdigt werden). Mein Vater und mein anderer Onkel (und ich eigentlich auch) waren darüber sehr unglücklich und niemand von uns wusste, ob sich mein Onkel das so gewünscht hätte. Hier wird nochmal eine weitere Dimension des Themas ersichtlich, wenn es sich um eine bi- oder multikulturelle Familie handelt – wessen Traditionen werden dann wann angewandt? Wer darf darüber mitbestimmen? Wer stellt sicher, dass die Wünsche des*der Verstorbenen eingehalten werden? Welche Verwandten haben mehr „Anrecht“ auf den Leichnam – die im Heimatland oder die im neuen Heimatland?
    Die Verwandten aus dem Iran konnten nicht zur Beerdigung kommen. Um wenigstens ein wenig Verbundenheit meines Onkels mit seinem ursprünglichen Heimatland herzustellen, hat meine Mutter einen Stein, den sie einmal im Iran am Kaspischen Meer eingesammelt hatte, in das Grab meines Onkels gegeben.
    Für mich unangenehm, aber letztlich doch verständlich, lief die Trauerarbeit meiner iranischen Verwandten zu einem wichtigen Teil auch über Facebook ab. Mein Vater hat dort Fotos gepostet, wie er am Grabe meines Onkels steht. Ich fand das schrecklich, aber vielleicht war es notwendig, um den Trauerprozess für meine Verwandten, die nicht zur Beerdigung kommen konnten, zu begleiten und auch die iranische Community in die Trauerarbeit einzubeziehen. Generell wird Facebook sehr rege von meinen iranischen Verwandten genutzt, um wenigstens auf dieser Ebene am Leben der Lieben teilhaben zu können. Von daher war die Trauer über Facebook vielleicht notwendig.
    Wahrscheinlich gibt es keine perfekte Lösung in so einem Fall. Aber es lohnt sich bestimmt, mit seinen Lieben aktiv über das Thema zu sprechen. Danke auf jeden Fall für den Gedankenanstoß, Vanessa!

    • Vanessa sagt:

      Hallo Jen, entschuldige vielmals die späte Antwort! Ich habe mich sehr über deinen Kommentar gefreut. Wie du sagst: Gerade in bi- oder multikulturellen Familien in erster Generation kommen spätestens am Ende (und eben leider oft unerwartet) alle offenen Kernfragen nach Heimat und Identität auf den Tisch. „Nur“ Trauern geht irgendwie nicht. Das fand ich bei aller Orientierungslosigkeit interessant zu beobachten. Ich stimme dir da völlig zu, dass man das Thema lieber rechtzeitig anspricht, aber fühle auch, dass es sehr hart ist. Bis zu Thuys Beerdigung hatte ich ja selbst nicht mal im Ansatz daran gedacht, und gesellschaftlich thematisiert wird das auch nicht.