Pranger sind immer die Anderen

Foto , gemeinfrei , by Thomas Rowlandson u.a.

Content-Note: Gewalt- und Vergewaltigungsdrohungen, Rassismus

Jon Ronson’s Werke sind mir schon öfter über den Weg gelaufen. Nicht so sehr seine Romanvorlagen zu Hollywoodfilmen wie „Männer die auf Ziegen starren“ und „Frank„, sondern eher seine Radioreportagen. Bei „This American Life“ habe ich zum Beispiel schon die eine oder andere Story von ihm gehört. Letztes Jahr habe ich auch sein Buch „Them“ gelesen. Eine bisweilen fast gonzo-artige Reportage über Ronsons Zeit mit Verschwörungstheoretikern.

Nun hat sich Ronson eines neuen Themas angenommen, namentlich dem „Public Shaming“, also das „an den Pranger stellen“, vornehmlich im Internet. In der New York Times durfte er kürzlich einen Auszug aus seinem neuen Buch „So You’ve Been Publicly Shamed“ (etwa: “Du wurdest also an den Pranger gestellt, was nun?”) als Artikel veröffentlichen. Der eine oder die andere werden ihn gesehen haben, er wurde in allen sozialen Netzwerken rauf und runter geteilt. Ich habe letzte Woche das Buch gelesen und bin mit eher gemischten Gefühlen zurückgeblieben, um es diplomatisch auszudrücken.

Aber eins nach dem anderen. Das Buch beginnt mit einer persönlichen Anekdote. Jemand hatte eine Twitterbot gebaut, der den damals an Bots interessierten Journalisten Ronson imitierte und unter @jon_ronson twitterte. Ronson war davon eher nicht begeistert und versuchte vergeblich, die Betreiber davon zu überzeugen, den Bot abzuschalten. Erst nachdem er die Geschichte auf Youtube öffentlich machte und unter seinem Video diverse Hasskommentare zur Einschüchterung des Betreibers gepostet wurden, wird der Bot abgeschaltet. Und so findet Ronson das Thema für sein nächstes Buch: Die Rückkehr des Prangers, dem mittelalterlichen Bestrafungsmechanismus, den wir als Gesellschaft eigentlich spätestens im neunzehnten Jahrhundert hinter uns gelassen haben wollten.

In den nächsten Kapiteln tourt Ronson dann von einem „Pranger“-Opfer zum nächsten. Die Kapitel beginnen in der Regel schablonenhaft damit, das jemand auf einem Sofa, Stuhl oder sonstigen Möbel verweilt, während Ronson die Geschichte aufarbeitet, die sein oder ihr Leben für immer verändert hat. Den Anfang macht Jonah Lehrer. In der deutschen Medienöffentlichkeit sicherlich kein sonderlich bekannter Fall. Lehrer, ein Buchautor, der sich ähnlich wie der vielleicht bekanntere Malcom Gladwell auf populärwissenschaftliche Bücher spezialisiert hat, hat für sein Buch über Kreativität („Imagine“) Bob Dylan Zitate erfunden, die seine Punkte untermauern sollten. Dies leugnete er zuerst. Erst ein halbes Jahr später entschuldigte er sich öffentlich. Ob Ronson das „Public Shaming“ in diesem Fall beim Aufdecken des Vorfalls in einem Artikel im „Tablet Magazine“ sieht oder bei den zynischen Twitterkommentaren zu Lehrers später Entschuldigung wird nicht ganz klar. Vermittelt wird vor allem, dass Lehrer sehr leidet und für immer gebrandmarkt ist. (Jonah Lehrer schreibt seit 2013 an seinem neuen Buch, dass bei Simon & Schuster verlegt wird. In Vorab-Presse-Leseproben fand ein Rezensent mutmasslich schon Plagiate.)

Als nächstes nimmt sich Ronson Justine Sacco an, die PR-Managerin, die kurz bevor sie ins Flugzeug steigt, twitterte „Going to Africa. Hope I don’t get AIDS. Just kidding. I’m white!“ („Ich fliege nach Afrika. Hoffentlich bekomme ich kein AIDS. Ich scherze, ich bin ja weiss“). Der Tweet wird viral verbreitet, Sacco hat im Flugzeug kein Internet und landet in einem “Shitstorm”. Die Geschichte ist vermutlich altbekannt mittlerweile. Ronson erklärt daraufhin ein Kapitel lang, dass Sacco „nicht sonderlich privilegiert“ ist (was er mit „reich“ zu verwechseln scheint) und dass sie auf keinen Fall eine Rassistin sei. Ob der Tweet rassistisch war, ist allerdings eine Frage, die nicht zur Sprache kommt. Und dass es vielleicht sein könnte, dass auch nette Menschen einen rassistischen Witz machen. Ob der Fall Sacco durch die initiale Eskalation durch eine Medienseite wie Gawkers Valleywag eine Sonderstellung hat. Ob Misogynie eine Rolle spielte dabei, wie sie angegangen wurde. Ob Sacco vielleicht auch deshalb ihren PR-Job verlor, weil sie für richtig schlechte PR gesorgt hatte. All das lesen wir nicht. Statt dessen fabuliert Ronson dass Sacco in „24 Stunden ihr Körpergewicht in Tränen ausgeschieden“ hat und über die guten alten Zeiten, als man auf Twitter noch „Eva im Garten Eden“ war, und unbedacht alles was einem in den Sinn kommt herausplappern konnte. Bevor man auf Twitter zu „Soldaten in einem Krieg gegen die menschlichen Fehler anderer“ wurde.

Ronsons nächster „Stopp“ ist Donglegate. Zwei Männer sitzen in einem Vortrag in einer Konferenz und machen sexuell-anzügliche Witze. Während auf der Bühne über Ideen gesprochen wird, wie man die Frauenquote in IT Firmen verbessern könnte. Adria Richards sitzt eine Reihe vor den Männern und ärgert sich darüber, dass hier so nonchalant gegen Konferenzregeln verstossen wird, die allen eine angenehme Atmosphäre ermöglichen sollen. Sie macht ein Foto, meldet den Vorgang der Konferenzleitung und twittert darüber. Erst als der anonym bleibende Mann, den Ronson in seinem Buch Hank nennt, auf einer Tech-News Webseite schreibt, er habe deshalb seinen Job verloren, nimmt die Geschichte volle Fahrt im Internet auf. Das Foto wird grossflächiger verbreitet und Richards erhält Mord- und Vergewaltigungsdrohungen. 4chan attackiert ihren Arbeitgeber mit DDOS-Attacken, die erst aufhören sollen, wenn sie gefeuert wird. Erfolgreich. Auch Richards verliert ihren Job.

Ronson macht beim Nacherzählen dieser Geschichte wenig Hehl daraus, dass er „Hank“ für das Opfer von Richards hält, die es nur darauf anlegt, die beiden Männer feuern zu lassen. Dazu verdreht er den zeitlichen Ablauf und schreckt auch nicht davor zurück, Richards schlimme Kindheit als Grund für ihr “männerfeindliches” Handeln in den Raum zu stellen. Er verschwendet sogar ein ganzes Kapitel auf Kritik am „Stanford Prison Experiment”, nur um Richards Kommentar, in einer Menschengruppe könne Deindividuation – also eine Enthemmung was gesellschaftliche Normen angeht – einsetzen, zu diskreditieren. Auch wenn das eine mit dem anderen nur bedingt zu tun hat und auch modernere Psychologie von Deindividuation spricht, ohne auf das angesprochene Experiment zurückfallen zu müssen. Wer sich für mehr Details zu Donglegate und Ronsons Darstellungen dazu interessiert, findet hier einen ausführlichen Artikel.

Mein Zwischenfazit an dieser Stelle bleibt, dass die schlimmsten Blessuren nicht „Hank“ oder Justine Sacco davon tragen, sondern Richards, deren wesentlicher Fehler ein kleines bisschen Zivilcourage war. Sie hat als einzige in der Reihe keinen neuen Job und erhält bis heute Drohungen. Zu meiner Enttäuschung unterscheidet Ronson nicht zwischen Beleidigung, Belästigung, Stalking und „Public Shaming“ oder gar den Graubereichen dazwischen. Auch verschwendet er keinen Wort darauf, warum die Frauen in seinem Buch eine ganz andere Ebene an Gewaltandrohungen erfahren müssen. Und warum die Männer in seinem Buch nicht von Vergewaltigungsdrohungen berichten.

Weitere Kapitel beschäftigen sich dann mit Max Mosley und seiner Nazi-esquen Cosplay-Geburtstags-Orgie, der veröffentlichten Kundenliste einer Sexarbeiterin und Mike Daisey, der einige drastische Details seiner Reportage zu den Zuständen in iPhone-Fabrikationsstätten erfunden hatte. Hätte Ronson mehr Zeit gehabt, hätte er noch dem “zum Schweigen gebrachten” Jeremy Clarkson ein Kapitel widmen können.


Die Opfer von “public shaming” sind in Ronsons Buch fast ausschliesslich Menschen, die sich selbst als “Querdenker” sehen, die vielleicht einen “zu bösen Humor” haben. Fehltritte und Äußerungen werden zu singulären und kontextlosen Dummheiten stilisiert, die Leben zerstören. Anderswo scheint Ronson aber einen blinden Fleck zu haben: Anhaltende Bedrohungen und Belästigung von Aktivist*innen oder auch einfach nur Menschen die ihre Meinung öffentlich äußern möchten ohne weiss, männlich und cis zu sein, ignoriert er. Auch die Vorgänge rund um Gamergate, das nach wie vor mit Ausdauer Entwicklerinnen und Journalistinnen aus der Gaming-Szene vertreiben will, klammert er grossflächig aus, weil sie nicht in sein Bild passen.

Kurz ausgedrückt: Das Buch dokumentiert auf dreihundert Seiten das Scheitern, einem komplexen Thema gerecht zu werden. Ronson zog mit einem Hammer aus, um alles zum Nagel zu machen. Nuancen oder Punkte, an denen Erkenntnis oder gar ein Weiterdenken ansetzen könnten, blieben dabei leider auf der Strecke. Differenzierung zwischen Trollen, die Hass schüren, Mitläufer*innen und berechtigter Kritik sucht man vergebens. In welchen Fällen Eskalation angebracht sein kann und wann nicht. Warum quasi hingenommen wird, dass Partyfotos auf Facebook berufliche Nachteile bringen können, das aber für Meinungsäusserungen ausgeschlossen werden soll. Und ob wirklich jede Forderung nach Rechenschaft immer gleich eine nach rollenden Köpfen ist. Ideen, wie online Entschuldigung aber auch Verzeihen funktionieren könnte. All das: Fehlanzeige. Das Buch geriert sich statt dessen als ein Manifest für das Recht auf freie – und das meint in diesem Fall vor allem: konsequenzfreie – Meinungsäusserung.

Und so bleibt Ronson auch nur, die vermeintlich Schuldigen am erstarkenden Pranger-System zu nennen: Google, die durch Suchen nach z.B. “Jonah Lehrer” gutes Geld verdienen, und das generische Internet-Wir. Das eindimensionale Fazit am Ende des Buchs: “Wir” sind es, die “Non-Konformisten” auf Twitter mittels “public shaming” in Grund und Boden schreien. Eine verschwendete Chance eine Diskussion über wichtige Themen zu führen. Um nicht gar zu sagen: Eine Schande.

5 Antworten zu “Pranger sind immer die Anderen”

  1. toba sagt:

    Kleine Korrektur

    Du schreibst: „Ob der Tweet rassistisch war, ist allerdings eine Frage, die nicht zur Sprache kommt.“

    Keine Ahnung, wie es in dem Buch ist, aber im oben verlinkten Artikel steht dazu:
    —-

    “Only an insane person would think that white people don’t get AIDS,” she
    told me. It was about the first thing she said to me when we sat down.

    Sacco
    had been three hours or so into her flight when retweets of her joke
    began to overwhelm my Twitter feed. I could understand why some people
    found it offensive. Read literally, she said that white people don’t get
    AIDS, but it seems doubtful many interpreted it that way. More likely
    it was her apparently gleeful flaunting of her privilege that angered
    people. But after thinking about her tweet for a few seconds more, I
    began to suspect that it wasn’t racist but a reflexive critique of white
    privilege — on our tendency to naïvely imagine ourselves immune from
    life’s horrors. Sacco, like Stone, had been yanked violently out of the
    context of her small social circle. Right?

    Das Thema wird zumindest angesprochen, wenn auch nicht aufgelöst.

    • map sagt:

      Sehe ich nicht ganz so. Es wird sich mit der Frage ob der Tweet für sich rassistisch ist überhaupt nicht auseinandergesetzt. Es wird erst darauf hingewiesen dass es ja ein Witz sei („only an insane person“), dann wird uns erklärt, dass alle die Sacco kennen („social circle“) ja wüssten dass sie keine Rassistin ist. Das war aber ja auch nicht die Frage.

      • Toba sagt:

        Ich hatte den Tweet als satirisch aufgefasst und der Absatz bietet zumindest einen Erklärungsansatz in die Richtung. Auch, dass der Tweet wörtlich gelesen rassistisch wirkt, wird erwähnt:
        „Read literally, she said that white people don’t get
        AIDS, but it seems doubtful many interpreted it that way. More likely
        it was her apparently gleeful flaunting of her privilege that angered
        people.“

        Mir hatte das beim ersten Lesen eigentlich gereicht, jedenfalls: Es wurde von Ronson angesprochen, anders als hier im Artikel behauptet.

        Was diesen Artikel jedoch in keinster Weise entwertet, deswegen sollte es auch nur eine kleine Korrektur sein.

        • map sagt:

          Wie gesagt: Ich sehe in diesem Satz keine Auseinandersetzung mit dem von mir angesprochenen Problem, sondern einen durchschaubaren Versuch auf einen persönlichen Nebenschauplatz abzulenken. (Nämlich warum Leute sauer waren, als sie den Tweet lasen.) Unterm Strich ist es wahrscheinlich Haarspalterei ob das Problem nicht angesprochen wird oder nicht ernsthaft besprochen. Let’s agree to disagree.

  2. […] beschreibt sie eine Realität, vor der gerade öffentlich gewarnt wird. Nach Gaucks Angst vor dem Tugendfuror 2013 ist angeblich 2015 ein Moralmob unterwegs, Menschen das […]