Sex, Lügen und Verbandsmaterial

Foto , by HBO

Ich verfalle selten einer neuen Serie. Wenn, dann aus folgenden Anlässen: 1. Ich folge einem Tipp von Freundinnen und Freunden, die mir garantieren, dass mein Leben nicht komplett sei, wenn ich nicht xy geschaut hätte. 2. Ich folge einem Tipp freundlicher Fremder im Internet, die seit Wochen und Monaten nichts anderes machen, als meine Twitter-Timeline mit der Nacherzählung einer Serie zu füllen. 3. Ich sitze neun Stunden auf einem Platz, ohne Chance, ihn zu verlassen, weil ich über einen Ozean fliege. Meine Liebesgeschichte mit “Getting On” begann in letzterer Situation.

Die Serie wurde in Großbritannien kreiert und lief dort auf der BBC 2009 bis 2012. Ich spreche hier allerdings über die HBO-Version, deren zweite Staffel in den USA gerade ausgestrahlt wird. (Ja, ich bin eine der unverzeihlichen Personen, die de US-Version der britischen vorzieht. Das war auch schon bei “The Office” so. Michael Scott for life, suckers!)

„Getting On“ widmet sich der Beschissenheit
der Dinge – wörtlich genommen

“Getting On” wirkt auf den ersten Blick wie eine harmlose, kleine Krankenhaus-Comedy. Alles dreht sich um eine Reha-Station in Long Beach, Kalifornien. Im Mittelpunkt der Serie stehen sowohl das Pflegepersonal und die leitende Ärztin der Station, als auch die Patientinnen und ihre Angehörigen – alles so, wie es sich für eine Krankenhausserie gehört. Doch auf den zweiten Blick entpuppt sich die Serie als vor schwarzen Humor triefende Betrachtung des menschlichen Daseins in unserer Zeit.

In einer überschaubaren Staffellänge von sechs Episoden lernen wir, was es heißt, für Menschen zu sorgen, wenn sich die Umstände und unsere eigenen Grenzen verschworen haben, dies zu verhindern. Dies wird sehr schön und ohne Umschweife illustriert an einem – ja, tatsächlich – Haufen Scheiße. Gleich zu Beginn der ersten Folge thront er auf einem Stuhl in der Empfangshalle und es soll lange Zeit unmöglich sein, ihn zu entfernen. Das liegt zum einen an bürokratischen Vorschriften, die Oberschwester Dawn (gespielt von Alex Bornstein, u.a. Autorin und Sprecherin bei „Family Guy“) zwingen, den Stuhl mit rotem Absperrband “unter Quarantäne” zu stellen, um weiterführende Untersuchungen des menschlichen Überbleibsels anzustellen – es könnte ja eine Seuche auslösen und deswegen nicht ins Klo gehören. Außerdem ist da der Ehrgeiz und die Rücksichtslosigkeit der Oberärztin Jenna James (gespielt von Laurie Metcalfe, der Jackie aus „Roseanne“), die im wahrsten Sinne des Wortes ihre Chance wittert, den Haufen für eine Studie über den Stuhl alter Menschen zu nutzen. Die Studie soll ihr helfen, dem wenig prestigeträchtigen Dasein als Medizinerin in der Reha zu entgehen. Schließlich verschwindet der Haufen ohne großes Aufhebens, weil ihn DeeDee (Niecy Nash, u.a. „Reno 911“), eine Schwester mit Hang zu Pragmatismus, auf Anweisung einer Vorgesetzten entfernt. Das wiederum sorgt für weitere personelle Konsequenzen. Was niemanden in den Sinn kommt, ist, herauszufinden, wie es überhaupt zu dem Haufen auf dem Stuhl kommen konnte. Die Schwestern, Pfleger und Ärzte diskutieren lieber protokollarische Details und Vorschriften, um die unerwartete und verstörende Lage zu bewältigen, anstatt sich mit dem Verstörenden selbst auseinanderzusetzen. Das ist so absurd wie menschlich und stellt einen Bezug zu uns allen her. Wir alle kennen Situationen, in denen unsere Überforderung gewinnt.

Kranke, alte Frauen dürfen böse sein und Sex haben

“Getting On” versucht uns zu erklären, dass die einzige Art, mit Dramen zurechtzukommen, ist, so zu tun, als wären sie nicht vorhanden. Das gilt auch für den Moment, als eine Patientin an ihrem Geburtstag verstirbt und das Pflegepersonal ohne großes Aufhebens den Kuchen, den ihr ihre Schwester mitgebracht hatte, aufisst.

Wir sehen hier ein Bild von Pflege und Krankheit, das nicht schwarz und weiß ist. Schwestern sind erschöpft, verwirrt, opfern sich auf und essen danach trotzdem Kuchen, der für eine tote Patientin bestimmt war. Die alten Frauen, die sie pflegen, sind meistens nicht weise, klug, still leidend, sondern laut, unangenehm und bisweilen fies. Wir erleben Patientinnen, die unerträgliche Rassistinnen und manipulative Mütter sind oder mit ihrem Freund Sex haben – erst in ihrem Zimmer, dann in der Empfangshalle. In einer Welt der Regulierungen und Regeln darf auch dies nicht ungesühnt bleiben. Um das Krankenhaus abzusichern, müssen die Söhne der Sex-Patientin ein Formular unterschreiben, das bestätigt, ihre Mutter habe dem Sex zugestimmt. Die zurechnungsfähige Mutter selbst zu fragen, kommt natürlich nicht in Frage, denn sie ist ja alt.

Was grausam klingt, ergibt in der Umgebung der Station Sinn. Wir erleben, was das Alter mit den Menschen macht. Mit denen, die alt sind und mit denen, die sie pflegen. Wir sehen, welche Grenzen Alter uns setzt und, zu welch Entmündigung es führt.

Smileys sind keine Medizin

Dass dies nicht deprimierend wirkt, liegt am absurden Humor vieler Situationen und der Mehrdimensionalität der Charaktere, die eben nie “nur gut” sind. Das gilt auch für Patsy, den neuen Chefpfleger der Station (gespielt von Mel Rodriguez). Er versucht dem unvermeidlich Bedrückenden der Gesamtsituation – wir pflegen hier alte Menschen, die häufig unter unserer Obhut sterben – eine Art Freundlichkeitskampagne entgegen zu setzen. Er pinnt Smileys ans Personal und macht aus ihnen so etwas wie Hotelangestellte, die permanent lächeln sollen, während sie wundgelegene Patientinnen drehen oder sich beschimpfen lassen.

Ich spoilere nicht, wenn ich verrate, dass diese Kampagne keinen Erfolg hat.

Neben dem Umgang mit den Patientinnen stehen natürlich auch diverse kleine und große persönliche Dramen des Personals im Mittelpunkt. Wir erfahren etwas über Jennas Eheprobleme und Dawns verzweifelten Wunsch, geliebt zu werden, den sie aus guten Gründen auf den offen schwulen Patsy projeziert.

Wenn ihr bisweilen fiesen Humor liebt, dann ist “Getting On” ein kleiner Seriendiamant am HBO-Himmel und seine Faszination hält länger als einen Transatlantikflug. Versprochen.

Die erste Staffel der Serie gibt es auf iTunes und Amazon.

 

2 Antworten zu “Sex, Lügen und Verbandsmaterial”

  1. mauerunkraut sagt:

    Ich scheue ja Krankenhausserien oft, weil die Rolle der Pflegekräfte in ihnen selten über Klischees und Statistenrollen hinaus geht. Diese Serie könnte tatsächlich interessant sein, werde ich mir wohl bei Gelegenheit zu Gemüte führen. Vielen Dank für den Tipp :-)