Datingportale sind keine Glashäuser
Dies ist ein Beitrag aus unserer Rubrik kleinergast, in der wir alle Gastartikel veröffentlichen. Dieses Mal kommt er von Jan.
Jan Schnorrenberg ist Kulturwissenschaftler und arbeitet zu Fragen der Mediennutzung wenn er nicht gerade im Bundesvorstand der Grünen Jugend für Netzgedöns zuständig ist – oder ihn flauschige Dinge im Internet von alledem abhalten.
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tl;dr: Das Kunstprojekt “Wanna Play?” hat auf besondere Weise Profile der Dating-App Grindr öffentlich und ohne Zustimmung der Beteiligten ungefragt zur Schau gestellt. Es ist bedenklich, dass die Verantwortlichen die Gefahr durch Eingriffe in Persönlichkeitsrechte und Fremd-Outing nicht gesehen haben (wollen). Als Gesellschaft zeigt uns diese Geschichte unter anderem, dass wir stärker darüber nachdenken müssen, wie wir uns verantwortungsvoll untereinander verhalten können – vor allem wenn Räume involviert sind, die in erster Linie von marginalisierten Gruppen genutzt werden.
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Stell dir vor, über die schwule Dating-App Grindr verabredest du dich mit einem eloquenten Herren. Das Gespräch verläuft recht interessant, er stellt dir viele persönliche Fragen auf die du antwortest, ihr tauscht Bilder und macht einen Treffpunkt mitten in Berlin-Kreuzberg aus. Du begibst dich zum Heinrichplatz und stutzt plötzlich – dein Date sitzt in einem Glaskasten und hinter ihm läuft ein Livestream von Grindr auf einer LED-Wand. Grindr ist eine der meistgenutzten ortsbasierten Dating-Apps und wird von Männern die Sex mit Männern haben genutzt. Die App zeigt dabei immer die Nutzer in unmittelbarer Nähe an, angeordnet in einem Raster welches klar auf der LED-Wand zu erkennen ist. Die Menschen die du gerade auf der Wand siehst, könnten also wahrscheinlich gerade im Cafe um die Ecke sitzen oder hier wohnen, aber mehr noch: du erkennst euren Chatverlauf. Du bist unfreiwilliger Bestandteil der Performance “Wanna play?” (Willst du spielen?) des Künstlers Dries Verhoeven geworden. Er hatte geplant, in den ersten zwei Oktober-Wochen 2014 in einem Glascontainer in Berlin zu leben und mit der Außenwelt nur über Grindr zu kommunizieren.
Dabei streamte er alles was er auf Grindr sah, Chatprotokolle, Standortübersicht, Nicknames, live und öffentlich auf besagte LED-Wand, die publikumswirksam direkt am Heinrichplatz mitten im beschäftigsten Berlin-Kreuzberg aufgestellt wurde. Die Fotos wurden zwar verfremdet, allerdings mit einem so einfachen Filter, dass die vorinstallierte Bildbearbeitungssoftware jedes Smartphones diesen innerhalb weniger Sekunden zur Makulatur erklären konnte. Nicknames waren “nur” in der Standortübersicht erkennbar, aber die Chatprotokolle waren aussagekräftig genug – Verhoeven verwickelte seine Gesprächspartner oft in längere Gespräche, in derem Verlauf er ihnen einige spezielle und persönliche Fragen stellte. Dabei berichteten mehrere Menschen davon, dass er sie nicht über das Streaming des persönlichen Gesprächsverlaufes informiert hatte. Für den Zeitraum seiner Performance waren alle Nutzer von Grindr, die sich für den Zeitraum seiner Performance in seiner Nähe aufgehalten hatten, sei es in der eigenen Wohnung, im Café um die Ecke oder zu Besuch, gläsern gemacht.
Eine der Betroffenen war die Berliner Drag Queen Pansy. Als sie am Heinrichplatz ankam und realisierte, dass Verhoeven sie nicht, wie vereinbart, in einem privaten Rahmen treffen würde und ihre Korrespondenz öffentlich verbreitet worden war, kam es zu einer Auseinandersetzung, die sie in einem ausführlichen Posting auf Facebook beschreibt. Sie beschrieb die Erfahrung wie folgt: „i just experienced the most violating and infuriating experience of my life. i have never felt rage until this evening.“ (In keiner anderen Situation meines Lebens wurde ich dermaßen verletzt und wütend gemacht. Bis zu diesem Abend habe ich noch nie eine solche Wut verspürt.). Daraufhin rief sie dazu auf, Beschwerden an die zuständige Theaterinstitution Hebbel am Ufer (HAU) zu schicken. Die Medien berichteten ausführlich und Berliner Künstler_innen (Anmerkung: Link nur sichtbar bei Facebook-Login) und weite Teile der Szene gaben ihre Kritik kund. Sie demonstrierten lautstark vor Ort und erwirkten mit ihrem Protest sogar, dass das Projekt nach nur 5 Tagen beendet wurde. Währenddessen löschte Grindr den Account von Verhoeven, wegen Verletzungen von Persönlichkeitsrechten und potenzieller Gefährdung Dritter.
Statt echter Selbstkritik nur Ausflüchte
Anfangs veröffentlichte Verhoeven als Reaktion auf die Kritik ein Statement, welches unter anderem auch die AGB von Grindr verwies, in der die Nutzer klar stellen, dass sie sich bewusst darüber sind dass ihre Texte und Fotos auch dann (in der App) eingesehen werden können, ohne dass sich Betrachter_innen bei Grindr registrieren müssen (Paragraph 6 Absatz 1). Die Argumentation: Da die unbeteiligten Fußgänger_innen genauso gut Grindr selber installieren könnten, gibt es keinen rechtlichen Unterschied dazwischen und der Einrichtung eines öffentlichen Grindr-Livestreams. Und ohnehin sei jeder Grindr-Nutzer selber Schuld, wenn er die App verwendet, aber nicht möchte dass diese Menschen potenziell dazu in der Lage sind sein Profil aufzurufen. In den Worten von Verhoeven: “Diese Anonymität [Anm: auf Grindr] ist, meiner Meinung nach, ein Mythos.” Was das besonders ironisch macht: In der gleichen AGB verbietet Grindr den Nutzern, die Applikation auf externen Bildschirmen oder in öffentlichen Räumen auszustellen (Paragraph 5, Absatz 2, Zeile 9). “Wanna Play?” verstieß also eindeutig gegen die gleichen Nutzungsbedingungen, die Kritiker_innen unter die Nase gehalten wurden.
Dabei muss darauf hingewiesen werden dass auch Grindr kein Unschuldslamm ist: Anfang Februar hat der Aktivist Adrian E. versucht, Grindr auf ein gefährliches Datenschutzleck aufmerksam zu machen – es war nämlich möglich die spezifischen Ortsangaben plus Informationen aus dem Profil automatisiert und unauthorisiert aus Grindr heraus zu ziehen. Aus Ägypten und dem Iran gibt es Berichte davon, dass die Polizei Grindr zur gezielten Jagd auf homosexuelle Männer genutzt hat. All das zeigt aber nur stärker, dass die Informationen die aus Grindr gewonnen werden können über Penislängen hinaus gehen – und für die Betroffenen im Zweifel ein großes Risiko darstellen. Gerade im Lichte dieser aktuellen Vorfälle gewinnt die Auswahl von Grindr als Gegenstand dieser Privatheits-Performance einen sehr üblen Nachgeschmack.
Der größte Kritikpunkt, das Verletzen von Persönlichkeitsrechten und die Gefahr des Zwangsoutings, schienen sowohl er als auch die Verantwortlichen des HAU nicht nachvollziehen zu können. So schrieb Verhoeven in seinem Statement, dass es ihm leid tue „wenn Menschen das Gefühl haben sollten, tatsächlich in ihrer Privatsphäre verletzt worden zu sein“. Als später eine eigene Podiumsdiskussion anberaumt wurde (anfangs nur um über das Projekt zu sprechen, später um das Aus zu verkünden) gestand er sich ein, dass er die Profile nicht ausreichend anonymisiert habe. Dass aber ein Kernbestandteil seines Konzeptes, sensible Informationen öffentlichkeitswirksam und ohne Wissen der Beteiligten in Fußgängerzonen zu streamen, ein massives Problem war, hörte mensch nicht. (Antje Schrupp hat übrigens illustriert, wieso das Sprechen von „verletzten Gefühlen“ keinesfalls eine Entschuldigung, sondern das Markieren einer Verweigerungshaltung bedeutet). Und während besagter Diskussion antwortete die Geschäftsführerin des HAUs, Annemie Vanackere, auf die Frage danach, ob sich das HAU im Klaren darüber war in welchem Ausmaß die Performance in die Privatsphäre von Unbeteiligten eingreifen würde, folgendes: “It was clear from the beginning for us that there was no violation of private rights” (es war für uns von Anfang an klar dass es keine Eingriffe in Persönlichkeitsrechte gab).
Auch auf die Frage aus dem Plenum, was passiert wäre, wenn die Eltern eines ungeouteten Mannes sein Gesicht plötzlich in einer Kunstperformance über schwule Sexdate-Apps wieder gefunden hätten, wurde nur sehr ausweichend geantwortet. Entweder haben die Verantwortlichen also wirklich geglaubt, dass ein simpler Bildfilter die Persönlichkeitsrechte von Menschen die nach wie vor einem erheblichen Maß an Diskriminierung ausgesetzt sind, angemessen wahren kann – oder aber, und dieser Vorwurf stand auch bei der Diskussion im Raum, die Verletzung von Persönlichkeitsrechten und die Gefährdung Dritter wurde wissentlich in Kauf genommen. Beides wäre höchst besorgniserregend für eine Institution, die jährlich u.a. mit 4 Millionen Euro vom Land Berlin subventioniert wird. Wieso zum Beispiel Netzaktivist_innen, von denen es in Berlin ja nun wirklich nicht zu wenige gibt, nicht einmal beratend hinzugezogen wurden, ist mir schleierhaft.
Nun ist allerdings Schaden entstanden – zwischen der queeren Community und dem HAU, aber noch viel mehr nicht abschätzbarer Schaden für die Betroffenen. Da das Grindr-Profil von Verhoeven gelöscht wurde, können alle Menschen die mit ihm geschrieben haben nicht mehr nachvollziehen, welche Informationen sie in den Gesprächen preisgegeben und damit unweigerlich gestreamt haben. Auf der anderen Seite haben sich die Pressefotograf_innen kaum Mühe gegeben, die Bilder von der Performance zusätzlich zu verfremden und sie damit in Umlauf gebracht. Und wir können uns glaube ich alle gut vorstellen, dass nicht wenige Fotos vor Ort per Smartphone entstanden sind.
Aus der Perspektive eines Mannes, der einfach planen kann, sich zwei Wochen am Stück in einen Glaskasten zu setzen um dort auf Datingportalen zu surfen, mag nicht viel dabei sein als homosexuell erkannt zu werden. Für Männer allerdings, die sich nicht outen (können) oder von einer Mehrfachdiskriminierung betroffen sind, ist der öffentliche Umgang mit der eigenen Sexualität eine viel zentralere Frage. Und diese untermauert: Es bleibt eine individuelle Entscheidung, wann und wie Menschen den Schritt tun und ihre Sexualität offen ansprechen – nicht die ihres Umfeldes, nicht die ihrer Kritiker_innen und nicht die der Kunst.
Und auch wenn wir in Deutschland eine verhältnismäßig privilegierte Situation vorfinden, bleibt ein Outing risikoreich. Alleine in Berlin wurden 2013 282 angezeigte Vorfälle homo- und transphober Beleidigung und Gewalt gemeldet. Die Wahrscheinlichkeit, dass Grindr-Nutzer auch nach Ende von “Wanna Play?” geoutet und identifiziert werden, ist zweifelsohne gegeben. Pansy berichtete, wie ihr Exfreund ihr Grindr-Profil wortgetreu wiedergeben konnte – obwohl er es nach ihrer Angabe nicht einmal kannte. Und auch für mich persönlich war es einfach, einen Bekannten im Bericht einer größeren überregionalen Zeitung wieder zu erkennen. Hier die Schuld durch die Blume auf die Betroffenen abzuladen ist nicht zielführend, zynisch, und reines victim blaming.
Was wollte uns der Künstler überhaupt sagen?
Sowohl im Statement wie auf der Podiumsdiskussion wurde von Seiten der Verantwortlichen mehrfach versucht, den künstlerischen Aspekt des Projektes hervorzuheben. An dieser gibt es ebenfalls Kritik zu üben: Ausgangsthese des Projektes war, dass Smartphone-Apps für Schwule dafür sorgen würden, dass sich diese aus der Öffentlichkeit zurückziehen. Nachdem sie durch die Schwulenbewegungen in den 70ern und 80ern erfolgreich in die Öffentlichkeit getreten sind und unter anderem über Bars und Kneipen Homosexualtität zu einem sichtbaren Teil der Städte geworden ist, werden diese Institutionen nicht mehr als Orte der Kontaktaufnahme genutzt und manche altehrwürdigen Adressen schließen sogar. Durch die schnelle Liebe über das Internet wird dem schwulen Mann ein neues “closet” schmackhaft gemacht – eines, in das er sich nicht zurückzieht um den Normen einer homophoben und heteronormativen Gesellschaft zu entsprechen, sondern weil er sich dann hinter Apps und einem konstruierten, sexualisiertem anderen Ich verstecken könne. Und natürlich leidet auch die emotionale Fähigkeit darunter. Daher auch der Untertitel “Liebe in Zeiten von Grindr”. Übrigens ist das kein neues Phänomen. Auch das das Datingportal GayRomeo wird seit den Nullerjahren immer mal wieder in Kommentarspalten und Nebensätzen für das “Szenesterben” und den vermeintlichen Rückzug des schwulen Mannes in das Private verantwortlich gemacht. Schwul weggehen kann mensch immer noch.
“Wanna Play?” sollte als Gegenentwurf dazu verstanden werden. Verhoeven wollte Grindr zur Abwechslung nicht für Sex benutzen, sondern sich über die App zu anderen Dingen verabreden, Kuchen backen zum Beispiel. Und um den Schleier der “vermeintlichen Anonymität” zu lüften und der Öffentlichkeit die, wie er es bei der Podiumsdiskussion nannte, “Backside of the Internet” (Rückseite des Internets. Was für ein Wortspiel.) zu präsentieren, entschied er sich für den Glaskasten. Mein liebstes Feature waren übrigens die Gardinen die deshalb dort installiert wurden, weil dem Künstler ein Anspruch auf Privatsphäre zugestanden wurde.
An und für sich ist es ein interessantes Unterfangen und die Frage danach, wie wir unsere Beziehungen, Freundschaften und Sexualität über das Internet neu verhandeln und einen Umgang mit ihnen finden bleibt immer noch nicht ausreichend beantwortet. Dass nicht alles den Bach runter geht, zeigte ein Einwurf auf der Podiumsdiskussion, bei der ein Mann wütend aufstand, auf seinen Sitznachbar zeigte und stolz rief, dass er seinen Partner auf Grindr kennengelernt habe und Verhoevens Kulturpessismus beiden absprechen würde, eine echte Beziehung führen zu können. Auch scheint seine These keinen Raum dafür zu lassen, dass gerade Internettechnologien zu einer unschätzbaren Vergrößerung von Solidaritätsnetzwerken geführt haben und der Selbstentfaltung dienlich sein können. Auf schwule Medien bezogen kam die Medienforscherin Nele Heise einer explorativen Analyse von Gayromeo zu dem Schluss, dass diese Plattform “eine demarginalisierende Wirkung haben kann”. Auf der Podiumsdiskussion sprach außerdem ein Teilnehmer an, dass Grindr für schwule Iraner eine wertvolle Möglichkeit darstellt, aus den gegebenen Konventionen auszubrechen und sich wirklich auszuleben. Aus ähnlichen Gründen gibt es auch Kampagnen wie “Power On” bei der benutzte Laptops, Tablets und Smartphones gespendet und an LGBTQ-Einrichtungen weitergegeben werden – denn gerade für Jugendliche die nicht heterosexuell sind, bedeutet der Zugang zum Internet zugleich den Zugang zu Informationen und Netzwerken. Ich persönlich wüsste nicht, wie mein eigener Outingprozess ohne das Internet verlaufen wäre. Im Internetzeitalter zu leben ist ein unschätzbares Geschenk für Menschen, die durch die Mehrheitsgesellschaft marginalisiert werden.
No sharing is caring too
Die Performance erinnerte mich frappierend an die Ausstellung „No Delete“ des Künstlers XVALA. Dieser wollte in der Cory Allen Contemporary Art-Galerie in Florida als vermeintliches Statement für mehr Privatsphäre und Datenschutz die gehackten Nacktfotos von Jennifer Lawrence und Kate Upton ausstellen. Nach großem Protest entschied sich XVALA zwar dazu, diese Bilder nun durch eigene Nacktfotos zu ersetzen. In beiden Fällen ist es ein Zeichen für sich, dass es angesichts der klaren Konzeption der Projekte überhaupt erst zu Protest kommen musste und nicht bereits in der Planungsphase interveniert wurde. Außerdem wird nach wie nicht anerkannt, dass die Verbreitung solcher Bilder in sich eine Misshandlung der Abgebildeten darstellt – stattdessen wird auf das größere Ganze verwiesen. So verdreht sich das brutale Aufbrechen der Intimität zum vermeintlich notwendigen Kollateralschaden im edlen Kampf für die richtige Sache. Und geeint sind beide Fälle darin, dass Menschen der Meinung waren, dass sie bestimmte Dinge problemlos mit der Öffentlichkeit teilen können um ein politisches Statement zu untermauern – und diese Dinge waren in beiden Fällen Informationen, die relativ einfach zur Verfügung standen und damit quasi als öffentlich galten.
In Fall “Wanna Play?” kommt jedoch dazu, dass der Künstler selber Nutzer von Grindr war bzw. ist. Er gehörte also bereits zu der gesellschaftlichen Gruppe, die dieses Tool benutzt und hat aus dieser Position heraus entschieden, die App zu einem zentralen Gegenstand einer Kunstperformance zu machen. In dem Moment aber, als Grindr nur noch als eine App wahrgenommen wurde die sich über den physisch erfahrbaren Raum legt und ihn mit spezifischen Informationen anreichert, nicht aber auch als ein Kommunikationsinstrument welches marginalisierte Gruppen nutzen, wird die App weniger als geschützter(er) Raum wahrgenommen – auch von innen heraus. Das ist ein Phänomen, dass wir auch auf Twitter oder in schwulen Facebook-Gruppen beobachten können: Dort werden regelmäßig Chatprotokolle oder Profile von anderen Nutzern (GayRomeo, Grindr, …) herumgezeigt. Das kann durchaus sinnvoll sein (Warnung vor Fakern oder übergriffigen Nutzern), dient aber oft dazu, die entsprechende Person bloß zu stellen – oft mit Foto, Nickname und weiteren persönlichen Informationen. Auch Grindr spielt dabei eine Rolle: Es gibt ganze Grindr-Tumblrs, und einer der Bekannteren widmet sich ausschließlich Menschen, die auf ihren Profilfotos im Holocaust-Mahnmal Berlins posieren (aus Gründen bleibt das nur erwähnt, nicht verlinkt). Die Kritik der Selbstinszenierung für eine Datingseite in einem Mahnmal des industriellen Massenmordes ist die eine Sache, das komplett unanonymisierte Heraustragen von sensiblen Informationen ist die andere. Am Beispiel von “Wanna Play?” sehen wir, wo das Gefahrenpotenzial liegen kann, wenn diese Abwägung nur einseitig vorgenommen wird. Datingportale sind keine Glashäuser. Hier müssen wir uns viel mehr Fragen, wie wir untereinander verantwortungsvoll miteinander umgehen können – und ob es auch manchmal Sinn machen kann Dinge die nur einen Mausklick entfernt sind, nicht mit allen zu teilen. Vielleicht kann das ja Bestandteil einer Ethik des Nicht-Teilens sein, die Leitmedium notiert hatte. Das halte ich in diesem Kontext für einen spannenden Gedanken.
Schlusswort
Die öffentliche, ungefragte Zurschaustellung geschützter Räume und Intimität ist ein Übergriff. Nichts weiter. Da kann der Anspruch noch so subversiv und kreativ sein. Da kann sich der Anspruch noch so oft emanzipatorisch verorten. Wenn im Namen von Privatsphäre und Gesellschaftskritik Räume ohne Zustimmung der Menschen die sie nutzen geöffnet werden, dann ist das ein gewaltvoller Akt, der für die Beteiligten unkalkulierbare Gefahren mit sich bringen kann. Es ist zynisch, der Frage von emotionaler Verletzlichkeit in unserer durchdigitalisierten Gesellschaft mit einer Kunstaktion näher kommen zu wollen, deren grundlegende Funktion darin besteht, im Intimsten von marginalisierten Menschen herum zu wühlen. Selbstverständlich werfen Internettechnologien Fragen auf, mit denen wir uns als Gesellschaft konfrontieren sollten; Denn hier geht es letzten Endes um die Verantwortung, die wir füreinander übernehmen, über den Umgang mit Räumen die bewusst nicht allen Menschen offen stehen und den Respekt, den wir anderen Menschen gegenüber in Wort und Tat entgegen bringen wollen.
Ich stimme dir ja größtenteils zu, aber nicht in dem Punkt, dass es für die Bewertung unter Datenschutz-Aspekten irgendwie relevant wäre, welche Sexualität die Betroffenen haben. Ich fände die Aktion mit Tinder, wo sich ja vermutlich überwiegend Heteros daten, genau so schlimm.
Vom Datenschutzaspekt finde ich es genauso problematisch. Aber bei MSM steht einfach nochmal mehr auf dem Spiel. Kaum ein Heteropaar muss fürchten, deswegen ein paar auf die Fresse zu kriegen. MSM dagrgen schon, und das macht es IMO deutlich schlimmer.
Danke für diesen Artikel!
Ich bin nicht schwul, daher kann ich darüber nicht sprechen. Ich bewege mich in der SM Community, und wenn ich mir vorstelle, dass meine Kommunikation in diesem Rahmen auf einer LED Wand stehen würde — auch wenn es nur um Kuchen geht — dann erschaudere ich.
Die Argumentation des Künstlers erscheint mir auch weit hergeholt, und anmaßend dazu. Wenn ich mit schwulen Freunden in Szenekneipen gehe, dann tun sie das nicht primär, weil sie dort irgendwen aufreissen wollen. Sondern weil — solange das nicht überall so ist — es dort einen „Safe Space“ für sie gibt.
Als BDSMler kann ich mich gut tarnen. Niemand sieht, was meine Partnerin und ich machen. Schwule und Lesben können das nicht, oder nur unter erheblichen Schmerzen.
Mir scheint, als würde Verhoeven schwul-sein alleine auf den sexuellen Akt anbahnen. Schwule wollen bestimmt auch zusammen ausgehen, tanzen, essen, trinken. Und sicher wollen sie vor allem auch zusammen wohnen, einkaufen, in Urlaub fahren, vielleicht auch Kinder grossziehen.
Dass Grindr dazu führt, dass Safe Spaces auf einmal unnötig werden, weil — plöps — dadurch, dass die Anbahnung von Beziehungen jetzt mit einer App passiert, auf einmal jede Diskriminierung wegfällt, das ist mir nicht eingängig.
Dass hier niemand vorher laut „STOP!“ gerufen hat, verstört mich am meisten
„wenn ich mir vorstelle, dass meine Kommunikation in diesem Rahmen auf einer LED Wand stehen würde — auch wenn es nur um Kuchen geht — dann erschaudere ich.“
Passiert doch. Du kriegst nur nichts davon mit:
http://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/bild-991496-751414.html
Die „Kunst“Aktion war ziemlich daneben, das steht außer Frage – es wurden letzlich Einzelne bloßgestellt, um ein Problem aufzuzeigen. Doch das gesellschaftliche Problem dahinter ist ja durchaus existent: wie geht man damit um, dass Informationen plötzlich von Einzelnen weltweit verfügbar gemacht werden können? Ohne das Netz konntest du auch intime Informationen weiterplaudern, aber du hattest nie eine sonderlich große Reichweite. Das war schon damals ein Angriff auf die Privatssphäre, ein Übergriff, aber in seiner Reichweite begrenzt, und es wurde maximal in den Köpfen der Empfänger archiviert.
So positiv das Netz auch ist, dass sich einzelne Menschen nun mit ihren Ideen durchsetzen können, die früher nie die Reichweite bekommen hätten, so problematisch ist es doch auch, wenn private Informationen verbreitet werden. Gerade Netzpolitiker lachen immer über Funktionen wie Chats mit Haltbarkeit von Bildern (welche sich anschließend löschen), aber die Frage ist doch: welche Mechanismen soll man sonst wählen? Wie will man verhindern, dass außerhalb einer Szene, wo man auf Privatssphäre achtet und Übergriffigkeiten verachtet, einzelne das Netz missbrauchen, um Öffentlichkeit dort zu schaffen, wo Privatssphäre angebracht wäre? Wie stoppt man Informationen im Netz?
Ich habe darauf keine Antworten. Aber das Problem, das sehe ich. Und zwar nicht nur im kleinen Ausmaß. Als Datenschützer fühlt man sich da zeitweise echt hilflos, wenn kleine Verhoevens ohne zu zögern private Kommunikation weiterverbreiten.
Oh, und so nebenbei – fast schon eine Ironie, dass das eine Kunstaktion war. Teile des Textes klingen den Beschwerden einer ganz anderen Gruppe sehr ähnlich. Und zwar einer bestimmten Gruppe Musiker. Auch die haben das Problem, dass etwas sehr persönliches – ihre eigene Kunst – unkontrolliert weitergegeben und kopiert wird. Auch sie empfinden als ein Angriff auf ihre Kunst und damit auf sich selbst. Unter diesem Gesichtspunkt ist eine Kulturflatrate plötzlich nicht mehr so toll, wie sie aus rein pragmatisch-netzpolitischer Sicht klingt.
Ich kann dem Artikel überhaupt nicht zu stimmen. Ja, es ist schon richtig, dass hier Personen ungefragt in die Öffentlichkeit gezerrt werden. Dass sich ihnen fremde Menschen in die Privatsphäre drängen und dass es sich hier um keinen krassen Vertrauensbruch handelt. Es ist absolut richtig, dass dieses Verhalten im Rahmen der geltenden Gesetze eben diese verletzt und dies auch der Kunst nicht erlaubt ist. Doch in einer Gesellschaft in der die vollständige Speicherung aller digitalen Kommunikation nachweislich durch Geheimdienste zahlreicher, moderner Länder durchgeführt und mit Unterstützung der Regierung durchgesetzt wird, braucht es genau solche Beispiele um dazu jedem einzelnen erfahrbar zu machen, was gerade, jetzt in diesem Moment mit jeder Tastendruck passiert. Großartige, weil Zeit gemäße Kunst als wirksame Reflexion unserer Gesellschaft.
Moin!
Ich stimme zu dass Performance-Kunst die Überwachung und Privatheit in den Blick nimmt in ihrer Aktualität und Wirkungsmacht sicherlich zum Zeitgeist passt und dort auch wichtige Aspekte setzen kann, das war aber nicht der Anspruch von „Wanna Play“, wie auch in der Podiumsdiskussion deutlich wurde. Datenschutzfragen wurden entweder relativiert oder abgewiegelt. Die Intention des Künstlers, die auf diskussionswürdigen Thesen über Emotionalität und die Entwicklung der Community basierte, beinhaltete nicht im Entferntesten eine echte Debatte um Persönlichkeitsrechte und Datenschutz in schwulen Datingportalen. Und dass bis zum Ende nicht eingesehen wurde, dass diese Komponente der Performance-Kunst weitaus stärker war als der selbstgewählte künstlerische Anspruch, das ist das was mich so geärgert hat.
LG
Jan
Ich kann deiner Sichtweise überhaupt nicht zustimmen. :D
Deine Auslegung von “Wanna Play?” erfordert, das sowohl der Künstler als auch das Publikum sich einig sind, dass die Aktion gegen den Überwachungsstaat gerichtet ist und das auch klar so thematisieren. Andernfalls (wie hier geschehen) hat solche Kunst sogar die gegenteilige Wirkung, in dem es Überwachung alltäglicher erscheinen lässt. Natürlich hat jeder seine eigene Interpretation, entscheidend ist aber, was bei der „Masse“ ankommt.
Abgesehen davon ist das „erfahrbar machen“ von bedenklichen Entwicklungen immer ein sehr schmaler Grat: Wenn ich demonstrativ die Privatsphäre verletzen darf, um zu zeigen wie wichtig (mir) Privatsphäre ist, darf ich dann auch sexistisch/homophob handeln, um zu zeigen wie schlimm Sexismus und Homophobie sind? Und: verletze ich damit nicht meine eigenen Prinzipien?
[…] gehört aus gutem Grund nicht in die Öffentlichkeit. Sich darüber hinwegzusetzen, mag Kunst sein, ist aber in diesem Fall (in meinen Augen) schlicht […]