abgedichtet (3)

Foto , CC BY-NC-ND 4.0 , by Lena Reinhard

Dies ist ein Beitrag aus unserer kleinen Kleinerdrei-Poesie-Reihe „Gedichte lesen“. Die vorherigen Teilen dieser Reihe stammen von Daniel und Nicole.

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An den Wänden in meiner Wohnung klebt Raufasertapete. Festgekleistert in langen Bahnen, manche überlappend, andere mit großem Abstand, oft wellig und mit Spuren vom mehrmaligen Überstreichen. Weiß muss sie einst gewesen sein, jetzt ist sie in den Raumecken verstaubt. Ganz oben, wo ich nur mit einem langen Besen hinkomme, da wohnen in ein paar Ecken Spinnen.

Raufaser ist okay.

An den Wänden in meiner Wohnung kleben Gedichte. Ausgesucht, abgetippt und ausgedruckt, ausgeschnitten zu kleinen Zetteln, festgeklebt auf Raufaser mit Tesafilm hängen sie dort schon seit Jahren, sind über die Zeit eine Verbindung mit ihrem welligen Untergrund eingegangen. Manche hängen mitten auf der Wand, andere verstecken sich an Türrahmen oder hinter Wäscheleinen und blinzeln dahinter hervor, wenn ich gerade Wäsche aufgehängt habe. Sie sind ganz unauffällig, kleine Schrift auf hellem Hintergrund auf weißer Tapete. Oft denke ich nicht an sie, und sie sind leicht zu übersehen, dann gehe ich an ihnen vorbei. Manchmal aber bleibe ich stehen, sehe sie mir wieder einmal an, oder setze mich unter einem von ihnen auf mein Sofa.

Gedichte sind gut.

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Ich lese Gedichte

Und ich mag Gedichte.

Das mit den Gedichten und mir fing vor vielen Jahren an und zwar damit, dass im Bücherregal meiner Eltern ein Buch mit ziemlich kitschigen Gedichten stand. Den Namen der Autorin oder des Autors habe ich längst vergessen, aber mit diesem Buch fing ich an, mich für Gedichte zu interessieren. Ich lieh mir Gedichtbände in der Bücherei, las Klassiker (Fest gemauert in der Erden /„), lernte mit großer Begeisterung für den Deutschunterricht ein Gedicht nach dem anderen auswendig.

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Irgendwann fing ich selbst an, Gedichte zu schreiben. Erst Reime und kleine Wortspielereien, später viele, viele Liebes- und Herzschmerzgedichte. Ich fing an, das Schreiben als gute Ausdrucksform für mich zu entdecken, mit Sprache zu spielen und neue Formen zu entdecken. Bis heute dauert mich, dass ich all diese Gedichte irgendwann zerriss und wegwarf, zu einem Zeitpunkt, als ich meine Pubertät für beendet erklärte (dass das nicht so ganz der Realität entsprach, ist eine andere Geschichte).

Geschichte, gedichtet

Gedichte waren über Jahre hinweg wichtiger Bestandteil dessen, was ich im Internet gemacht und veröffentlicht habe. Die ersten Texte, die ich ins Internet schrieb, waren Gedichte. Sie alle stehen noch online, einige davon mag ich immer noch sehr (sie werden hier dennoch nicht verlinkt).

Gedichte waren auch Teil dessen, welche Menschen ich online kennengelernt habe, und wie ich sie kennengelernt habe. Mit einigen habe ich über Wochen und Monate hinweg Nachrichten hin- und hergeschickt, darunter unzählige Gedichte. Die Nachrichten habe ich längst nicht mehr, doch die Gedichte sind geblieben. Die, die ich bekommen habe, habe ich alle in einer Datei gespeichert. Als ich diesen Text schreibe, öffne ich sie nach vielen Jahren zum ersten Mal wieder, blättere durch die Seiten. Heine, Rilke, Goethe, Brun, Hippius, Kästner und viele weitere; dann französische Gedichte, bei denen ich die Namen der Dichter_innen nicht mehr finden kann. Und doch, sofort ist die Erinnerung wieder da: an die Menschen, die sie mir schickten, die Orte, an denen ich war, als ich diese Gedichte zum ersten Mal las, und bruchstückhaft die Ideen, die mich damals umtrieben.

Diese Gedichte sind wie eine Zeitreise für mich. Selbst wenn sie nie zu meinen Lieblingsgedichten wurden, sind sie doch so stark mit Erinnerungen verknüpft, dass sie mich immer noch bewegen. Vielleicht haben wir Menschen ähnlich dem Geruchsgedächtnis auch ein Gedichtgedächtnis.

Schrift(arten)

Ich habe ein Faible für gutes Design und Formen. Ich sehe Formen, Winkel, geometrische Figuren, bevor ich Details erkennen kann (besonders dann, wenn ich meine Brille nicht trage). Gutes Design folgt dem Lehrsatz „Form follows Function“ („Form folgt Funktion“), – das Design ordnet sich dem Zweck unter, dem es dient. Deshalb verändert Design noch lange nicht den Inhalt eines Gedichts – Wörter, Satzbau, Sprache bleiben, unabhängig davon, ob das Gedicht in Handschrift auf einem Zettel oder in großen Lettern auf einem Plakat steht. Doch es kann seine Wirkung beeinflussen, es kann ein Gedicht gut oder schlecht lesbar, leicht oder schwer zugänglich machen, und das ganz egal, ob das Gedicht nun gedruckt oder im Internet veröffentlicht wird.

Design als Gestaltungselement ist häufig Bestandteil von Gedichten. Eine der wichtigsten Formen von Design ist in diesem Kontext Typographie.

Ich mag Typographie. Schöne Schriftarten und -familien, gute Zeilenabstände, Kerning und ein ordentlicher Schriftsatz. Für mich fügt gute Typographie als Teil von Design Gedichten noch eine Ebene hinzu: eine Ebene, die sie noch besser wirken lässt, und die Gedichte zu etwas macht, worauf die Augen verweilen können.

Kopflos

Wahrscheinlich liebe ich Gedichte deshalb so sehr, weil ich das Schreiben liebe. Weil ich selbst so oft mit Wörtern und Worten kämpfe, mit Formulierungen, damit, die Wolken in meinem Kopf zu kanalisieren, zu reduzieren, zu formulieren, zu Papier oder auf einen Bildschirm zu bringen. Als ich vor einiger Zeit wieder anfing, Songtexte zu schreiben, nahm ich als Basis für die ersten Texte einige Gedichte, die ich viele Jahre zuvor geschrieben hatte.

„Sie sprachen davon daß wir
beide eigentlich Himmelskörper sind“.

Diese Zeilen sind aus „Requiem für einen gerade erst eroberten Planeten mit intensiver Strahlung“ von Silke Scheuermann, und es ist bis heute eines meiner Lieblingsgedichte. Gedichte wie dieses waren und sind für mich deshalb so gut, weil sie sagen, was zu sagen ich selbst nicht in der Lage bin. Sie sind Stellvertreter und doch, wenn ich sie zitiere, ist es, als wären diese Worte ein Teil von mir.

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Deshalb müssen für mich Gedichte nichts. Das ist recht banal, denn am Ende läuft es doch auf ein Müssen hinaus: für jedes neue Gedicht, über das ich stolpere, muss die Frage beantwortet werden, ob das Gedicht etwas kann. Und etwas können muss es ganz allein für mich, und diese Frage muss es auch nur für mich beantworten. Wenn es für mich gut ist, für einen Moment, einen Tag oder ein paar Tage mehr, ist das schon mehr als ausreichend. Und es gibt genug Gedichte, die einfach nur auf den richtigen Zeitpunkt warten, und plötzlich bewegen sie mich eben doch.

Der Zugang, den ich zu Gedichten finde, ist meist ein recht kopfloser. Gedichte lesen passiert für mich oft wie das, was man an unbekannten Gewässern auf keinen Fall tun sollte: mit dem Kopf voraus ins Ungewisse springen. Manchmal ist das, worin ich dann eintauche, ein ruhiges Becken, in dem ich kurz schwimme, und aus dem ich dann auch schnell wieder herausklettere. Aber manchmal erwischen mich Gedichte eiskalt: zerren mich in sich hinein, nehmen mich mit und lassen mich für eine ganze Weile nicht mehr los. Weil es Gedichte sind, die genau zu mir, einem Moment, einem Gedanken oder einem Gefühl passen, die sich einfügen an einer Stelle, an der etwas fehlte, oder die (und das häufiger) mich erst bemerken lassen, dass da etwas fehlt.

abtropfen

wenn unsre lippen augen haben hör
besser auf mich anzusehen […]

(Albert Ostermaier)

Und nun

Im letzten Jahr habe ich nur wenige Gedichte gelesen, bis auf die, die an meinen Wänden hängen. Aber wenn ich’s mir genauer überlege, sind mir viele Gedichte ein wenig wie Freund_innen geworden. Freund_innen, die ich selten sehe, aber die nie ganz weg sind.

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Albert Ostermaier werde ich wahrscheinlich noch lange gerne lesen (zum Beispiel o.m.u., und mississippi hängt in meinem Hausflur), Silke Scheuermanns Gedichte mag ich, die von Gyrdir Eliasson, dann wären da zum Beispiel noch T. S. Eliot, und genauso beeindrucken mich immer noch einige Gedichte, die deren Autor_innen nur Freund_innen gezeigt haben.

An den Wänden in meiner Wohnung hängen Gedichte. Lange Gedichte, kurze Gedichte. Kleine Gedichte, große Gedichte. Und manchmal, da stelle ich mir vor, wie diese Gedichte zum Leben erwachen. Nachts, wenn ich schlafe. Wie dann die Worte übers Papier wandern, über seinen Rand hinaus und die holprige Raufasertapete entlang kriechen. Wie sie die Wände erobern, die Zimmerdecke, durch den Türrahmen klettern. Wie eines von ihnen sich auf dem Sofa einmummelt, ein paar andere durch die Wohnung in meinen Kopf und meine Träume kriechen, und einige durch ein geöffnetes Fenster die Flucht nach draußen wagen, hinaus in die nachtschlafende Stadt.

Denn das ist es, was Gedichte für mich sind, und was sie können: Gedichte sind das Leben in komprimierter Form, sie sind eine der schönsten Formen, die Sprache annehmen kann. Und sie gehören nach draußen: in die Wildnis, und in die Leben der Menschen.

Oder, wie Jake es in Adventure Time sagte: „You don’t just read poetry, you have to feel it.“ („Du kannst Gedichte nicht nur lesen, du musst sie fühlen.“)

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