Wunderkammer
Seit Teenagertagen träume ich mich an einen Ort, den es nicht gibt, der eher eine Idee ist. Abgeschieden, klein, ohne Ablenkung. Wie ich auf die Idee kam, ist nicht die coolste Geschichte der Welt. Mit 13 las ich ein Buch einer Wicca, in dem eine Initiationsritus für Jugendliche beschrieben wird. Genau erinnere ich mich nicht, hängen geblieben ist das: Bevor man in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen wird, soll man ein paar Tage in einem Haus im Wald abhängen und fasten, die Zeit alleine mit den eigenen Gedanken verbringen und meditieren. Der Text versprach sowas wie eine Erweckung, dass in dieser Zeit irgendwas Spirituelles passieren würde, ich fand das einleuchtend und dachte mich ab und zu in so ein Waldhaus, zu dem ich in echt keinen Zugang hatte. Was würde ich tun? Die Langeweile nutzen und schreiben? Oder wäre Schreiben nur eine Ablenkung und ich müsste mich für die Erleuchtung der Langeweile komplett aussetzen? Oder würde ich vor Langeweile schlafen und mögliche Erkenntnisse verpennen?
Playing House
Fast Forward. Ich bin nicht religiös, mein Interesse an Esoterik ist wenn überhaupt ein soziologisches. Aber die Idee einer Hütte, die hab ich immer noch gern. Hänge gerne vor Seiten wie CabinPorn (Safe For Work) oder schaue mir Bilder von Tiny Houses an und denke mich da hinein, aus vielen Gründen. Ich sehe gerne wie Sachen gebaut sind, mag es, mir auszumalen, wie es ist, Räume zu bewohnen, wie sie sich einrichten lassen. Oder sie sind schon eingerichtet und ich stelle mir vor, wie ich an einem Fenster sitze und schreibe, oder meinen Kram in den den überschaubaren Räumen unterbringe, wie der Ausblick sich von der Schlafgelegenheit aus anfühlt. Es ist nutzlos, aber schön.
Ich habe ein Schreibzimmer, an Raum fehlt es mir nicht (immer an Virgina Woolf denken, “A woman must have money and a room of her own, if she is to write”), das Zimmer ist groß und voller Zeug. Ein Zimmer ist keine Hütte, der Raum hinter einer anderen Tür der gleichen Wohnung ist nicht abgeschieden. Und wo ist das Abenteuer?
Tschüssikowski Komfortzone
In einer Regionalfernsehsendung eines unbestimmten Bundeslandes sah ich mal einen Bericht über einen Kirchturm, in dem es ein minikleines Zimmer gibt, in dem man schlafen und von ganz oben weit über die Stadt, an die ich mich jetzt nicht erinnere, gucken kann. Das fand ich toll, aber es war nicht um die Ecke und ich vergaß die Details. Dann verlinkte Antje Schrupp dieses Angebot . Ein beschlafbares Kirchturmzimmer in Frankfurt!
Der Turm der Diakoniekirche Weißfrauen wurde saniert und von der Künstlerin und Mainzer Kunstprofessorin Andrea Büttner nach dem Vorbild dessen, wie der Turm früher aussah, gestaltet. Zusätzlich entwarf sie ein Meditationszimmer im zweiten Stock des Turms.
Das Zimmer sieht mir in echt größer aus als auf Fotos. Ich finde es erstaunlich schön, freue mich angekommen zu sein, packe aus und schaue mir alles ganz genau an. Bevor ich packte, dachte ich darüber nach, was ich tun wollte und nahm mir keine Arbeit mit. Etwas zu schreiben ja, nebst Schlafkleidung, Zahnbürste, Kamera und anderem Kram. Aber nichts, was mit einer To-To-Liste zu tun hat. Auch kein Strickzeug.
Sicher bekäme ich hier ohne Ablenkung und Internet viel geschafft, aber je weniger vorgenommen ist, umso mehr ist vielleicht möglich, dass etwas tatsächlich geschafft werden kann. Es passieren lassen. In Sachen Schreiben hatte ich das zu lange nicht mehr. Etwas schreiben ohne Deadline und Zweck. Beobachten, just for the sake of it. Weil es schön ist, nicht weil es soll.
Das ist tatsächlich der Raum, den ich suchte. Erhoben, abgeschieden, obgleich mitten im Bahnhofsviertel einer Großstadt. Es gibt etwas zu sehen und gerade nicht zu viel, um ausreichend in sich reinzuschauen zu können. Es hängt kein Kreuz hier, obwohl die Kammer Mönchzimmer heißt, obwohl das Zimmer in einem Kirchturm ist, bin ich nicht falsch hier, sondern willkommen.
Um 16 Uhr bin ich noch rechtzeitig da, um im Westen von der Sonne geblendet zu werden, ehe sie hinter Kirchengebäude und Hinterhaus verschwindet. Ein neues Zimmer, das stark nach Holzschutzmittel riecht. Baumarktglück. Ich darf die erste sein, die hier übernachtet und bin ein bisschen aufgeregt.
Sich an den Schreibtisch setzen, einer zweispurigen Einbahnstraße zusehen zu können, das ähnelt dem Blick auf einen Fluss aus Wasser. Im Schreiben in Bewegung bleiben.
Die Tür nach draußen aufmachen. Da ist ein Spalt zwischen Turmgitter und Holzkammer, wie eine Terasse. Das Zimmer ist höher als der Betonboden, auf dem es sitzt. Ich setze mich auf die Türschwelle und lasse die Beine auf den Boden baumeln.
Das Rauschen der Blätter, der Räder
Die Nacht ist gut beleuchtet. Immer wieder: Wie schön es hier ist. This is a cabin. Mitten in der Stadt, eine kleine Holzhütte. Ein Baumhaus, nur mit Turm.
Tisch, Stuhl, Bett.
Fenster, Terasse, Gardinen.
Regal, Ablage, Schrankfach.
Steckdose, Nachtlicht, Glühbirne.
Kissenstickerei, Kolder, Polsterlehne.
Holzschutzdämpfe, Ausblick mit Wind.
Vom Bett aus auf die lange Zunge, die aus dem Theatertunnel führt, gucken. Wie die Straße rauscht. Ich will mich nicht ablenken, ich könnte, weil ich mein Smartphone als Uhr mitnahm, aber ich will nicht und das ist Arbeit. Die Laternen machen die Straße unbeschlafbar, ich vermute Büros drumherum. Hinter den Fenstern kein Licht. Noch ziehe ich die Gardinen nicht zu, noch will ich gucken. Es gibt etwas, das heißt Babywatching, da guckt man dem eigenen Baby mal zehn Minuten zu, ohne es anzufassen oder zu bespielen, man guckt nur, was es macht und lernt davon irgendetwas. Hier könnte ich etwas ähnliches mit mir selbst tun. In mich reinhorchen, mir zugucken, ohne Ablenkung und Spiel. Meine Nasenspitze ist ein runder Eiswürfel. Was mir fehlt ist Wasser, aber da muss ich die Treppe runter und raus und durchs Freie ins Haupthaus mit der Küche. Plötzlich grusele ich mich im Dunkeln. Schlaf ich jetzt und stehe früh auf, wenn die Sonne sich anschleicht? Ich bin bestimmt müde. Und ich will den Sonnenanbruch nicht verpassen.
Ein Taxi blinkt. Und blinkt und blinkt. Die Straße rauscht mit den Autos, die über sie fahren. Manche Autos machen, dass es unter meinem Bett bebt. Erinnerung an das Dachzimmer in Hildesheim, in dem der Boden wackelte, wenn der Bus vorbei fuhr, ich in den Füßen spüren konnte, wenn ein Mensch im Keller Gewichte hob und fallen ließ. Wenn hier ein Motorrad vorbeibraust, vibrieren meine Füße auf der Matratze.
Lüften hilft nicht gegen die dicke Luft, hat Friergrenzen. Es ist frisch, ich kann es mir warm machen. Tür zu. Dieses Zimmer muss noch eingelebt werden mit den Gerüchen vieler Menschen, deren Atem die Holzschutzmittelreste fortwäscht.
Unter dem Turm führt ein Straßendurchgang lang, da kann man durchgehen. Und da verbringen Menschen die Nacht oder einen Teil der Nacht. Die mutmaßlich keine andere oder keine angenehmere Schlafgelegenheit haben. Sitzen mit Schlafsäcken da und hören Radio. In den wenigen Grünflächen in der Gegend liegen Menschen und schlafen. Einer hat eine richtige Matratze, die lehnt an einem dünnen Baum. Einige liegen in Gruppen, unterhalten sich. Zwei Stockwerke unter mir liegen also Menschen, mutmaßlich wohnsitzlos. Und ich liege hier, zwei Stockwerke drüber und habe andernorts, eine gemütliche halbe Stunde Fußweg entfernt, zwei Betten, eine Matratze und ein Sofa als Schlafgelegenheit zur Verfügung. Privilege galore. Sitze in einem schicken Extraangebot, das nicht für Menschen in Not gedacht scheint, sondern für die, die es nicht benötigen. Aber ich weiß wenig über die Bedürfnisse von Wohnsitzlosen. Möchte nicht meine Vermutungen in sie reinlesen. Hier auf diese Gedanken zu kommen kommt nicht von ungefähr. In der Kirche selbst ist ein Tagestreff für Wohnungslose, um die Ecke ist das Diakoniezentrum WESER5. Mein Drübernachdenken ist erst an einem Anfang.
Trotz Autorasen eine Stille, die die Ohren Knistern macht. Gut hinhören, wie Kaffeesatz lesen in meinen Ohrmuscheln. Den Vorhang zuschieben und schlafen.
Augenschau
Ein guter Ort, um nachzudenken, um Gedanken treiben zu lassen; mit jedem Auto, das vorbei rauscht, werden sie angeschubst. Nicht überfahren. Es läuft alles weiter, ohne Holpern. Mönchzimmer heißt es. Was bedeutet das? An Luther denken: Ein Raum, der vor Verfolgung schützt? Und ein Studierzimmer. (Und wenn ich an Luther denke, an seinen Antijudaismus denken. Well.) Und das schwere Lärchenholzgitter drum suggeriert Gefängnis, dabei kann man durch die Löcher fallen. Da schwirren so viele Unterhaltungen in meinem Kopf rum, z.B nie abgeschlossene Internetunterhaltungen, die ich sah. Ich will sie abschütteln. Keine neue Idee sowas, aber: Pause machen. Pause. Ich will mehr allein sein, und zwar richtig und konzentriert. Früh aufstehen können und mit warmem Getränk auf dem Balkon sitzen. To make a habit of it. Nachdenkräume finden und feiern.
Lastwagen fahren vorbei, manchen kann man in die Ladung gucken wie in einen offenen Mund beim Spaghettiessen. Morgens zieht es und ich bin wegen der letzten warmen Tage nicht so super mit Kleidung ausgerüstet, habe eine kleine Tasche und keine dicken Socken mitgenommen, mümmele mich in die Decke ein. Ich könnt ja auch drinnen nachdenken, bei geschlossener Terassentür, aber mich zieht’s ins Offene. Ich will voller Lust sein und leicht. Ich will mehr schreiben. Die Nacht ist die Stadt auf Durchfahrt. Dann kommt die Sonne raus. Sie kommt so schnell, sie ist einfach da. Augen auf, der Nachthimmel ist blass geworden. Einmal blinzeln, der Tag ist fast hell. Zweimal blinzeln, die Sonne blendet.
Es ist frisch wie kalt und ich bin müde an den Augenrändern. Zurück von der offenen Tür, über deren Rand ich meine Beine auf den Betonboden baumele, währen der Wind und die kalte Luft zwischen dem Holzgitter durchklettern und es sich im Zimmer gemütlich machen.
Jetzt im Bett in die Kolder gewickelt, die Bettdecke drüber. Das Kissen lehnt am schmalen Fenster und es ist schön, dass das Fenster einen niedrigen, aber tiefen Rand hat. Eine Art Fensterbank, auf der man lehnen kann. Auf der mein Ellbogen beim Schreiben Platz hat. Und Zeug natürlich auch, das Teeglas, das Notizbuch, die große, schwere Kamera. Es ist interessant, dass wenn man aus dem Bett schaut, sich nicht schwebend fühlt wie in einem Baumhaus. Auf halber Fensterhöhe Balken, im Fenstereck ein Turmpfeiler. Ein Umfangensein, das in Erinnerung ruft, dass das eine Kammer im Kirchturm ist.
So liegen, dass ich das sonnenbestrahlte Wort MENSCH lesen kann. Je heller es wird und je weiter Licht durch die Weserstraße zieht, umso kompletter wird es, angefangen beim M. Das H ist gerade ausgeleuchtet. Das MENSCH sitzt genau richtig, um die volle Morgensonne aufzufangen. Wie schön es ist, hier zu liegen und direkt aus dem Fenster gucken zu können. Ein Traumplatz. Oft wenn ich irgendwelche Erkerfenter sehe, stelle ich mir vor, was man mit dem Fensterraum machen könnte. Einen Schreibtisch da hin? Ein Arbeitseck? Und vom Schreibtisch aus nach draußen schauen können? Oder lieber ein Bett, eine Matratze, eine dicke Ladung Kissen und Decken da hin? Da sitzen, sich einkuscheln, rausschauen, träumen? Ich kann das jetzt. Durch den deckenhohen Schrank am Bettrand ist das Fenstereck ein bisschen eingeschlossen, eine Höhle mit Ausblick. In wieviele Richtungen ich an dieser Stelle den Verkehr gehen sehen kann.
Vor der Kirche, am Eck treffen sich Menschen. Eine Handvoll Männer, eine Frau. Sie begrüßen einander mit Handschlag, gehen auf einander zu, rauchen. Einer begrüßt die Frau mit Handkuss. Ein anderer hat eine grüne Milchpackung dabei, bietet sie im Kreis an, niemand nimmt sie. Andere Männer kommen, begrüßen die bereits anwesenenden Männer mit Handschlag, die Frau nicht, jedenfalls nicht mit der Hand. Gehen wieder weiter. Viele Männer, die vorbeigehen, tragen gefüllte Plastiktüten aus Discountern. Bei einigen klemmmen diese Plastiktüten auf Fahrradgepäckträgern.
Zwischen 7 und 8 wird dieses Eck der Stadt sauber gemacht. Die FES kommt mit ihren kleinen Fegeautos, mit dem großen Müllabfuhrautos und den mittleren Kastenwagen, auf deren blau eingezäunte Abladefläche Müll aus öffentlichen Abfallkörben geworfen wird. Leute machen sich auf den Weg zur Arbeit. Eine Frau geht Gassi mit einem Hund, dessen wedelnder Schwanz sehr buschig ist. Ein Polizeiauto, dessen Typ ich während meines Aufenthalts breits drei Mal gesehen habe, kommt aus dem Tunnel. Das Gebäude beginnt zu knistern, als würden Türen geöffnet und geschlossen. Je mehr ich auf die wache Straße gucke, umso weniger schaue ich in mich und denke richtig nach.
Die Wendeltreppe wieder runter
Wieder auf der Türschwelle. Meine Finger beginnen zu frieren. Wenn es diesen rauschenden Ort auch in Stille gäbe. Nichtsdestotrotz, wie schön, dass es ihn gibt. Unter dem Lärm der Straße blitzt Vogelzwitschern.
Jetzt, kurz vor Schluss, hat die Sonne das gegenüberliegende Haus erklommen, blendet herrlich zu mir herein. Meine Stirn wird gewärmt und muss das an den restlichen Köper weitergeben. Ich habe noch ein Date mit dem Tag. Ich habe ein Date mit der Welt.
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Wenn ihr auch eine Nacht im Kirchturm verbringen wollt, meldet euch bei Thomas Kober, dem Kurator der Diakoniekirche Weißfrauen: diakoniekirche@diakonischeswerk-frankfurt.de.
Habt ihr selbst ähnliche Räume? Hütten, in die ihr euch wünscht? Zimmer, in denen ihr findet, was es anderswo nicht gibt?
Ich habe mir als Kind immer ein Geheimzimmer gewünscht, ohne Fenster, nur mit einem Tisch. Niemand wusste davon und ich hätte dort ganz ungestört lesen können :)
Momentan wohne ich in einer Einzimmerwohnung, und wenn sie auch nicht versteckt ist, erfüllt sie doch so ungefähr den Zweck: Rückzug, ausruhen von den Menschen.
Oh, so einen Raum hätte ich gerne. Nur ein paar Stunden in der Woche, da wär ich schon zufrieden. – Cabin Porn gehört auch zu meinen Lieblingen, aber irgendwie ist der Anblick der Bilder auch immer beklemmend traurig.
Danke für den schönen Text. Ich ziehe bald in ein Hochhaus – nach ganz oben – und überleg mir jetzt grade, ob dort auch so eine Kammer einzurichten wäre…
wunderbar. Leider gehen viele Links nicht. Und ich, als Frankfurterin, die dies nicht kannte … frage mich, warum das so ist. Danke jedenfalls für den Bericht!!!